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Freitag, 26. Januar 2001

Sean saß auf meiner Couch. Die Bierdose in seiner Hand zitterte leicht. Heute Abend war der Mond nicht zu sehen, und es war deutlich kälter als gestern, als wir während der Trauerfeier ein paarmal ohne Mantel nach draußen gegangen waren, um etwas frische Luft zu schnappen.

»Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte er. »Erst verliere ich meine Frau, dann meinen Bruder, und am Tag nach seiner Beerdigung bezichtigt mich ein Polizist praktisch des Mordes. Meine Eltern sind vollkommen außer sich.«

Ich schaute ihn an.

Seine Qual hörte ich in meinem Inneren dröhnen.

Es klingelte an der Haustür. Das war Nina, Gott sei Dank zurück von einem Besuch bei Barry und seiner Familie. Ich eilte zur Tür und ging davon aus, dass ich Barrys Wagen die Straße hinunterfahren sehen würde, aber stattdessen stand er vor mir, direkt neben Nina.

»Ich möchte mit dir reden«, sagte er mit starrer Miene.

Ich schloss Nina in meine Arme, aber sie machte sich los und ging ins Haus. »Jetzt ist es gerade sehr unpassend.«

»Es dauert nicht lange.« Er schob sich an mir vorbei. Als er Sean auf der Couch entdeckte, blieb er stehen.

»Das mit deinem Bruder tut mir Leid«, sagte er.

»Danke.«

»Ich muss kurz mit Angela reden.«

Ich sagte: »Sean wollte noch nicht gehen. Wenn dieses Gespräch wirklich nicht warten kann, dann ist er eben dabei.« Ich warf einen Blick den Flur entlang, um sicher zu gehen, dass Ninas Zimmertür geschlossen war.

Mit finsterem Blick setzte Barry sich hin. »Ninas Lehrerin hat mich angerufen«, sagte er. »Nina hat Depressionen. Sie muss dringend in ärztliche Behandlung.«

»Ich weiß.«

»Und, was hast du vor?«

»Ich gebe sie in ärztliche Behandlung.«

Ich saß am einen Ende der Couch, Barry in einem seitlich stehenden Polstersessel. Er beugte sich zu mir.

»Nina ist traumatisiert durch diese… diese… Litanei des Todes. Sie …«

»Sie war schon vorher traumatisiert! Du bist wirklich ein miserabler Vater! Du und deine Eltern, ihr missbraucht sie regelrecht!«

»Sie hat Depressionen, sie ist zu dick, sie braucht professionelle Hilfe. Eine solche Behandlung kostet ungefähr zweihundert Dollar die Stunde. Wie willst du das überhaupt schaffen? Selbst, wenn ich die Hälfte übernehme, kannst du nicht …«

»Das geht dich gar nichts …«

»Von dir wird sie doch bloß herumgeschubst, du Wichser!« Sean sprang auf. »Wenn Nina Hilfe braucht, wieso hältst du dann nicht einfach die Klappe und zahlst, anstatt Angela mit Vorwürfen zu überhäufen?«

Barry stand ebenfalls auf. »Solchen Schwachsinn kann ich jetzt nicht gebrauchen. Ich versuche hier etwas zu klä …«

»Das Einzige, was du versuchst, ist, Angela unter moralischen Druck zu setzen«, sagte Sean.

»Leck mich am Arsch«, entgegnete Barry. Er ging auf Sean zu. Dabei ballte er die Finger immer wieder zu Fäusten.

Ich sagte: »Barry, lass es. Lass es…«

Aber er war schnell und stieß Sean mit beiden Händen nach hinten.

Sean griff nach Barrys Handgelenken. »Jetzt benimm dich nicht wie ein Arschloch. Deine Tochter ist hier.«

Barry wich zurück. »Ja, genau. Das stimmt.« Seine Stimme war fast schon ein Grollen. »Aber es ist nicht richtig, dass sie hier ist. Und lange wird sie auch nicht mehr hier sein.«

Er stiefelte zur Tür und ließ sie krachend hinter sich ins Schloss fallen.

Sean seufzte. »Tut mir Leid. Geht mich ja nichts an.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Vornübergebeugt saß ich da, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ich fühlte mich, als würde sich mein Inneres in nichts auflösen.

»Was willst du machen?«

Ich schlang die Arme noch fester um mich, als könnte ich mich so daran hindern auseinander zu fallen. Sonst hätte ich mit Sean nicht weiterreden können. Aber ich musste, sonst wäre ich zusammengebrochen und hätte alles laut herausgeschrien.

»Bis ich das neue Gehalt bekomme, habe ich keine Wahl«, sagte ich mit belegter Stimme. »Ich werde versuchen, ihr einen Therapieplatz in einer staatlichen Einrichtung zu besorgen.«

»Würde sie dort denn gut behandelt?«

»Die Therapeuten sind zum Teil ganz hervorragend. Ich habe Nina schon öfter dort anzumelden versucht, aber Barry weigerte sich bisher jedes Mal, Angaben über seine finanzielle Situation zu machen, und so wurden wir abgelehnt. Aber irgendwie muss es jetzt klappen. Ich kann nicht länger damit warten.«

Das laute Dröhnen eines Fernsehers ließ erkennen, dass Nina ihre Zimmertür aufgemacht hatte. Als sie ins Wohnzimmer kam, trug sie einen Schlafanzug, einen Overall, der mit grünen Fröschen bedruckt war.

»Der ist ja wunderschön, Schätzchen«, sagte ich. »Hast du den von Daddy?«

»Von Grandma Pat und Grandpa Lou.« Sie blickte sich um. »Wo ist Daddy?«

»Er ist vor ein paar Minuten gegangen.«

»Er ist gegangen?«

»Ja.«

Ninas Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich wollte ihm doch den Schlafanzug zeigen. Er wollte sehen, ob er mir vielleicht zu eng ist.«

»Tja«, sagte ich, »wir haben ein paar organisatorische Dinge besprochen, da hat er wohl nicht mehr daran gedacht. Den kannst du ihm ja beim nächsten Mal zeigen.«

»Aber ich wollte, dass er ihn jetzt sieht. Damit er weiß, dass ich nicht zu dick dafür bin.« Sie fing an zu weinen.

Meine Finger ballten sich zu Fäusten. Ich zwang mich, mit ruhiger Stimme zu reden. »Du bist nicht dick. Soll ich vielleicht ein Foto von dir machen und es Dad zeigen? Jetzt sofort?« Nina nickte und zog die Nase hoch. Ich holte unsere Kamera und machte drei Bilder.

»So, das wäre erledigt«, sagte ich. »Ich bringe den Film gleich morgen zum Entwickeln. Was gibt man einer Schnecke, wenn sie Schnupfen hat?«

»Ein Schneckentempo.«

»Du lachst ja gar nicht.«

Nina entgegnete: »Du auch nicht.«

»Wenn du lachst, lache ich auch.«

Jetzt lächelte sie.

Ich sagte: »Was muss man machen, wenn zwei Schnecken sich streiten?«

»Ach, Mom. Kann ich jetzt fernsehen?«

Als Nina wieder in ihrem Zimmer war, sagte Sean: »Was sollte denn der Quatsch, dass sie zu dick ist? Bekommt sie das etwa von Barry zu hören?«

»Ja. Es macht mich rasend. Aber wenn ich mich aufrege und ihr ständig sage, dass das nicht stimmt, dann geht es ihr noch schlechter. Ich wäre gerne sehr viel ehrlicher zu Nina, aber sie will die Wahrheit gar nicht hören.«

»Im Endeffekt nimmst du ihn also ihr gegenüber in Schutz.«

»Ja. Um ihretwillen.« Ich holte den Film aus der Kamera und steckte ihn in meine Handtasche.

»Barry würde sich bestimmt anders verhalten. Ich wette, er nutzt jede Gelegenheit, dich schlecht zu machen.«

»Das stimmt. Und es ist sehr schwer, es nicht mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Er hätte es eigentlich verdient. Aber einer muss zurückstecken, sonst gehen wir irgendwann mit dem Messer aufeinander los, während Nina zwischen uns steht.«

Sean trank sein Bier aus und setzte die Büchse ab. »Wieso hast du ihn eigentlich nicht schon früher abserviert? Du musst doch ziemlich schnell begriffen haben, dass er ein jähzorniges Ekelpaket ist.«

»Es hat eine Weile gedauert. Zuerst hat er einfach entschlossen gewirkt und nicht so, als müsste er alles kontrollieren. Das hat mir gefallen. Und er hat mich sehr verwöhnt. Er ist ein guter Arzt. Seine Patienten lieben ihn geradezu. Menschen wie Barry sind einfach daran gewöhnt, ihre gesamte Umgebung zu beherrschen. Als ich angefangen habe, ihn so zu sehen, wie er ist, da waren wir verheiratet, und ich war schwanger.«

Ich sank auf die Couch. »Ich habe eine ganze Reihe von Fehlern gemacht, und dadurch, dass ich bei ihm geblieben bin, ist alles immer schlimmer geworden. Aber ich hatte das Gefühl, ich wäre es Nina schuldig. Ich hätte nicht gedacht, dass Barry so nachtragend ist. Die einzige Möglichkeit, wie er mir jetzt noch wehtun kann, ist, zu versuchen, sie mir wegzunehmen.«

Sean berührte mein Hand. »Dir ist aber schon klar, was du damit anrichtest, oder? Du stärkst seine Position. Was glaubst du, wie es bei Nina ankommt, wenn du jede seiner Attacken nicht nur einsteckst, ohne dich zu wehren, sondern ihn sogar noch in Schutz nimmst?«

»Ich weiß.«

»Und was wird sie wohl einem Gutachter erzählen, der die Frage des Sorgerechts zu klären hat?«

»Du hast ja Recht, Sean, aber was soll ich denn machen? Seit ihrer Geburt hat Barry meine Liebe zu unserer Tochter dazu benutzt, mich einzusperren.«

Nach dem Vorfall in dem Londoner Nachtclub hatte sich alles verändert. Ich konnte die dunkle Seite der Stärke und der Führungskraft, die ich an Barry und seiner Familie so verführerisch gefunden hatte, nicht länger ignorieren.

In dieser Nacht hatte ich mit weit aufgerissenen Augen in dem großen, plüschigen Hotelbett gelegen. Kurz vor fünf war ich leise aufgestanden und hatte mich im Schein der Straßenlampe angezogen, war in dem engen Fahrstuhl nach unten geschwebt und hatte einen Spaziergang gemacht.

Die Luft war kalt und vom Nieselregen feucht gewesen. Meine Turnschuhe waren schnell durchgeweicht. Die Haare hingen mir triefend auf die Schultern. Während ich mich innerlich wie gelähmt fühlte, konnte wenigstens mein Körper sich bewegen.

Ich ging an einem schmalen, schlammigen Arm der Themse entlang, der sich dem heller werdenden Himmel entgegenschlängelte. Es stank nach altem Bratfett. Gelegentlich drangen aus den Garagen und den fauligen, Schuppen ähnlichen Gebäuden, die den Weg auf der anderen, dem Wasser abgewandten Seite säumten, Geräusche an mein Ohr – ob von Menschen oder Tieren ließ sich nicht sagen, es klang jedenfalls nicht so, als würde man mich willkommen heißen, aber das war mir egal.

Schließlich waren mein Beine müde geworden, und ich setzte mich auf eine kleine Holzbrücke. Das schmuddelige Wasser kräuselte sich unter meinen baumelnden Füßen. Mir war kalt und übel.

Ich schob eine Hand unter mein Sweatshirt, genau an die Stelle, wo sich die Schwangerschaft befand, die immer noch mein Geheimnis war. Meines und Sarahs. Das verborgene Wissen war etwas Aufregendes gewesen. Jetzt war es eine Qual.

Das Kind hatte noch nicht einmal Finger, und schon hatte ich meinen Bund mit ihm gebrochen. Ich war vom Universum dazu ausersehen worden, es zu beschützen, und hatte versagt. Ich hatte mir einen miserablen Mitschöpfer gesucht. Ich hatte viel zu lange gebraucht, um gewissen Wahrheiten über den Mann, der zur Hälfte am Entstehen meines Kindes beteiligt gewesen war, ins Gesicht zu sehen.

Die erste Begegnung mit Barrys Eltern fiel mir wieder ein. Barry hatte ruhig und immun gegen das Sperrfeuer von Befehlen gewirkt, die in Gestalt von Vorschlägen auf ihn abgefeuert wurden. Ich hatte mich und Barry als Paar gesehen, das zusammenstehen und den Übereifer der Eltern geduldig ertragen würde.

Dabei hätte ich schon sehr viel früher merken müssen, dass Barry seinen Eltern, mir und sich selbst etwas vormachte. Trotz seiner distanzierten Haltung machte er alles ganz genau so, wie sie es wollten. Er stand unter ihrer Fuchtel und war wütend darüber. Und daher übertrug sich all seine Wut in seine eigenen Kontrollneurosen.

Jetzt musste ich entscheiden, was ich tun sollte. Ich musste mich mit jeder Möglichkeit beschäftigen – auch mit der einer Abtreibung.

Die ganze Nacht schon hatte mich dieser Gedanke gequält. Es würde nicht weiter schwierig werden. Barry musste davon überhaupt nichts erfahren.

Die Ehe würde bald geschieden werden, ich würde der Schwangerschaft und meinen Fehlern noch eine Weile hinterhertrauern und dann weiterleben.

Während ich dort im Morgengrauen über dem Wasser saß, völlig durchnässt, da wurde mir klar, dass eine Abtreibung der richtige Weg war.

Das Problem war nur, dass ich es nicht über mich brachte.

Das Zimmer auf der Neugeborenenstation teilte ich mir mit einer Rothaarigen mit niedlichem Gesicht und Südstaatenakzent. Sie hieß Meaghan und war von Verwandten und Freunden umringt, die alle ihre neugeborene Tochter sehen wollten.

Am Tag von Ninas Geburt, als ich für einen Augenblick alleine war, lag ich still auf meiner Seite des Vorhangs. Barry und seine Familie waren hinuntergegangen, um etwas zu essen, und Sarah war gerade im Badezimmer.

Mir war klar, dass ich später genauso viele Leute um mich haben würde wie Meaghan. Auch meine Besucher würden in fröhlicher Stimmung und mit Geschenken beladen hier ankommen, genau wie bei ihr.

Dennoch gab es einen riesigen Unterschied zwischen uns: Meaghan hatte ihr Kind in ein kuscheliges Nest hineingeboren und ich in ein rissiges, zersplittertes Abwasserrohr.

An jenem düsteren Morgen in London hatte ich beschlossen, dass ich versuchen würde, meinem Kind das zu geben, was ich ihm schuldig war. Ich würde ihm eine Familie schenken – egal, wie schwierig es werden würde. Ich würde übermenschliche Anstrengungen unternehmen, um eine Verbindung zu Barry herzustellen, um dem Kind eine Mom und einen Dad zu geben.

Ich konnte es schaffen. Ich konnte meine eigene Erniedrigung überwinden, konnte nach Wegen suchen, die Verhaltensstörungen meines Mannes möglichst wenig sichtbar werden zu lassen. Ich musste.

Ein Baby darf nicht unter den Entscheidungen seiner Mutter leiden.

Eines Sonntagnachmittags – Nina fing gerade an zu krabbeln – bekam Barry einen Anruf von seiner Sekretärin.

»Da ist irgendetwas mit den Terminen für nächste Woche schief gelaufen«, sagte Barry, während er seinen Mantel anzog. »Die Sprechstunden und mein Operationsplan sind durcheinander geraten. Ich muss noch mal in die Klinik und das wieder hinbiegen.«

Sein Gesicht war dabei seltsam gerötet, und er wirkte irgendwie fahrig. Das machte mich stutzig. Als er schließlich abends um neun nach Hause kam und immer noch die gleiche Miene aufgesetzt hatte, da wusste ich Bescheid.

»Du hast eine Affäre mit ihr, stimmt’s?«

Barry sah schuldbewusst und stolz zugleich aus. Er betrachtete meine Leggings und mein Sweatshirt, über dessen Schulter noch immer das Lätzchen von Ninas Abendessen hing, und zuckte mit den Schultern.

»Was erwartest du?«, sagte er.

Ich erwiderte seinen Blick und nickte bedächtig. »Gute Frage.«

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