Читать книгу Hexenherz. Glühender Hass - Monika Loerchner - Страница 16
Goldenes Reich Kapitel 3
ОглавлениеAdrian runzelt die Stirn. »Kolja ist ein Junge!«
Ich will etwas sagen, aber Mama fährt dazwischen. »Ganz genau. Und jetzt werden wir testen, ob auch Männer mit Magie umgehen können.«
Marzena erbleicht und keucht: »Blasphemie!«
»Komm mal runter«, winkt Mama ab. »Wenn die Göttin nicht will, dass so etwas möglich ist, werden wir das schon merken. Ganz sicher hat sie nicht gewollt, dass sie mir die Magie wegnehmen, also sieh es als Ausgleich. Falls es überhaupt klappt.«
Adrians Augen funkeln, seine Stimme klingt heiser. »Du weißt, was es bedeuten würde, wenn das klappen sollte, Helena! Wir erforschen die Speicherung und Fremdnutzung von Magie schon seit einigen Jahren, aber so weit sind wir noch nicht gekommen, kein Mann hat bislang gewagt, es zu versuchen.«
»Dann wird es ja höchste Zeit, oder? Test am lebenden Objekt sozusagen.« Mama geht zu mir und schiebt mich ein Stück vorwärts. »Wenn ihr euch nicht traut, ist das eure Sache, aber mein Junge hier wird es ausprobieren.« Nachdenklich mustert sie Adrian. »Warum hast du es eigentlich nicht versucht? Und jetzt komm mir nicht mit einer Ausrede, ich weiß, dass du es tun würdest, wenn es nach dir ginge!?«
Der Anführer seufzt. »Würde ich auch. Aber solange wir nicht wissen, wie sich Magie auf einen Mann auswirkt, darf ich mein Leben nicht aufs Spiel setzen. Seit … ich allein die Verantwortung für meine Leute trage, muss ich mich entsprechend vorsichtig verhalten.«
Er spricht »Seit Mirja tot ist« nicht aus, dennoch hat es jede von uns gehört.
Mama nickt. »Verstehe. Und was ist mir dir?«
Ihr Blick trifft Corey, der rot anläuft. »Nichts ist mit mir, was soll schon mit mir sein?«
»Weichei.«
»Schlampe!«
»Deine Mutter hätte nicht eine Sekunde gezögert, das Wagnis einzugehen.«
Der junge Mann ballt die Fäuste. »Dass du es wagst, über meine Mutter zu reden, du …«
»Corey!« Adrian schaut den Rebell an und schüttelt den Kopf. »Es reicht jetzt! Du bist auf eigenen Wunsch hin mitgekommen, also nimm dich zusammen oder geh.«
Ohne eine Antwort abzuwarten richtet er sich an Mama. »Wie ich schon sagte, wir waren noch nicht so weit. Wir haben uns erst mal darauf konzentriert, Magie zwischen Frauen hin- und herzuschicken und die Verträglichkeit der einzelnen Magiearten zu untersuchen. Einige Männer und Jungen wollten es schon ausprobieren, aber ich habe es ihnen verboten.«
»Nun, Kolja hier kannst du es nicht verbieten, er gehört zu mir, nicht zu dir!«
»Aber ich kann mich weigern, ihm einen Magiestein zur Verfügung zu stellen!«
»Das würdest du tun?«
»Und du würdest das Leben deines Sohnes aufs Spiel setzen?«
Ich sehe den Schmerz in Mamas Augen, aber sie hält Adrians Blick stand, reckt das Kinn. »Es ist seine Entscheidung, denn es ist sein Leben. Kolja gehört zu mir, aber er gehört mir nicht, sondern sich selbst. Er ist alt genug.«
»Dir ist klar, dass der Junge erst zwölf ist?«
»Vierzehn!«
»Soso.«
Ich halte die Luft an. Was wird Adrian sagen? Ohne seine Hilfe bin ich aufgeschmissen, mein ganzer Plan hängt von seiner Zustimmung ab. Dennoch bin ich seltsamerweise nicht nervös, sondern glücklich: Mamas Worte haben mir gezeigt, wie groß ihr Vertrauen in mich ist und wie sehr sie an mich glaubt!
Der Anführer nickt schließlich. Dann schaut er zu mir rüber. »Bist du dir über das Risiko im Klaren, mein Junge?«
Ich nicke. Was sollte ich auch sonst tun?
»Und du bist sicher, dass du das tun willst?«
Ich balle meine Hände zu Fäusten, denke an Ada und daran, dass sie gegangen ist, ohne sich auch nur einmal nach Papa oder mir umzudrehen. »Mehr als alles andere!«
»Na schön.«
Erst als ich merke, wie eine Last von mir fällt, begreife ich, wie angespannt ich die ganze Zeit über gewesen bin. Adrian hilft mir. Bei Mamas Sieben Finsterhexen, mit ihr und Adrian auf meiner Seite kann doch gar nichts schiefgehen!
»Aber ich erwarte eine Gegenleistung.«
Warum sagt er das zu Mama und nicht zu mir? Adrian sollte doch mit mir verhandeln!
»Das solltest du mit Kolja ausmachen.« Auf Mama ist Verlass!
Mit einem schiefen Grinsen wendet sich Adrian wieder mir zu. »Wenn ich dir helfe, Kolja, und dir einen Stein voller Magie verschaffe und wir dich anleiten und das tatsächlich klappen sollte …«
»Ja?«
»Dann erwarte ich, dass du auch uns hilfst. Ich habe keine Ahnung, wofür du die Magie brauchst und auf welche Mission du dich begeben zu müssen glaubst. Aber wenn du fertig bist mit dem, was du vorhast, wirst du zu uns kommen, ein Jahr bei uns bleiben und uns alles erzählen und zeigen, was du über die Anwendung der Magie gelernt hast. Einverstanden?«
Ich schaue zu Mama. Sie seufzt, dann nickt sie.
Ich strecke meine Hand aus und sehe Adrian fest in die Augen. »Einverstanden.«
Adrian schlägt ein, und ich atme auf. Merkwürdig, ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. In meinem Bauch macht sich ein seltsames Kribbeln breit. Es sich auszudenken und dann zu sagen, dass ich Magie haben muss, ist eine Sache. Aber jetzt ist die Sache mit einem Mal ganz real geworden. Nicht mehr »Ich muss Magie bekommen« oder »Ich könnte Magie bekommen«; aus meinen Gedankenspielen ist ein »Ich werde Magie bekommen« geworden. Das Kribbeln in meinem Bauch breitet sich aus. Meine Knie fühlen sich plötzlich schwammig an und alle Menschen um mich herum verblassen, allein Adrians Blick sticht heraus, sieht mich durch die Schemen hindurch an. Magie. Ich, ein Junge. Ich will den Kopf schütteln und sagen, dass das alles nur ein Scherz gewesen ist. Nein, kein Scherz, aber eine saublöde Idee. Und überhaupt: Wie können sie das zulassen? Mama, Onkel Richard und Adrian? Sie sind doch die Erwachsenen hier, sie sollten mir diesen Wahnsinn ausreden! Und was ist mit Marzena und Simone, mit Corey? Den kann ich zwar nicht leiden, aber der macht doch auch sonst immer den Mund auf, warum nicht jetzt? Die können doch nicht alle nur dumm rumstehen und dabei zusehen, wie ich versuchen werde, mir die Magie, die die Göttin ausschließlich für Frauen bestimmt hat, anzueignen? Das ist doch Wahnsinn, Blasphemie, das ist …
»Kolja!«
Eine Hand legt sich mir auf die Schulter. Unter tausenden Händen würde ich diese eine erkennen, so vertraut ist mir ihre Berührung. »Ja, Mama?«
»Es ist in Ordnung.«
Jetzt drehe ich mich um, und aus der schemenhaften Gestalt wird wieder Mama.
»Es ist in Ordnung«, wiederholt sie und ich bin froh, dass sie »Angst zu haben« nicht laut ausspricht. Ich schlucke, und der Moment der Schwäche geht vorbei. Ich straffe meine Schultern und recke das Kinn, wie es Mama immer tut. »Ja. Alles in Ordnung.«
Adrian nickt mir zu. »Das wird schon, Junge. Deine Mutter, dein Onkel und ich müssen jetzt einige Details besprechen. Du kannst dich so lange mit den anderen unterhalten.«
Marzena und Simone tun ihr Bestes, mich mit Geschichten ihres Lebens im Wald abzulenken. Ich merke jedoch selbst, dass meine Gedanken immer wieder zu der mir bevorstehenden Aufgabe abschweifen. Corey indes starrt mich nur finster und mit verschränkten Armen an. Würde er lächeln, könnte ich vielleicht seine Mutter Glenna in ihm entdecken, aber so kann ich nur schwer glauben, dass er ihr Sohn ist. Mama spricht nicht darüber, aber ich weiß, dass sie Glenna gemocht hat und ihr ihr Tod sehr nahegegangen ist.
»Sag mal, Kolja.« Marzenas Stimme ist plötzlich leiser geworden. »Hat deine Mutter eigentlich wen?«
»Wie meinst du das?« Ich stelle mich absichtlich dumm. »Wen wozu?«
Marzena seufzt. »Du weißt schon: Wen, mit der sie … naja …«
Simone verdreht die Augen. »Menschenskinder, Marzena, der Junge ist vierzehn, nicht acht. Und selbst einem Achtjährigen könntest du diese Frage geschickter stellen!« Sie grinst mich an. »Marzena will wissen, ob Helena derzeit einen Geliebten hat. Oder eine Geliebte.«
»Oder zwei.«
»Zwei?«
Marzena zwinkert ihr zu. »Frag sie mal bei Gelegenheit nach den Cousins in Todtanz!«
Die ehemalige Gardistin und die Rebellin grinsen sich an, dann scheinen sie sich wieder daran zu erinnern, wer vor ihnen steht.
»Öh …« Simone räuspert sich. »Ja, also, hat sie wen?«
Ich nicke. »Ja, schon eine Weile.«
»Und, was meinst du? Ist es was Festes?«
Ich zucke mit den Schultern. »Sie schläft die halbe Woche über bei Mama, aber sie meint, es wäre nur eine lockere Sache.«
»Magst du sie?«
»Sie ist ganz nett.«
Tatsächlich ist Mamas Freundin mehr als nett. Sie kann verdammt gut mit Tieren, obwohl sie keine Magie in der Richtung hat, und ist als zweite Gärtnerin und Aufseherin über die Gemüsehäuser des Dorfes selbst bei den Männern beliebt. Ich verstehe bis heute nicht, wie eine so fröhliche und freundliche Frau eine so langweilige Arbeit machen kann. Temperatur- und Lichtdienst für Pflanzen – da würde ich doch lieber Anwalta werden!
»Das ist gut«, unterbricht Simone meine Gedanken. »Na siehst du.«
»Sehe ich was?«, wundere ich mich, aber Simone hatte gar nicht mich gemeint. Sondern Marzena.
»Ich kapier nicht, warum du so um den heißen Brei herumredest«, mault Corey. »Jetzt sag es ihm schon und dann ist gut.«
Marzena schaut zur Seite. Ich folge ihrem Blick und begegne dem von Adrian. Was ist hier los?
»Was ich dir sagen wollte … Also dir und deiner Mutter. Wir, meine ich, was wir dir sagen wollten …«
Mit schwant Übles. »Wer ist ›wir‹?«
Die Frau lächelt schief, aber stolz. »Adrian und ich.«
So ist das also. Ich schaue zu Mama. Ihrer angespannten Körperhaltung nach hat ihr Adrian gerade dasselbe erzählt. Er und Marzena sind also jetzt ein Paar.
»Warum erzählst du mir das?«, will ich sagen, aber es klingt mehr nach einem Keuchen. Ich fühle mich, als hätte mir eine in den Bauch getreten. Und wenn ich jetzt Magie hätte? Würde es sich dann trotzdem so anfühlen? Oder könnte ich den Schmerz betäuben, der mit einem Mal in mir tobt, so wie sich Mama früher immer von ihrem Eis hat betäuben lassen?
»Kolja …« Marzena macht einen Schritt auf mich zu, aber Simone hält sie zurück.
»Lass ihn. Er wird es verstehen.«
»Was soll ich verstehen?« Ich straffe meine Schultern. »Du bist jetzt mit Adrian zusammen, ist doch in Ordnung. Und Mama mit ihrer Freundin. Alles ist gut. Warum auch nicht? Ist mir doch egal.«
In meinen Augen brennt es.
»Ach Kolja.« Marzenas Miene ist kummervoll. »Wir wünschen euch nur das Beste.«
»Jaja, ich weiß.« Ich muss mich kurz räuspern. »Kann ich jetzt bitte gehen?«
Corey schnaubt. »Na seht ihr, war doch ganz einfach. Helena hat eine Freundin und Adrian auch, ist doch alles prima! Und du, Kolja, dir gebe ich mal einen guten Rat für die Zukunft: Hör auf, von einer Mutter-Vater-Kind-Scheiße zu träumen, du bist doch kein Kleinkind mehr! Mal ehrlich: Du siehst doch, was dir so eine Familie das letzte Mal gebracht hat, nämlich gar nichts!«
Simone und Marzena schnauzen Corey an, aber ich höre nicht hin. Stattdessen drehe ich mich weg und gehe Richtung Dorf. Nach ein paar Metern stößt Mama zu mir, als hätten wir uns auf ein geheimes Zeichen hin gleichzeitig auf den Weg gemacht. Ich drehe mich noch einmal um. Adrian schaut Mama unglücklich hinterher, aber mir entgeht weder der Blick, den er dann mit Marzena wechselt noch die Erleichterung, die darin liegt.
»Adrian sagt, ihre Fröhlichkeit tue ihm gut«, sagt Mama.
»Marzena sagt, sie wünschen uns nur das Beste«, sage ich.
Wir schauen uns nicht an, aber unsere Hände finden zusammen. Wir gehen nach Hause.
Es ist meine letzte Nacht, morgen werde ich mich auf den Weg machen. Es fühlt sich richtig an: Ich muss meinen Vater finden! Mama hat mich in den letzten drei Wochen gut vorbereitet. Sie meint, dass ich es durchaus schaffen könnte, als Frau durchzugehen. Weil ich, wie sie sagt, noch immer diese Art an mir hätte, die ausdrückt, dass ich mich als Bestimmer fühle. Weil ich im Großen Moldawischen Reich aufgewachsen bin. Mama sagt, das merkt sie mir immer noch an. Und dass das gut ist, weil ich dadurch eher die Körperhaltung einer Frau habe.
Bei allem anderen mussten wir nachhelfen: Mama und Oma haben mir Unterwäsche aus Leder und Stoff angefertigt. Da keine von ihnen Magie anwenden kann, haben sie irgendwo ein uraltes Alchemiekunstbuch aufgetrieben, darin gestöbert und dann das Material mit irgendwelchen Tinkturen behandelt, um es widerstandsfähiger zu machen, Mamas Sieben Finsterhexen mögen wissen, was sie noch alles damit angestellt haben. Es fühlt sich seltsam an, die Spezialunterwäsche zu tragen, aber noch seltsamer ist es, dass sich da auf meiner Brust plötzlich etwas abhebt. Ich werde mich schon daran gewöhnen, das schaffen Mädchen, die zur Frau werden, ja schließlich auch. Viel schlimmer ist die enge, kurze Hose, die ich jetzt immer unter allem anderen tragen muss. War das peinlich! Mama hat es sich nicht nehmen lassen, mich ordentlich aufzuziehen. Zum Glück ist Oma irgendwann dazwischen gegangen. Keine, die Mama kennt, würde meinen, dass sie sich noch von ihrer Mutter etwas sagen lässt. Ob jede Mutter ihr Leben lang Macht über ihr Kind hat?
Auf jeden Fall fühle ich mich mit den Sachen sicher. Solange ich es nicht übertreibe und nur Hosen anziehe, die etwas locker sitzen, sieht keine, dass ich ein Junge bin, sagt Mama. Wenn mir keine zwischen die Beine fasst oder tritt, dürfte alles gutgehen. Ginge es nach Mama, würde ich ja noch zusätzlich eine Metallschale tragen. Hat sie extra für mich angefertigt. Solche Schalen waren wohl ganz früher mal Mode unter den Gardistinnen, bevor sie auf Rüstungen aus Fischbein und schließlich auf solche aus verschiedenen magisch miteinander verschmolzenen Stoffen umgestiegen sind. Nur dass ich natürlich nicht meine Brust damit schützen müsste. Ich werde die Schale Mama zuliebe einpacken, aber ich glaube nicht, dass ich dieses Ding je tragen werde, die Lederhose ist so schon unbequem genug.
Aber es geht nicht um Bequemlichkeit. Diese Tarnung kann über mein Leben entscheiden. Deshalb hat Mama darauf bestanden, dass ich die Sachen schon jetzt trage. Um mich daran zu gewöhnen. Sie hat ja recht. Sie hat immer recht. Ich muss verrückt sein, dass ich sie verlassen will.
Ich habe hier endlich ein Zuhause gefunden. Mama liebt mich bedingungslos und auch Oma Rina, Opa Ernst, Mamu und bis zu seinem Tod Uropa Frank haben mich aufgenommen: Sie sind jetzt meine Familie. Da ist Onkel Richard, auch wenn ich ihn nur selten sehe. Oma erzählt oft Geschichten von ihm, was er in meinem Alter alles für Blödsinn angestellt hat, und vergisst nie, hinzuzufügen, dass ich ihrer Meinung nach viel zu brav bin. Mama seufzt immer, wenn sie das mitbekommt und weist Oma daraufhin, dass ein Drittel der Mädchen mit vierzehn schon zu Frauen geworden sind und dass sie froh ist, dass ich nicht so albern bin, wie es ihr Bruder früher war. Dabei ist mir jener Richard aus Omas Geschichten näher, als der freundliche, aber immer auch ein wenig gequält wirkende Erwachsene, den ich ab und zu treffe. Und da sind Selym und Kire, die mir wie Schwestern sind. Das ist das Schlimmste: dass sie nicht verstehen werden, warum ich fortgehen muss. Ich kann und darf es ihnen ja nicht verraten – nicht auszudenken, wenn sie etwas davon ausplappern würden!
Ich liege da und starre ins Nichts. Gegen die Wand. Aus dem Fenster. Sehe das matte Glimmen des Leuchtdrahtes, der vor unserem Haus über den Bäumen verläuft. Er erinnert mich an die Sandstraße, auf der ich damals mit der Nordgarde geritten bin. Ich hatte mich erst nicht getraut, sie zu betreten. Immerhin verläuft sie stellenweise fünfzehn Meter über dem Boden. Nur der Gedanke daran, dass mich die schnurgerade Straße wesentlich schneller zu Mama bringen würde als die normalen Straßen, hatte mich dazu gebracht, der Nordgarde und dem Gefangenenwagen mit den gefangenen Aufständlern darin zu folgen.
Welche Frau auch immer heute Nacht die erste Leuchtschicht hat, sie macht ihre Sache nicht besonders gut: Immer wieder flackert der Draht, wird das Licht schwächer und dann wieder stärker. Ich habe Mama einmal mit einer Nachbarin darüber reden hören, dass der Leuchtdienst zu den niedrigsten und langweiligsten Frauenarbeiten gehört und sich so manche Diensthabende das lästige Aufrechterhalten simpler Lichtmagie mit einem Mann in der Wachkammer versüßt. Angeblich verrät das Flackern des Drahtes beziehungsweise die Geschwindigkeit dieses Flackerns, ob der Mann etwas tauge. Dann hatten Mama und die Nachbarin gelacht.
Mama. Wie soll ich das nur ohne sie schaffen? Wenn doch nur die Goldene Frau nicht wäre, wenn Mama noch Magie hätte, wenn … Aufhören! Ich schüttele den Kopf, setze mich auf. Das bringt doch nichts. »Hätte, hätte, Eisenkette«, sagt Mama immer. Grübeln über die Vergangenheit bringt nichts, die Dinge sind, wie sie sind. »Sei dir immer über das Hier und Jetzt im Klaren, nur so weißt du, was du zu tun hast, um zu dem zu kommen, was du wirklich willst.«
In Sachen Ratschläge geben sind Mama und Oma Rina großartig. Manche sagen, sie wären ruppig und zu direkt, aber keine hat je ihre Intelligenz angezweifelt. Mamas Magie habe ich damals miterlebt, von Oma Rinas vergangener Macht tuscheln die Leute heute noch. Beide waren einmal große Hexen, und ihr Wissen ist nicht mit ihrer Magie verschwunden.
Also: Wo bin ich, was ist das Jetzt?
Mein Vater ist verschwunden, befindet sich vermutlich in irgendeinem Gefängnis. Ich glaube nicht, dass sie ihn freigelassen haben – wie sollte er auch beweisen können, kein Spion zu sein? Das hätte er nur mit der Hilfe meiner Gebärerin geschafft und die hat uns ohne auch nur mit der Wimper zu zucken zurückgelassen. Außerdem hätte Papa mich gesucht, wenn er gekonnt hätte. Er hätte, wenn nötig, das gesamte Goldene Reich nach mir abgesucht und nicht eher geruht, bis er mich gefunden hätte. Dass er es nicht getan hat, kann nur bedeuten, dass er es nicht konnte. Oder Schlimmeres.
Ada hingegen hätte mich ohne weiteres finden können. Sie haben Papa festgenommen und mich ins Jungenheim in die Hauptstadt geschickt. Zum Glück hat mich Mama davor bewahrt. Ada aber haben sie nicht verhaftet, im Gegenteil: Laut Mama haben sie sie lediglich verhört und nachdem klar wurde, dass sie hierherkam, um ihre Magie erwecken zu lassen, durfte sie sich frei im Lager bewegen. Dann wurde Mama verhaftet und fortgebracht, daher weiß sie nicht, wohin Ada dann später gegangen ist. Aber eines ist sicher: Weder hat Ada nach mir gefragt noch nach mir gesucht. Sie hat meinen Vater und mich angelogen und uns hierhergebracht, ins Goldene Reich. Nicht, weil sie für uns alle ein besseres Leben gewollt hat, sondern nur für sich allein. Dass die Gardistinnen, die uns entdeckt und mitgenommen hatten, Papa gefesselt und eingesperrt haben, hat sie gar nicht gestört. Von Mama weiß ich, dass sich Ada auch für Papa kein Stück eingesetzt hat. Sie hat nach keinem von uns gefragt. Kein einziges Mal.
Ich schaue aus dem Fenster. Das Licht des Drahtes hat aufgehört zu flackern und strahlt nun ruhig durch die Wipfel der Bäume, erhellt sanft die menschenleere Straße. Irgendwo da draußen ist mein Vater. Ich werde ihn finden!
»Bist du nicht langsam zu alt dafür?«, grummelt Mama und hebt die Decke. Ich weiß, dass sie nichts dagegen hat, dass ich noch immer ab und zu zu ihr ins Bett komme. Sie weiß um meine Albträume, wie ich um ihre: Manchmal kommt sie nachts in mein Zimmer und setzt sich eine Weile an mein Bett. Dann weiß ich, dass sie wieder einen schlechten Traum gehabt hat. Wir reden nie darüber, wozu auch, wir wissen, was der jeweils andere durchgemacht hat. Manches erlebten wir gemeinsam.
Ich kuschele mich unter Mamas Decke, hülle mich in ihre Bettwärme, atme ihren ganz speziellen Mamageruch ein, der mich normalerweise sofort beruhigt. Heute klappt es nicht. Vielleicht liegt das daran, dass sich ein anderer Geruch dazwischengeschlichen hat. Er ist nicht schlecht oder so, aber hier und jetzt stört er mich so sehr, dass ich am liebsten schreien würde. Gegen meinen Willen steigen mir schmerzhafte Tränen in die Augen und ich spüre, wie in meinem Hals ein Kloß wächst. Ich schlucke. Aber nur leise, denn obwohl Linda einen sehr festen Schlaf hat, will ich nicht riskieren, sie aufzuwecken.
Mamas tastende Hand findet meine. »Ach Kolja!«
Mit der Linken wische ich mir Tränen von der Wange, bevor sie in mein Ohr fließen können. »Sie hat mich einfach so verlassen, Mama!«
»Ich weiß.«
»Und wozu? Nur, um sich ihre Scheißmagie wecken zu lassen!«
Ich spüre, wie Mama neben mir zusammenzuckt. Dass sie ihre Magie verloren hat, ist noch immer ein wunder Punkt bei ihr. »Tut mir leid, Mama!«
»Schon gut.« Sie seufzt leise. »Nicht, dass ich verstehen könnte, dass sie dich zurückgelassen hat. Aber dass sie hierherkam, kann ich schon verstehen. Wer war Ada denn drüben? Nicht viel mehr als ein Koch, ein Putzmann, ein Diener.«
Ich schaue Mama von der Seite an. »Du meinst, wie ein Mann?«
»Nein, nicht so! Oder ja, vielleicht ein bisschen.« Mama überlegt kurz. »Aber da ist noch mehr. Sieh mal, Schatz, die Magie, die ist ja das Geburtsrecht von uns Frauen. Drüben hinter der Grenze halten die ganzen Länder, das Große Moldawische Reich, China, die türkisch-arabischen Bündnisstaaten und alle anderen, die Frauen unter Kontrolle. Erzählen ihnen Lügen über uns. Dass wir böse seien und unsere Magie dämonischen Ursprungs. Wird dort eine Frau dabei erwischt, wie sie sich auch nur mit dem Thema Magie beschäftigt, wird sie umgebracht. Solch eine Angst haben die Männer dort, es könnte ihnen ebenso ergehen wie all den verlogenen Kerlen, die uns Frauen früher unterdrückt und ausgebeutet haben. Sie halten sich ihre Frauen, wie wir uns nicht einmal Sklaven halten würden: Sie sollen den ganzen Tag nur arbeiten und ihre Männer bedienen. Sie haben keine Freiheiten und können nur ein wenig Ansehen erlangen, wenn sie ihrem Gatten willig ein Kind nach dem anderen gebären, am besten natürlich Söhne. Hältst du das für fair?«
Schon oft habe ich mir Mamas zornige Reden angehört, aber zum ersten Mal wage ich es, etwas einzuwerfen. »Aber ist es hier nicht genauso, nur andersherum?«
Ich spüre, wie sie energisch den Kopf schüttelt. »Das ist etwas ganz anderes. Die Göttin hat gewollt, dass wir Frauen über den Männern stehen. Warum sonst hätte sie uns mit Magie gesegnet? Außerdem«, Mama schnauft hörbar, »haben es die Männer hier um Welten besser, als die Frauen hinter der Grenze. Keine zwingt sie zum Sex, allein das schon.«
Ich huste. Muss Mama immer über sowas reden?
Sie fährt fort: »Es gibt noch zig andere Unterschiede, aber wichtig ist doch erst mal das Geburtsrecht. Das ist es, was zählt. Einer Frau die Erweckung ihrer Magie zu verweigern, ist ein abscheuliches Verbrechen und dient nur der Unterdrückung der Frau. Das ist so falsch und verkehrt, wie etwas nur sein kann. Du stellst dich doch auch nicht hin und erlaubst einer Kuh, dich zu fressen, oder? Ja, schon klar, das Beispiel hinkt. Aber so ist das eben mit der natürlichen Ordnung, jede hat ihren Platz darin. Das hat nichts damit zu tun, dass die eine besser wäre als die andere, es geht erst mal nur um ihre Fähigkeiten, ihre Stärke. Und so wie die Wölfin mit ihrer Kraft und ihren Reißzähnen über dem Schaf steht, so steht die Frau mit ihrer Magie über dem Mann.«