Читать книгу Bohnenviertel - Monika Lange-Tetzlaff - Страница 7
Ein Stadtquartier wird vorgestellt
ОглавлениеDas Bohnenviertel ist nicht nur das älteste erhaltene Stadtquartier Stuttgarts, sondern es besitzt auch einen ganz besonderen Charme, der Bewohner und Bewohnerinnen wie auch Besucher und Besucherinnen immer wieder in seinen Bann zieht.
Die Mischung aus alteingesessenem Handwerk, hippen Läden und interessanter Gastronomie, der Mix aus Altem, Traditionellem und Modernem prägt dieses Quartier und macht es zu etwas ganz Besonderem. Dieses Viertel lebt von seinen Gegensätzen, die sich bekanntlich anziehen, und seiner Vielfalt.
Für alle, die das Viertel (noch) nicht kennen: Es geht um das Quartier zwischen Olga- und Esslinger Straße sowie zwischen Charlotten- und Pfarrstraße. Die Leonhardskirche bildet die Grenze zum Leonhardsviertel. Bohnen- und Leonhardsviertel unterscheiden sich grundsätzlich, obwohl beide einmal gemeinsam die „Esslinger Vorstadt“ oder „Leonhardsvorstadt“ bildeten. Das Leonhardsviertel ist heute Stuttgarts Rotlichtviertel. Allerdings ein schwäbisches Rotlichtviertel: Mit dem in Frankfurt am Main oder gar mit dem Hamburger Kiez lässt es sich nicht vergleichen! Es ist eben ein schwäbisches Rotlichtviertel.
Nicht immer hat man allerdings das Bohnenviertel so positiv gesehen. Fritz West nennt es in „So ist Stuttgart“, einem „unterhaltsamen Begleiter für In- und Ausländer“, das dunkle Viertel, in dem „kuriose Gestalten“ an „schäbigen Häuschen“ entlangschleichen, um dann plötzlich zu verschwinden.1 Ein bisschen klingt das wie Prag, wenn der Golem sein Unwesen treibt. Was allerdings heute noch Gültigkeit hat: Richtig zum Leben erwacht das Viertel erst gegen Abend. Dann füllen sich die Sträßchen mit zahlreichen Fußgängern, die gut essen gehen wollen, was im Bohnenviertel kein Problem ist. Man hat die Qual der Wahl.
Aber ein dunkles Quartier ist das Bohnenviertel keinesfalls mehr. Vor allem im Sommer weht südländisches Flair durchs Quartier: Restauratoren arbeiten im Freien, Schreiner haben ihre Werkstatttüren auf und lassen den würzigen Geruch von frisch gesägtem Holz auf die Straße ziehen.
Die vielen kleinen Läden haben offene Türen, und manchmal trägt jemand auf einem kleinen Tablett Cappuccino oder ein Glas Wein durch die Straßen. Kinder spielen hier noch in den Straßen, dafür ist die Fußgängerzone ja auch da, und der Kanarienvogel wird vors Fenster gehängt und darf die Sträßchen besingen. Gassen gibt es im Bohnenviertel übrigens keine: Alle Wege, und seien sie noch so schmal, tragen die Bezeichnung „Straße“.
Das Bohnenviertel gehört also einerseits zur Innenstadt, ist aber andererseits durch die sogenannte Stadtautobahn, sprich die Hauptstätter Straße, von der Innenstadt abgeschnitten. Daraus resultiert ein Teil der Problematik des Quartiers: Es ist heute von der restlichen Innenstadt abgehängt. Aber genau diese Situation ist auch ein Stück Geschichte des Viertels, das immer schon außerhalb der Stuttgarter Kernstadt lag und auch nur deshalb seine liebenswerte Eigenart entfalten konnte.
Dengler schien es, dass Stuttgart sich des kleinen Viertels schämt, das jenseits der großen mehrspurigen Straße liegt und das durch zwei große Parkhäuser, die wie Sichtblenden wirken, vor dem besseren Teil der Stadt versteckt wird.
Wer die große Hauptstätterstraße beim noblen Kaufaus Breuninger unterquert, steht auf der anderen Seite im Bohnenviertel auf einem kleinen belebten Platz, auf dem Geschäfte getätigt werden, deren Umsätze hinter denen der vornehmen Boutiquen in der Eberhardstraße nicht zurückstehen. Hier wird jedoch nicht mit edlem Tuch, sondern mit harten Stoffen gehandelt. Ein vorsichtiges Brummen liegt über dem Platz, jederzeit können die Geschäfte abgebrochen werden, sei es durch einen auftauchenden Polizeiwagen oder durch einen plötzlichen Regenguss.
Über mehrere Jahre hatte die Polizei die Junkies der Stadt verfolgt, die sich ursprünglich am oberen Ende der Königstraße versammelt hatten, trieb sie auseinander, verteilte Aufenthaltsverbote in der Stadt, fuhr ortsfremde Süchtige außerhalb der Stadtgrenzen in den Wald und ließ sie dort wieder laufen. Langsam verlagerte sich die Szene von der Innenstadt in die bürgerlichen Viertel und rief die Proteste besorgter und gut betuchter Eltern hervor. Dieses für alle Seiten unangenehme und für die Stadt teuere Spiel versuchte der Polizeipräsident zu beenden, indem er öffentlich erklärte, er komme der Drogenszene mit polizeilichen Maßnahmen nicht mehr bei. Sofort erhob sich großes Geschrei in der Stadt, und er wurde mehr oder weniger unverhohlen der Komplizenschaft mit den Dealern bezichtigt. Die Bürger aus den besseren Vierteln verlangten, die Polizei solle ihnen das Problem der unansehnlichen Drogenabhängigen aus den Augen schaffen. Der Polizeipräsident wurde abberufen und erhielt einen Schreibtischjob im Innenministerium. Ein neuer Polizeipräsident, dem ein noch härterer Ruf vorausging als dem alten, wurde ernannt. Doch war er klug genug zu wissen, dass sein Vorgänger Recht hatte – mit der Verfolgung der Drogenabhängigen war das Suchtproblem der Stadt nicht zu lösen. Deshalb gestattete er in dem von zwei Parkhäusern abgeschirmten Viertel einen Umschlagplatz für Aufputsch- und Betäubungsmittel aller Art.
Im Bohnenviertel wohnen viele ärmere Menschen, Alte und Ausländer; alles Leute, die nicht über Verbindungen verfügen und von denen lauter Protest nicht zu erwarten ist. So regelte sich die Sache.
Dengler blieb stehen. Die Unterführung lag hinter ihm und gab den Blick auf den Güler Kebab frei, dessen Ladentheke, durch einen grünen Baldachin mehr verunziert als geschmückt, mit einer riesigen Blechschere aus dem Erdgeschoss eines vierstöckigen Hauses mit einer braunen Metallfassade herausgeschnitten schien. Die beiden oberen Stockwerke trugen deutliche Rostspuren, und die Tag und Nacht heruntergelassenen Rollläden deuteten auf die illegalen Pokerrunden hin, in denen eine Truppe türkischer Spieler Deutschen und Griechen viel Geld abnahm. Links daneben drückte sich ein unscheinbarer Bau, in dem sich eine Kunstaugenpraxis, eine Import-Export-Firma für Naturhaare und ein Zentrum für ambulantes Operieren befanden. Neben einem Outlet-Geschäft, das den ersten Stock in Anspruch nahm, befand sich der 2001-Laden, wie immer gut besucht, in dem Dengler die Regale einmal in der Woche nach Blues- und Jazzplatten durchstöberte.
Dengler beobachtete einen Typ in kariertem Hemd und einer Hose aus derbem dunklen Stoff, der über den Platz schlurfte. In der rechten Hand hielt er ein goldenes Saxophon und in der linken eine Flasche Schnaps. Der Mann wankte wie ein überladener Kahn, schaute abwechselnd auf das Instrument und die Flasche, überfordert mit der Entscheidung, was er zuerst in den Mund stecken sollte.
Dengler bog nach links ab, kam an dem Buddhistischen Zentrum Stuttgart der Karma Kagyü Linie e.V. vorbei, das sich ein Stockwerk mit dem Optima-Finanzservice teilte, und blieb vor einem Kerzenladen stehen. Er las ein mit Tesafilm an der Glastür befestigtes Flugblatt:
Spüren, was uns trägt …
Seit einem Jahr trifft sich die Entspannungs- und Meditationsgruppe Stuttgart Mitte immer mittwochs von 19–20 Uhr im Stadtteilhaus Mitte.
Wir sitzen und liegen je 20 Minuten mit Anleitung.
Einschlafen ist erlaubt. Ein- und Ausstieg jederzeit möglich.
Näheres unter:
Es folgte eine Telefonnummer.
Wenige Schritte weiter bog er in die Wagnerstraße ein, die besser Wagnergasse heißen sollte, mit ihren glänzenden Pflastersteinen und den beiden engen Bürgersteigen. Die Häuser stehen nah, und die Sonnenstrahlen müssen jede List anwenden, um zum Grund der Gasse zu gelangen; sie nutzen die Lücken zwischen Häusern, sogar offen stehende Fenster, doch nur mittags, wenn die Sonne senkrecht über Stuttgart steht, dürfen sie sich für kurze Zeit ohne Umschweife auf den Boden fallen lassen.
Auf dieser kurzen Strecke leben noch die Überreste einer untergehenden Welt und stemmen sich mutig, aber ohne viel Hoffnung der Gleichmacherei der Moderne entgegen, wie der meisterhafte Restaurator alter Möbel, zu dem die wohlhabenden Bürger von weit her ihre Truhen tragen, ihre Tische und Stühle. Als habe er heilende Hände, fügt er gleichartiges Holz – oft auf schwierigem Weg beschafft – in die künstlichen Risse, pflegt alte Bilderrahmen gesund, doch darf die Kundschaft keinen Liefertermin verlangen; es ist erst fertig, wenn es fertig ist.
Um diesen kleinen Laden sammeln sich einige Antiquitätengeschäfte und eine helle Galerie für afrikanische Kunst, deren Exponate so wunderbar sind, dass die türkischen Kinder aus der Nachbarschaft oft ehrfurchtsvoll staunend und einander die Hand haltend vor dem großen Schaufenster zu finden sind.
Dazwischen auf halber Höhe das Basta, Bar und Restaurant gleichzeitig.
Es ist leicht zu erkennen an den beiden großen Glasscheiben zur Straße hin, dazwischen die Eingangstür, innen eine Bar aus rotem Holz und ein bis zur halben Höhe getäfelter Speiseraum. Ein paar Quadratmeter Paris mitten in Stuttgart, fand Georg Dengler, als er hier zum ersten Mal einen Grauen Burgunder trank, und sagte das zu der Frau, die neben ihm an der Theke stand. Sie stellte sich als Helga Lehnard vor, als Eigentümerin des Basta und des dazugehörigen Hauses. Als sie erfuhr, dass Dengler eine Wohnung in Stuttgart suchte, bot sie ihm die frei gewordene Wohnung im ersten Stock an. Seitdem wohnte er hier.
Zitiert aus: „Die Blaue Liste“ von Wolfgang Schorlau,
© 2005, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln, S. 82–85