Читать книгу Ohne jede Schuld / Vor aller Augen - Molly Katz - Страница 23
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ОглавлениеMittwoch, 24. Januar 2001
Die Polizeiwache in Rye stand auf einem Hügel. Von der Vorderfront aus hatte man einen schönen Blick über die gesamte Innenstadt. Und hinter dem Gebäude, nicht weit entfernt, erstreckte sich der Long Island Sound, der von ihrem Großraumbüro aus gut zu sehen war. Wenn Red Straker nachdenken musste, so wie jetzt, dann fühlte er sich zu diesem Fenster hingezogen. Die nebelverhangene graugrüne Meerenge schien den Denkprozess zu beschleunigen.
Detective Mary Sable trat näher. Sie hatte einige Papiere in der Hand.
»Wir haben wieder ein paar Jaguar aufgetrieben, davon zwei schwarze, aber keinen mit schwarzen Sitzen«, sagte sie. »Wir sind immer noch dabei, sämtliche Autoknacker zu überprüfen. Elf Studenten der Harrison University sind vorbestraft, aber keiner im Zusammenhang mit Autodelikten und nur einer wegen Körperverletzung. Duhart hat mit ihm gesprochen, und er war auf einer Party in Manhattan. Damit wäre das geklärt.«
Straker nickte. Er nahm die Papiere an sich, schaute aber weiter zum Fenster hinaus.
Nina drückte sich zitternd an mich. Ich hielt sie fest und versuchte, mit Hilfe der gleichförmigen Stimme des Priesters ein wenig Frieden in mein Inneres dringen zu lassen, den ich dann an meine Tochter weitergeben konnte.
»Du nimmst sie nicht mit zu einer Beerdigung«, hatte Barry noch gestern Abend vor meiner Haustür gesagt. Er hatte Nina von einem Pfannkuchen-Essen zurückgebracht. Angewidert wie immer hatte er nach drinnen gelinst, als ob ich mich mit dem Häuschen auf unaussprechliche Weise an meiner Tochter versündigen würde.
»Das war nicht meine Entscheidung. Nina will unbedingt mitkommen.«
»Würdest du sie auch zu einem Hahnenkampf mitnehmen, wenn sie unbedingt mitkommen wollte? Du bist doch gar nicht in der Lage, das zu beurteilen.«
Ich war vor die Tür getreten und hatte sie hinter mir zugezogen. Nina war schon drin und machte sich bettfertig.
»Ihr Onkel ist gestorben«, sagte ich. »Ihr ist vollkommen klar, was eine Beerdigung ist. Sie möchte ihm Lebewohl sagen. Ich habe sie dazu nicht ermuntert, aber ich werde ihr diesen Wunsch auch nicht abschlagen.«
Mit vor Wut zerfurchten Augenbrauen hatte Barry sich vor mir aufgebaut: »Du bist schwachsinnig.«
Doch anstatt zurückzuweichen, hatte ich noch einen Schritt auf ihn zugemacht. »Wer ein Kind zu einer Beerdigung mitnimmt, ist nicht schwachsinnig. Wer einem Kind Geld anbietet, damit es abnimmt, der ist schwachsinnig.«
Barry hatte den Kopf geschüttelt. »Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der im Tod eine angemessene Umgebung für eine Zehnjährige sieht, aber ein motivierendes Geschenk für Teufelszeug hält.«
»Ein motivierendes Geschenk.« Verwundert wiederholte ich seine Worte.
»Sie wiegt eindeutig zu viel«, sagte Barry. »Was glaubst du eigentlich, wie ihr Leben später einmal aussehen wird, wenn sich nicht rechtzeitig jemand darum kümmert, wie sie aussieht?«
»Für ihr Alter ist sie völlig normal. Sie ist neun Jahre alt.«
Er schnaubte. »Du siehst nichts, du hörst nichts, du weißt nichts.«
Ich legte meine Hand auf den Türgriff. »Du und deine Eltern, ihr tut Nina genau das an, was sie schon dir angetan haben. Ich werde das nicht zulassen. Und ich bleibe hier nicht länger stehen und höre mir das an.«
»Gut. Das ist sehr gut«, erwiderte Barry. »Du musst nur noch ein einziges Mal zuhören, und zwar dann, wenn das Gericht dich darüber informiert, dass das Sorgerecht ab sofort bei mir liegt.«
»So weit wird es nicht kommen«, hatte ich gesagt. Es hatte sehr viel selbstbewusster geklungen, als mir in Wirklichkeit zu Mute war.
Als ich Nina jetzt an mich drückte, während der Priester weitersprach, war mir durch und durch kalt. Anstatt ihrem Zittern Einhalt zu gebieten, hatte ich mich offensichtlich davon anstecken lassen.
Ich blickte zu Nancy hinüber, die sich kraftlos mal an Bruce, mal an Sean lehnte. Sie schaffte es nicht, auf das Loch im Boden mit dem Sarg darin zu schauen. Sean wirkte wie betäubt. Ob er das Valium genommen hatte, das ihm der Arzt unmittelbar nach Sarahs Tod verschrieben hatte?
Hätte ich nur selber etwas davon gehabt.
Barry Carnow saß zu Hause und schrieb eine Nachricht für seine Putzfrau. Sie hatte den Hang, Bereiche, die sie für unberührt hielt, wie zum Beispiel Ninas Suite, nur sehr oberflächlich zu reinigen. Ihm war klar, dass er mehr hineininterpretierte, als die Sache eigentlich wert war, aber es regte ihn auf. Er wollte nicht mehr als unbedingt nötig daran erinnert werden, dass Nina nicht dort war, wo sie hingehörte.
Angela meinte es ja irgendwie gut. Aber Nina war sein Kind. In Angelas beruflichem und privatem Umfeld, und damit auch in Ninas, gab es zu viele negative Menschen und Einflüsse.
Aber das würde sich bald ändern.
Die Feier im Anschluss an die Beerdigung fand im Bobby ’s statt. Es wäre zu schrecklich gewesen, sich so kurz danach wieder bei den Fells zu versammeln, und Sean machte das Restaurant lieber einen Abend lang zu, als die Veranstaltung bei sich zu Hause stattfinden zu lassen, wo immer noch Sarahs Trauerfeier gegenwärtig war.
Ich kam mit Nina kurz vorbei und brachte sie dann nach Hause, wo ich ihr ein warmes Schaumbad einließ. Ich wärmte eine Erbsensuppe auf, machte einen Thunfischsalat mit Sellerie und Äpfeln, den sie so gerne mochte, und ließ sie auf einer Decke auf dem Fußboden essen. Liebend gerne wäre ich auch zu Hause geblieben. Ich hatte Angst davor, wieder ins Bobby’s zurückzugehen. Aber es musste sein. Vorhin war ich nur knapp zwanzig Minuten dageblieben. Eine unschuldige Schwägerin würde sich aber bestimmt etliche Stunden Zeit nehmen.
Ich brachte Nina zu Bett und rief Yasmin an.
Das für gewöhnlich abgedunkelte, gemütliche Restaurant war an diesem Abend hell erleuchtet und mit einem reichhaltigen Büfett ausgestattet worden. Die Bar war gut besucht. Beim Eintreten blieb ich unter dem Torbogen stehen und blickte mich um. Ich wollte sehen, wer alles gekommen war, wem ich gegenübertreten musste … in dem Wissen, dass meine Tat der Grund ihrer Anwesenheit war.
Da spürte ich eine Berührung am Arm.
»Tragisch, nicht wahr?«
Neben mir stand Ardis Palmer, Jims Mitbewohnerin. Sie hielt ein Glas Bier in der Hand. Ardis hatte kurze Beine und eine stämmige Figur. Die nach allen Seiten abstehenden, graublonden Haare und die breiten, stark ausgeprägten Augenbrauen verliehen ihr einen koboldhaften Zug.
»Jim war ein guter Kerl. Ein Unschuldiger«, sagte Ardis. »Es sind immer die Unschuldigen, die wir verlieren. Zu Hause herrscht jetzt eine große Leere. Ein regelrechtes Energieloch.«
Sean kam herüber, und Ardis umarmte ihn. »Es tut mir wirklich Leid«, sagte sie. »Für uns beide. Für uns alle.«
»Danke«, erwiderte Sean. »Es kommt mir einfach wahnwitzig vor.«
»Hat die Polizei schon etwas herausgefunden?«
Sean warf einen Blick zurück, dorthin, wo seine Eltern saßen. Sie waren von Menschen umringt. »Nein.«
»Wieso nicht?« Ardis trank einen Schluck. »Jemand, der sich mit Gewalt ein Auto stehlen muss, kann doch wirklich nicht übermäßig gerissen sein. Wieso ist die Polizei nicht schlauer als irgendwelche dämlichen Kriminellen?«
»Genau das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Mark Wolf. Er war gerade erst hereingekommen und legte seinen Schal ab. »Hallo Sean, hallo Angela.«
»Mark.« Sean gab ihm die Hand. »Danke, dass du gekommen bist. Das hier ist Jims Mitbewohnerin, Ardis Palmer. Ardis, das ist Mark Wolf.«
»Hallo. Angela, richten Sie Ihrem kleinen Mädchen einen dicken Gruß von mir aus. Schön, Sie kennen zu lernen, Ardis. Tut mir Leid, dass es so ein trauriger Anlass ist.«
»Ja, das stimmt. Woher kannten Sie Jim?«
»Von hier.«
Sean sagte: »Mark ist mein Geschäftsführer.«
Mark steckte den Schal in den Mantel, den er gerade aufgehängt hatte. »Ich habe immer gerne mit Jim zusammen gearbeitet. Er wird mir fehlen. Könnt ihr mir verraten, ob die Polizei sich überhaupt bemüht, die Schweine zu erwischen, die das getan haben? Beschäftigen sie sich mit der Möglichkeit, dass es ein Student gewesen sein könnte?«
»Genau darauf habe ich sie aufmerksam gemacht«, erwiderte Sean. »Sie scheinen durchaus an der Sache dran zu sein. Alle, mit denen ich gesprochen habe, sagen, dass die Polizei mit ihnen Kontakt aufgenommen hat.«
»Was ist mit dem Auto?«, fragte Ardis. »Glauben sie, dass es gleich danach ausgeschlachtet wurde? Oder dass irgendwelche Jugendlichen damit herumfahren?«
Sean wirkte verärgert. »Sie wollen uns nicht so recht verraten, was sie glauben.«
Mark sagte: »Mir wurde letztes Jahr das Auto gestohlen, auf einem Kinoparkplatz. Ich war meilenweit weg. Aber auch, wenn ich in der Nähe gewesen wäre, ich hätte bei Gott die Schlüssel herausgerückt.«
Ardis sagte leise: »Damit geben Sie aber dem Opfer die Schuld.«
»Wir können ja gar nicht wissen, ob Jim überhaupt eine Möglichkeit hatte, dem Täter die Schlüssel zu geben«, sagte Sean. In seinem Blick war Schmerz zu lesen. »Vielleicht ist er ja sofort niedergeschlagen worden.«
Er blickte zu seinen Eltern hinüber. Seine Worte hallten im Inneren meines Schädels nach, als ich seinem Blick folgte. Die Fells saßen nun alleine da und schafften es nicht einmal mehr, das trostlose kleine Lächeln aufzusetzen, das ich vorhin noch bemerkt hatte.
»Entschuldigt mich«, sagte Sean und ging zu ihnen.
Mark trat in die neblige Nacht hinaus und stieg in sein Auto. Er schaltete die Heizung und den Ventilator der Lüftung ein, aber es dauerte ein paar Minuten, bis die Windschutzscheibe frei wurde. Ein Honda Acura … ganz gutes Auto, aber mit der Lüftung war es immer schwierig.
Auf der Heimfahrt überlegte er, ob er Christine in Boston anrufen und ihr erzählen sollte, was Jim zugestoßen war. Von dem Mord hatte sie vielleicht schon aus der Zeitung erfahren. Er hasste unfertige Baustellen, und Christine war so eine.
Seine Wohnung lag in einem kleinen Hochhaus am Hafen von Larchmont. Er parkte in der Tiefgarage und ging hinauf.
Seitdem sie aus Rye weggezogen war, hatte er Christine nur ein einziges Mal gesehen. Vor zwei Monaten war er ihr zufällig begegnet, als er geschäftlich in Boston zu tun gehabt hatte. Sie hatten sich die Hand gegeben und Höflichkeiten ausgetauscht, aber ihm war schnell klar gewesen, dass Christine nur an einem einzigen Thema interessiert war.
»Ich habe gehört, was mit Seans Frau passiert ist«, hatte sie gesagt. »Das ist ja furchtbar.«
Sie hatte nicht so ausgesehen, als hielte sie es wirklich für furchtbar, aber das war verständlich.
Dann hatte Christine eine Sonnenbrille aus der Handtasche geholt und sie aufgesetzt, als wollte sie das Offensichtliche dahinter verbergen. »Wie geht es Sean? Es muss sehr schwer für ihn sein.«
»Das ist es auch«, hatte Mark entgegnet, ohne weiter darauf einzugehen. Das war nicht notwendig gewesen. »Aber er wird darüber hinwegkommen. Seine Familie ist ihm eine große Hilfe. Und die beiden Restaurants laufen gut.«
»Ich weiß.« Sie lächelte. »Das Bobby’s East ist meine schärfste Konkurrenz.«
Dann hatte er Anstalten gemacht, die Straße zu überqueren. »War nett, dich zu sehen. Mach’s gut.«
Sie hatte gezögert und die Brille wieder abgenommen. »Kannst du mir einen Gefallen tun?« Sie griff noch einmal in ihre Handtasche, holte eine Visitenkarte hervor und gab sie ihm. »Meine Telefonnummern, privat und geschäftlich. Lass mich wissen, wie es Sean geht. Wenigstens ab und zu.«
Er nahm die Karte. »Okay.«
»Mach’s gut.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.
»Du auch.«
Jetzt war er zu Hause und dachte: Warum nicht? Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm die Karte von einem Stapel in der obersten Schublade.
Kurz vor zehn verließ ich die Trauerfeier. In meinem Kopf dröhnte es. Immer neue Bilder tauchten auf meiner Netzhaut auf: Jim auf dem Boden liegend, violett anlaufend. Bruce und Nancy, wie sie heute Abend kraftlos aneinander gelehnt hatten.
Ich selbst in Handschellen und Fußfesseln. Die kreischende Nina.
Ich stellte den Wagen zu Hause ab, holte Sweatshirt, Jogginghose und Laufschuhe vom Rücksitz, zog mich schnell um und rannte los.
In Rye gab es nicht viele Läden, die nach einundzwanzig Uhr noch geöffnet hatten, aber die Straßenlampen brannten, und Autos fuhren. Ich sprintete mit pumpenden Armen, als würde ich mit meinem Schmerz und meiner Angst und meinem Entsetzen um die Wette laufen.
Manchmal träumte ich nachts und manchmal nicht, aber die Dämonen des Todes und des Verlustes waren immer gegenwärtig – in der Dunkelheit, im Bett, in meinem Kopf. Sie hatten zwar keine feste Gestalt, aber sie bedrängten mich heftig, von innen und von außen.
Ich würde versuchen, mich heute Abend völlig zu verausgaben. Aber auch das würde nichts nützen. Ich hatte keine Chance, dem, was ich selbst angerichtet hatte, zu entkommen.
Ein eisiger Wind wehte mir den Staub der Straße ins Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen und rannte schneller, wandte mich nach Osten, in Richtung Strand. Der eiskalte Wind, der vom Long Island Sound herüberwehte, traf mich mit voller Wucht.
Mir fiel wieder ein, wie Sean vorhin nach meiner Hand gegriffen hatte, als ich mich von der Trauerfeier verabschiedet hatte. »Geht es dir denn so weit gut, Angela?«, hatte er gefragt, nachdem ich beim Aussprechen meiner Beileidswünsche durcheinander geraten war. »War es nicht zu grausam, dass du schon wieder so etwas mitmachen musstest?«
Diese Frage ließ mich schluchzen, während ich zurückjoggte. Inmitten seiner eigenen Qualen machte Sean sich Sorgen um mich.