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Mittwoch, 31. Januar 2001

Carol hatte Angela auf dem Boden der Damentoilette entdeckt, wo sie zusammengebrochen war. Auf den Fliesen neben ihrem Mund hatte sich eine Blutlache gebildet. Carol schrie um Hilfe.

»Ach du großer Gott!«, sagte David, als er sie sah. »Was ist denn passiert?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie dem Mann vom Empfang. Mit raschen Bewegungen hob sie Angelas Augenlider an und nahm ihren Puls. »Rufen Sie den Rettungsdienst an. Sagen Sie, wir brauchen einen Notarztwagen für eine bewusstlose Frau, und geben Sie ihr Alter an.«

Während David telefonierte, kniete Carol neben Angela und untersuchte sie. Gott sei Dank schien sie nur bewusstlos zu sein. An den Pupillen und am Brustkorb war alles in Ordnung. Zwei Zähne hatten sich in ihre Unterlippe gebohrt. Soweit Carol es beurteilen konnte, war das die Ursache für die lokal begrenzte Blutung gewesen.

»Angela. Angela! Ich bin’s, Carol.«

Angelas Augenlider zuckten. Sie versuchte, den Kopf zu bewegen.

»Nicht bewegen«, sagte Carol. »Ihr Hals muss sorgfältig untersucht werden. Was ist passiert? Sind Sie gestürzt?«

Angela befühlte vorsichtig ihre Lippe. »Ich bin niedergeschlagen worden«, flüsterte sie. »Irgendjemand hatte sich da drin versteckt.«

Carol hielt den Atem an.

Jetzt kamen die Sanitäter und mit ihnen zwei Polizeibeamte. Mittlerweile waren die Flure voller Menschen, die aus ihren Büros gestürzt kamen, um nichts von der Aufregung zu verpassen.

Angela bekam eine Rückenschiene umgeschnallt und wurde auf die Bahre gelegt. Carol registrierte die Panik in ihrem Blick und sagte: »Das müssen sie so machen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, bis sichergestellt ist, dass Sie nicht schwerwiegend verletzt sind. Wahrscheinlich könnten Sie auch problemlos zu Fuß hier rausgehen.«

Sie wandte sich an den Polizisten, der Angela befragt hatte. »Ich bin ihre Klientin, und ich bin Ärztin. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir sie jetzt ins Krankenhaus bringen? Sie können dort noch einmal mit ihr sprechen. Ich nehme Ihnen dafür auch ein bisschen Arbeit ab. Sie werden sowieso mit mir reden wollen. Dieser Angriff hat nämlich eigentlich mir gegolten.«

Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus brachte Carol mich zurück in mein Büro.

»Ich fühle mich gut«, beharrte ich. »Es ist erst zwei Uhr. Ich gehe jetzt da rein und arbeite noch ein bisschen. Lassen Sie mich am Haupteingang raus, okay?«

Sie hatten meine Lippe mit drei Stichen genäht, deshalb hatte ich etwas Schwierigkeiten beim Sprechen. Die Betäubung war noch nicht abgeklungen.

Carol ignorierte meine Bitte und fuhr auf den Parkplatz. Neben meinem Honda hielt sie an.

»Ich wette, das da ist Ihrer.«

»Wie haben Sie das erraten?«

Carol deutete auf das hintere Fenster des Honda. »Barbie’s Ballett-Studio. Meine Tochter Jill hat das auch. Hören Sie, ich habe Hunger. Sie nicht? Wie wär’s, wenn ich etwas zu essen besorge, und wir treffen uns dann bei Ihnen zu Hause? Falls Sie nichts dagegen haben? Ich würde Sie gerne noch eine Weile im Auge behalten.«

Ich war überrascht, als ich die Tränen aufsteigen spürte. Wie herrlich, dass jemand anders das Heft in die Hand nahm. Ich erwiderte spontan: »Das wäre wunderbar.«

»Und Ihre Kleine? Kommt sie mit dem Bus nach Hause?«

»Nina ist heute mit einer Freundin zum Spielen verabredet. Gott sei Dank.«

»Ich habe Ihnen Suppe und Joghurt mitgebracht. Erdbeere. Und für später ein Sandwich, wenn Sie wieder kauen können«, sagte Carol und folgte mir in die Küche. »Haben Sie Schmerzen am Mund?«

»Ja, die Wirkung der Spritze lässt jetzt langsam nach.«

Carol breitete unser Mittagessen auf dem Küchentisch aus. Ich spürte eine plötzliche Gier nach dem Joghurt, wollte seine tröstende Kühle auf meiner Lippe spüren. Ich riss den Becher auf und rührte um.

Carol sagte: »Die Früchte sind ganz unten. Ich hoffe, Sie mögen das. Es gab allerdings auch nichts anderes.«

»Ich mag das gerne. Ist so eine Art Schatzsuche.«

Eine Weile aßen wir schweigend. Die Gesellschaft einer Erwachsenen war etwas Ungewöhnliches. Sarah und ich waren immer die besten Freundinnen gewesen. Dass Carol nun hier bei mir saß, ließ ihren Verlust leichter und gleichzeitig schwerer erscheinen. Dadurch wurde mir deutlich, was mir fehlte und was ich nicht konnte. Sarah hätte ich erzählen können, dass ich Jim umgebracht hatte.

Bist du sicher? fragte ich mich und hielt meinen Löffel, auf dem eine Erdbeere lag, still. Hättest du ihr wirklich beichten können, dass du den Bruder ihres Mannes getötet hast?

Hätte… könnte… es spielte keine Rolle. Ich hatte es Dad erzählt, und das musste genügen. Es gab sonst niemanden, der mir zuhören konnte. Aber ich durfte nicht zulassen, dass meine Klientin dachte, sie sei für den Anschlag des heutigen Vormittags verantwortlich.

Ich wandte mich an Carol. »Was Sie da vorhin zur Polizei gesagt haben… Ich weiß, dass Sie glauben, dass die Sache in der Toilette eigentlich Ihnen gegolten hat. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie da falsch liegen.«

Carol schüttelte den Kopf. »Es gibt so viele Menschen, die mich hassen… die Krankenhausverwaltung, die Ärzte, einfach alle. Ich habe ein paar Mal gepustet, und dabei ist ihr Häuschen umgefallen. Ich denke nicht, dass man mich ernsthaft verletzen wollte, nur ein bisschen erschrecken. Es gibt viele Leute, die Zugang zu meinem Dienstplan haben. Sie haben auf mich gewartet. Und, verdammt noch mal, ich habe Angst. Was ist mit meiner Tochter, meiner Mutter? Wenn das eine Warnung war, was kommt dann als Nächstes?«

»Carol.« Ich legte meinen Löffel zur Seite. »Es gibt auch Menschen, die es auf mich abgesehen haben. Ich lebe getrennt von meinem Mann – er ist übrigens auch Arzt. Wir kämpfen gerade um Nina – mit harten Bandagen, und es wird immer schlimmer. Man hat mich bedroht. Und das war der nächste Schritt.«

Carol hatte ein Viertel ihres Eiersalat-Sandwiches aufgegessen. Sie schob den Rest von sich. »Nein. Ich koste das Krankenhaus Hunderte Millionen Dollar. Es stehen Arbeitsplätze und vielleicht sogar die Zukunft der gesamten Einrichtung auf dem Spiel. Die Transplantationsabteilung wird das Ganze auf keinen Fall überleben. Sie geben mir die Schuld dafür, sie müssen mich aufhalten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe heute Nacht einen anonymen Anruf erhalten. Heute Nacht. Als ich heute Morgen zur Arbeit gekommen bin, habe ich deswegen am Empfang Bescheid gesagt, dass meine Anrufe besonders sorgfältig geprüft werden sollen. Und dann das. Da muss es einen Zusammenhang geben.«

»Vielleicht hängt das ja auch mit dem Krankenhaus zusammen?«

Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und hielt sie auf dem Kopf fest. Ich war jetzt ins Schwitzen geraten. Gut, dass gerade kein Lügendetektor in der Nähe war. »Das wäre ziemlich sinnlos«, sagte ich. »Rechtsanwälte gibt es wie Sand am Meer.«

Carol sagte: »Wie heißt Ihr Ex, wenn ich fragen darf?«

»Barry Carnow. Er ist Facharzt für Magen-Darm-Erkrankungen.«

Carol ließ sich gegen die Lehne fallen. »Natürlich.«

»Sie kennen ihn?«

»Er ist am United, nicht wahr? Aber er kommt immer wieder zu Besprechungen ins Medical Center. Da habe ich ihn schon gelegentlich gesehen.«

Ich musste fast lächeln. Ich wusste, was jetzt kommen würde. »Sagen Sie’s ruhig. Er ist ein netter Kerl. Das kriege ich ständig zu hören.«

»Mir geht es mit meinem Ex nicht anders. Also tue ich Ihnen das nicht an. Wie wird Nina mit der ganzen Sache fertig?«

»Sie steht sehr unter Druck. Es zerreißt mich fast. Ich wünschte, ich könnte ihr das alles ersparen. Aber das würde bedeuten, ich müsste sie Barry und seiner Familie überlassen. Und das kommt nicht in Frage.«

Ohne jede Schuld / Vor aller Augen

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