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Die Leonhardskirche
ОглавлениеÜber Zisterziensermönche kam im 14. Jahrhundert der St.-Leonhards-Kult wohl auch nach Stuttgart, und bereits 1339 wurde eine Leonhardskapelle gebaut,9 die sich als Leonhardskirche mit einem Kalvarienberg im Lauf der Zeit zum Herz der Leonhards- oder Esslinger Vorstadt entwickeln sollte. Dieser Kalvarienberg war eine Stiftung der Eheleute Mager, deren Tochter, so die Überlieferung, durch eine Krankheit erblindete. Der Mutter träumte es einmal, sie stünde auf einem Berg unter dem gekreuzigten Jesu zwischen der Jungfrau Maria und Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu. Sie flehte den sterbenden Jesus an, er möge ihrem Kind doch das Augenlicht wiedergeben. Der sterbende Heiland versprach es ihr mit den Worten: „Dein Kind wird leben und sehen!“ Und so soll es auch geschehen sein.10
Zum Dank stifteten die Eheleute Mager diesen Kalvarienberg, der heute noch als Kopie bei der Leonhardskirche steht. Das Original steht heute in der Hospitalkirche. Die Neuerstellung dieses Kalvarienberges 1889 finanzierte übrigens die Stadt Stuttgart, nicht die Kirche.11
Der jung verstorbene Dichter Wilhelm Waiblinger (1804–1830) ging in seiner Kindheit oft mit gemischten Gefühlen an dieser Kreuzigungsgruppe von Hans Seyffer vorüber. Das väterliche Haus befand sich in der nahe gelegenen Katharinenstraße 33, Ecke Pfarr- und Weberstraße. In der Nähe befand sich bis 1823 noch der Lazarettfriedhof, den der junge Waiblinger als grausig empfand. Von einer Base (für Nicht-Schwaben: Cousine) hörte er, dass bei der Leonhardskirche und der Kreuzigungsgruppe ein Kapuziner umgehe, der dem Mann der Base einmal nachts eine solche Ohrfeige verpasst habe, dass der Mann zu Boden ging. Sozusagen ein schlagender Beweis! Natürlich ängstigte eine solche Geschichte den Jungen, zumal die Straßen damals nichts so hell beleuchtet waren wie heute, und er ging äußerst ungern nachts an der Kreuzigungsgruppe vorbei.12
Eng verbunden mit der Leonhardskirche war der große Humanist und Gelehrte Johannes Reuchlin, der 1522 starb und auf eigenen Wunsch neben seiner zweiten Frau in der Leonhardskirche begraben wurde.13
Reuchlin, der aus Pforzheim stammte, gehörte zu den großen Köpfen seiner Zeit und war ihr z.T. weit voraus. Seit 1482 stand er in den Diensten von Graf Eberhard im Bart, der ihn zwei Jahre später zu seinem Rat ernannte. Nach dem Tod des Regenten ging Reuchlin um 1499 ins politische Exil an den Hof des Kurfürsten Friedrich, um nach dem Tod des regierenden Herzogs Eberhard des Jüngeren nach Stuttgart zurückzukehren. Er erhielt das Amt eines herzoglichen Rats, musste aber 1500 seine erste Frau begraben. Seine zweite Frau Anna Decker schenkte ihm 1502 ein Kind, das aber noch im Kleinkindalter starb. 1502 war auch das Jahr der Pestepidemie in Stuttgart, vor der Reuchlin mit seiner Frau ins Kloster Denkendorf floh. Er veröffentlichte zahlreiche wichtige Werke, darunter auch „Tütsch missive, warumb die Juden so lang im ellend sind“.
Er war nicht nur als Jurist, Wissenschaftler und Dichter geschätzt, sondern war vor allem ein Vorreiter von Toleranz und Menschenrechten. Auf eine Anfrage, die Kaiser Maximilian aufgrund der Aktion des Konvertiten Johannes Pfefferkorn, der jüdische Bücher beschlagnahmte und vernichtete, an vier Universitäten und deren Gelehrte richtete, ob die Bücher der Juden verbrannt werden sollten, antwortete er als Einziger mit einem klaren Nein, es sei denn, dass die Bücher das Christentum grob schmähten.14 Für Johannes Reuchlin waren die Juden „convices“, also Mitbürger, die als Untertanen des Heiligen Römischen Reiches die gleichen Rechte haben sollten wie alle anderen Untertanen auch. Seine Haltung brachte ihm jahrelange Prozesse ein, bei denen er am Schluss zum Schweigen, also zu einem Publikations- und Redeverbot, und zur Übernahme aller Prozesskosten verurteilt wurde. Sein „Augenspiegel“, eine der wichtigsten Schriften der Frühen Neuzeit, wurde ebenfalls verboten. Der „Augenspiegel“, in dem es um den Erhalt der jüdischen Literatur geht, ist auch einer der Grundpfeiler und Vorläufer der Neuzeit. Aber trotz aller Anfeindungen hatte Reuchlin auch zahlreiche Anhänger, die „Reuchlinista“, die sich zu ihm und vor allem zu seinen Auffassungen bekannten.
Abb.2 Johannes Reuchlin; Holz schnitt (um 1516)
1522, einige Jahre nach dem Tod seiner zweiten Frau, starb Johannes Reuchlin in Stuttgart und wurde neben seiner Frau in der Leonhardskirche begraben. Ein Epitaph in der Kirche erinnert an den großen Gelehrten.
Ein Schützling Reuchlins, Johannes Mantel, der mit Unterbrechung bis 1523 Prediger an der Leonhardskirche war, hielt ab 1520 evangelische Predigten, was ihn 1523 als Gefangenen auf den Hohennagold brachte, bis ihn 1525 die aufgebrachten Bauern wieder befreiten.15
Nicht nur der Humanist Reuchlin durchlebte schwierige Zeiten, auch die Leonhardskirche selbst. Auch wenn das Innere der Leonhardskirche seit dem 30. November 1901 elektrisch erleuchtet wurde, was u.a. die Brandgefahr minderte und der Chronik der Haupt- und Residenzstadt Stuttgart immerhin eine Erwähnung in der Rubrik „Besondere Ereignisse“ wert war,16 konnten Brände dadurch nicht gänzlich verhindert werden: Am 10. Dezember 1902 kam es wegen eines defekten Kamins zu einem Brand, der Gebälk und Gestühl der westlichen Empore ergriff. Dank des raschen und beherzten Eingreifens der Berufs- und der Reservefeuerwehr konnte ein Übergreifen des Brandes auf den Dachstuhl und damit größerer Schaden verhindert werden.17
Versuche, die Kirche im nationalsozialistischen Sinne umzuformen, wie es Georg Schneider von den „Deutschen Christen“ 1934 unternahm, wies der Kirchengemeinderat fast einstimmig zurück. Auch der Evangelische Oberkirchenrat lehnte das Anliegen Schneiders ab. Die Gemeindeversammlung bestärkte 1936 den Kirchengemeinderat mit einer stummen Protestaktion, nämlich durch Aufstehen von den Sitzen, in seiner Haltung.18
Am 25. Juli 1944 brannte die Leonhardskirche nach einem Luftangriff fast vollständig aus. Nach dem sie dank vieler freiwilliger Helfer vom Schutt befreit wurde, konnte am 3. Juni 1945 der erste „Ruinen-Gottesdienst“ gefeiert werden.19
Erst fünf Jahre später war die Kirche wieder vollständig renoviert, und der erste reguläre Gottesdienst konnte endlich stattfinden. Seit Januar 1995 verwandelt sich die Leonhardskirche regelmäßig im Januar und Februar in eine Vesperkirche, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Teil der Kirchenbänke weicht Esstischen, und nach einem Gottesdienst gibt es eine warme Mahlzeit für diejenigen, die sich sonst keine leisten können. Hinzugekommen ist auch eine kostenlose ärztliche Versorgung, denn viele der Betroffenen sind nicht mehr krankenversichert oder scheuen sich, eine elegante Arztpraxis aufzusuchen. Wichtig für die Menschen, Betroffene wie Helfer und Helferinnen, ist aber nicht die materielle Seite, sondern vor allem die gemeinsamen Gespräche, das Akzeptiert-Werden so, wie man eben ist. In der Vesperkirche kann man „in Würde arm sein“. Mittlerweile hat das Beispiel Schule gemacht, und auch außerhalb Stuttgarts sind Vesperkirchen entstanden.