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Goldenes Reich Kapitel 5

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Ich atme langsam aus und richte dann all meine Sinne auf den Stein in meiner Hand. In meiner Vorstellung strecke ich unsichtbare Finger aus, die mühelos in den Stein hineingleiten. Stoßen sie auf einen weichen oder festen Widerstand? Weder noch, da ist nichts. Enttäuscht will ich meine Finger wieder zurückziehen, als mir wieder einfällt, dass es ja im Grunde darum geht, etwas aus dem Stein herauszuholen. Ob mich das weiterbringt? Ich stelle mir vor, den ungekochten Eidotter greifen zu wollen. Er ist schmierig und schleimig, und meine Finger gleiten immer wieder ab. Wie soll ich so etwas auch greifen können? Doch da, ein Knubbel! Wenn ich ihn nur fest genug packe und meine Finger schnell wieder herausziehe, könnte es klappen, dass etwas hängenbleibt. Ich versuche es. Der Eidotter zerglibbert zwischen meinen Fingern, aber ich behalte etwas in meiner unsichtbaren Hand. Würde ich fester zupacken, würde es mir entgleiten.

Ich greife den Knubbel und greife ihn gleichzeitig nicht, und ganz plötzlich ist es da. Als würde ich Luft durch einen Strohhalm saugen, nur dass meine Hand, mein Ich der Strohhalm ist. Etwas kriecht federzart in mich hinein. Als wäre ich in einen Nebel geraten, der mich jetzt von innen hauchfein umschließt. Erst jetzt bemerke ich, dass mir das Atmen schwerer fällt. Nicht, als hätte ich einen schlimmen Husten, sondern eher so, als würde ich eigentlich zweimal atmen. Ist das die Magie? Ist sie jetzt in mir? Ich spüre meinen Herzschlag, der immer fester zu werden scheint. Schweiß sammelt sich in meinem Nacken, an meinem Rücken, in meinen Händen. Was, wenn mich die Magie vergiftet? Ich bin doch nur ein Junge, es war nie vorgesehen, dass ich Magie in mir aufnehme! Mein Hals beginnt zu jucken, meine Brust, mein Bauch. Meine Hände fühlen sich jetzt weniger schwitzig, als schmierig an, als hätte sich eine dünne Schicht Seife darübergelegt. Ich versuche ruhiger zu atmen. Tiefer, bewusster. Um die Panik zu vertreiben, den Trick habe ich von Mama. Doch wieder habe ich ein Gefühl, als würde ich zweimal atmen, doppelt, als wäre da ein anderes Ich, das mich lenkt. Mir wird schwindelig. Warum fühle ich mich, als hätte mich eine stundenlang wild im Kreis gedreht, immer weiter und weiter? Plötzlich halte ich es nicht mehr aus. Soll Désirée mich doch für einen Schwächling halten, mir doch egal!

Ich reiße meine Finger von dem Stein. Irgendwie habe ich dabei so viel Schwung aufgenommen, dass ich erst stolpere und dann hinfalle. Ich wische meine Hände im Gras ab, der Duft von Moos und Wald hüllt mich ein. Mein Herzschlag wird wieder langsamer.

»Verdammt, was war das?«, frage ich und schaue hoch zu der Rebellin, die mich mit zusammengezogenen Augenbrauen mustert.

»Alles gut bei dir, Kolja?«

»Ja. Ja, danke, es geht schon. Alles gut. Wunderbar. Warum auch nicht? Alles in Ordnung. Und wie geht es dir so? Hier ist alles wunderbar und …«

»Pscht, schon gut!« Die Frau lächelt, kommt näher, beugt sich vor und legt eine Hand an meine Wange. Fast sofort geht es mir besser. Der diffuse Schwindel, der Besitz von mir ergriffen hatte, löst sich in Sekundenschnelle auf. Muskeln entspannen sich schmerzhaft und der Schweiß auf meiner Haut lässt mich frösteln.

»Keine Sorge, Kleiner«, Désirée setzt sich vor mich und klopft mir freundlich auf die Schulter. »Du hattest nur eine kleine Panikattacke.«

»Eine was?« Ach du Schande! Wenn sie das Adrian und den anderen erzählt, sterbe ich vor Scham!

Die Rebellin scheint meine Gedanken gelesen zu haben. »Keine Sorge: Außer uns geht das keinen etwas an! Und, wie fühlst du dich jetzt?«

Wie fühle ich mich jetzt? Das ist eine gute Frage, die mich mit den Schultern zucken lässt.

»Zuck nicht immer mit den Schultern, wenn du etwas nicht weißt oder dir etwas egal ist! Die Göttin hat dir in ihrer Güte das Geschenk einer Stimme gemacht, also benutze sie!« – Das würde jetzt Oma Rina zu mir sagen. Und wahrscheinlich noch grummelnd hinzufügen: »Ganz Helena, der Junge, ganz Helena!«

Aber hier ist keine Oma. Kein Opa, keine Mamu und keine Helena. Hier muss ich allein durch.

Ich atme tief durch und richte meine Aufmerksamkeit auf mein Inneres. Mir ist ein wenig kalt und mein Nacken tut weh, aber ansonsten scheint es mir tatsächlich gut zu gehen.

»Alles in Ordnung, denke ich.« Ich beiße mir auf die Lippe. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Mir war nur auf einmal so schwindelig, und ich habe Panik bekommen. Das wird nicht wieder vorkommen, versprochen!«

»Kein Problem, Kolja, ich bin dir nicht böse! Im Gegenteil: Ich hätte nie gedacht, dass du beim ersten Mal so weit kommen würdest!«

»Da wäre noch etwas …«

»Und was?«

Ich zögere. Und wenn sie mich auslacht? Egal, da muss ich jetzt einfach drüberstehen. Wenn ich Désirée nicht vertraue, dann kann ich die ganze Sache gleich vergessen. Also los!

»Es ist … es fühlt sich an, … als ob ich zweimal geatmet hätte.« Wie kann ich ihr nur begreiflich machen, was ich meine? »Aber nicht kurz hintereinander oder so. Sondern als würde ich mit jedem Atemzug eigentlich zwei machen. Irgendwie.«

Die Augen der Rebellin weiten sich, dann breitet sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus. »Zeig mal her!«

Noch bevor ich »Was denn?« fragen kann, spüre ich eine seltsame Berührung in mir: Désirées Magie.

»Große Göttin, ich danke dir«, sie breitet die Hände aus, streckt sie mit den Handflächen nach oben in die Höhe und lacht: »Kolja: Du bist randvoll mit Magie!«

Als wir wieder im Lager ankommen, habe ich das Gefühl, keinen einzigen Schritt mehr gehen zu können. Ich stolpere zu dem Essfeuer und lasse mich ins Gras sinken. Ich höre Stimmen um mich herum, aber es ist mir egal. Ich will einfach nur für immer hier liegen bleiben.

»Na du?«

Ich drehe meinen Kopf auf die andere Seite und stöhne auf. Jede einzelne Stelle meines Körpers tut weh, aber mein Nacken besonders.

»Komm, setz dich auf und iss etwas.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, zieht Adrian meinen Oberkörper etwas hoch. »So, und jetzt nach hinten.«

Angelehnt an einen Baumstamm nehme ich den Teller entgegen, den Adrian mir reicht. Keine Ahnung, was da drin ist. Ich nehme den Löffel und esse. Désirée hat mich Übungen machen lassen, deren Sinn ich nicht verstanden habe. Sie meinte, mein Körper müsse sich erst an die Magie gewöhnen und dass ich mich ein paar Tage lang so fühlen würde, als hätte mich ein Pferd getreten. Dass es aber mit jedem Mal besser werden würde. Ich hoffe, sie hat recht.

Mein Kopf fühlt sich schwer an, und mein Bauch ist warm vom Essen. Das Gemurmel der anderen, die sich leise unterhalten. Ein Geräusch, als würde ein Teller ins Gras fallen. Irgendwann fühle ich eine Decke auf mir. So wunderbar weich und warm.

Kaum dass ich am nächsten Tag mit steifem Nacken aufgewacht bin, scheucht mich Désirée wieder auf die Übungslichtung. Als wir zum Mittagessen wiederkommen, ist das Lager bereits bis auf die Kochstelle abgebaut: Wir werden also weiterziehen. Das hätte ich mir natürlich denken können. Für Aufständische ist es zu gefährlich, länger am selben Ort zu bleiben. Trotzdem fühlt es sich seltsam an. Ich bin von Mama und zu Hause weggegangen, aber irgendwie hatte es sich nicht so schlimm angefühlt, wie ich gedacht hatte. Ich hatte noch gar nicht realisiert, dass ich tatsächlich meine Familie verlassen würde. Als wir jetzt losgehen, bricht der Abschiedsschmerz umso heftiger über mich herein. Ich wische mir immer wieder verstohlen Tränen aus den Augen, während wir tief in die Wälder gehen, Mamas Sieben Finsterhexen mögen wissen, in welche Richtung.

»Oder Adrian«, höre ich Mama spöttisch sagen. »Und fluch nicht so viel!«

Dabei würde sie grinsen, denn wenn einer andauernd bei den Sieben Finsterhexen flucht, dann ist sie das. Beim Gedanken an Mama wird mir das Herz schwer. Sie hat vorausgesehen, dass ich traurig sein würde wegen unserer Trennung. Ihr Rat hatte gelautet, mich beschäftigt zu halten. Das würde mich ablenken.

Ich laufe vor bis zur Spitze unseres Zuges. »Wohin gehen wir eigentlich?«

Adrian schüttelt den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen.«

»Ach nein?« Wie ich es hasse, wenn ein Erwachsener meint beurteilen zu können, was ich wissen muss und was nicht. »Ich soll also einfach hinter dir hermarschieren, ja? Als wäre ich ein Schaf oder sowas? Oder eine Hündin?«

»Nein, das meine ich nicht.« Adrians Ruhe ist wie immer unerschütterlich. »Ich meine damit, dass ich es selbst noch nicht genau weiß. Ich warte auf Meldung von ein paar meiner Leute. So lange gehen wir ostwärts. Dann sehen wir weiter.«

Ich traue mich nicht, ihn anzuschauen. Was ist nur in mich gefahren? Ich weiß doch ganz genau, dass Adrian nicht so ist wie die anderen Erwachsenen. Er hat mich immer ernst genommen und hat nie mein Alter vorgeschoben, um mir etwas nicht erklären oder zeigen zu müssen. In letzter Zeit fahre ich andauernd wegen Kleinigkeiten aus der Haut. Ich will das ja gar nicht, aber irgendwie passiert es.

»Tut mir leid«, sage ich leise. Der Anführer antwortet nicht, aber ich weiß, dass er mir nicht böse ist. Das ist er nie, er schimpft auch nicht so viel mit mir wie Mama. Ich schäme mich, dieser Vergleich ist nicht gerecht: Mama lebt mit mir zusammen, während ich damals nur wenige Tage bei Adrian und den anderen war. Adrian und ich haben einfach noch nicht so viel Zeit miteinander verbracht, dass er einen Anlass zum Schimpfen gehabt hätte. Trotzdem glaube ich, dass er als Vater viel gelassener wäre als Mama. Geduldiger vor allem. Bei Mama muss immer alles sofort gemacht werden. Sie kann jeden noch so kleinen Fehler auf zehn Kilometer Abstand erkennen und nimmt kein Blatt vor den Mund. Adrian dagegen macht kein großes Gewese um kleine Dinge. Wie meine Bitte um Entschuldigung eben: Es ist nicht so, dass er sie übergangen hätte, im Gegenteil. Er hat sie angenommen und damit war die Sache für ihn erledigt, einfach so. Er ist nachsichtiger als Mama, aber nicht weniger streng. Mama versteht mich, aber Adrian scheint in jeden Menschen hineinschauen zu können. Und wo Mama lospreschen würde, umgeht er eine Gefahr lieber. Vielleicht ist er deswegen so ein guter Anführer. Das war Mama als Zweite der Ostgarde ja auch einmal, aber irgendwie kann ich mir sie nur als Einzelkämpferin vorstellen.

Der Gedanke an Mama macht mich traurig. Ich versuche mich mit der Umgebung abzulenken. Doch der Wald, durch den wir gehen, ist einfach nur ein Wald. Als ich vor ungefähr dreieinhalb Jahren mit meinem Vater und Ada von zu Hause losgezogen bin, hat mich das alles noch fasziniert. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an all den neuen Bildern – und war gleichzeitig beglückt, wenn ich unter den Bäumen und Pflanzen Vertrautes entdeckt habe. Papa hat mich zuhause oft mit in den Wald genommen. Wie sehr er den Wald geliebt hat!

Liebt, wie sehr er den Wald liebt, schelte ich mich. Papa ist noch am Leben, das weiß ich ganz genau! Welchen Sinn hätte das hier sonst? Ich werde ihn finden und dann werden wir wieder gemeinsam in den Wald gehen. Plötzlich schäme ich mich, dass ich mir vorhin Adrian als Vater vorgestellt habe. Überhaupt, dass ich mir gewünscht habe, dass er und Mama wieder zusammenkommen. Es stimmt ja, was Corey gesagt hat: Obwohl ich absolut nichts gegen Linda habe, hatte ich immer gehofft, dass Adrian eines Tages bei uns leben würde. Oder wir bei ihm. Dabei habe ich einen Vater! Was ist nur mit mir los? Papa war immer gut zu mir und ich liebe ihn, also warum kommen mir solche Gedanken? Schuld fällt wie ein hässlicher Klumpen Dreck auf mein Herz. Mir ist, als hätte ich Papa verraten. Ich lasse mich zurückfallen und gehe den Rest des Tages schweigend und allein.

Wir sind bereits an die zweihundert Kilometer von zu Hause weg, als ich zum ersten Mal versuchen soll, Magie anzuwenden. Noch immer fühlt es sich falsch und unbehaglich an, die Kraft aus dem Stein zu ziehen, als würde ich nasse Strümpfe anziehen, aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich kann es kaum erwarten, es mit der Magie zu versuchen!

»Ein kleines Feuer im Trockenen machen kann fast jede«, sagt Désirée und rümpft die Nase. »Da gehört kein großes Talent zu. Ein Funken Licht, ein winziger Windhauch, ein hauchfeiner Tropfen Wasser, all das ist nichts Besonderes. Für eine Frau.« Ihre Augen lachen, als sie mich ansieht. »Für einen Jungen dagegen wäre das eine unfassbare Leistung. Auch wenn es natürlich sein kann, dass ich mich irre, denke ich, dass du, Kolja, der erste Junge wärst, der Magie ausübt. Göttin, wenn wir das schaffen würden, könnte das alles verändern!«

»Du willst mich vorführen wie eine dressierte Hündin!«, werfe ich der Rebellin vor, aber sie lacht nur. Dann wird ihre Miene wieder ernst.

»Bevor wir auch nur ansatzweise ernsthaft darüber diskutieren, ob das, was du vorhast, machbar ist oder nicht, musst du beweisen, dass du all das schaffst, was auch die schwächste Frau hinbekommt. Es gibt Dinge, die für eine Frau mit Magie so selbstverständlich sind, dass sie dir in Fleisch und Blut übergehen müssen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Mama hat gesagt, wenn mal was nicht klappt, soll ich mir keine Sorgen machen und wenn mir eine blöd kommt, sagen, dass ich eben noch nicht lange über Magie verfüge.«

»Deine Mutter hat natürlich recht. Es gibt aber auch Sachen, die du als Frau ganz von allein machst. Eben ohne darüber nachzudenken.«

»Und was alles?«

»Die Sprache zum Beispiel.«

»Du meinst, welche Sprache ich spreche oder wie? Ja, das hat mir Mama schon erklärt.«

»Nicht nur«, erwidert Désirée. »Es geht auch darum, dass du jede verstehst. Die Göttin mag wissen, wieso, aber jede, die über Magie verfügt, versteht jede bekannte Sprache dieser Welt.«

Damit habe ich auch schon unliebsame Bekanntschaft machen müssen. Nicht selten haben sich Frauen in unserem Dorf, wenn Mama und ich dazukamen, in einer anderen Sprache unterhalten, sodass wir außen vor blieben. Laut Mama ist so etwas weder an Unverschämtheit noch an Effizienz zu überbieten.

»Das bedeutet also, dass ich immer jeden verstehen kann?«

»Können musst, Kolja! Außer natürlich, du gibst vor, deine magiefreien Tage zu haben. Während der Woche deiner Magieerneuerung darfst du dann natürlich nur Deutsch und Slawisch verstehen.«

Ich nicke. »Ich habe mir schon zusammen mit Mama eine Geschichte ausgedacht, die meinen Akzent erklärt.«

»Sehr gut. Nur, dass du die überwiegende Zeit eben keinen Akzent hast, sondern nur …«

»Während meiner angeblich magiefreien Zeit, stimmt’s?«

»Genau! Hast du dir schon einen Frauenkalender gemacht?«

Ich räuspere mich. Es ist mir unfassbar peinlich, mich mit Désirée über solche Themen zu unterhalten, aber das gehört nun mal dazu. »Ja, habe ich. Ich habe auch schon markiert, wann ich angeblich … Also wann …«

»Du deine magieerneuernden Tage hast?«, hilft die Rebellin mit einem Grinsen aus.

»Ja.«

»Gut. Aber denk daran, dass keine Frau mit einem Funken Verstand ihrer Außenwelt mitteilt, wann sie ihre Tage hat! Schließlich ist sie während dieser Zeit so schwach wie ein Mann.«

Das ist doch vollkommen unlogisch! »Wie soll sie das denn verstecken?«, frage ich daher. »Jede kann doch sehen, ob eine Frau zum Beispiel mit Zunderzeug oder Magie Feuer macht!?«

Die Rebellin schüttelt den Kopf. »Wenn sie sich so blöd anstellt, ja, dann hast du recht. Die meisten Frauen würden es aber einfach vermeiden, während ihrer Tage Feuer machen zu müssen. Du bist doch ein kluger Junge. Ich bin mir sicher, dir fallen noch mehr Methoden ein, wie eine nach außen hin verschleiern kann, dass sie gerade magielos ist.«

Ich liebe Denkaufgaben! »Nun, ich könnte vielleicht eine andere Frau darum bitten, etwas zu tun. So, dass es keine sieht natürlich.«

Die Rebellin nickt. »Sehr gut. Viele Frauen sprechen sich mit einer engen Freundin ab und beschützen sich gegenseitig.«

Mein Gesicht wird heiß, und ich schaue nach oben. »Haben Frauen denn nie … nun … also gleichzeitig …?«

Désirée lacht. »Doch, auch das kommt vor, ist aber eher selten. Darüber musst du dir also keine Gedanken machen. Merk dir einfach, dass auch du jeden Monat eine Woche lang Magielosigkeit vortäuschen musst. Und, dass es der größte Vertrauensbeweis ist, einer anderen zu sagen, wann diese Tage sind.«

So ganz verstehe ich das immer noch nicht. »Jede Frau ist einmal im Monat für eine ganze Woche magielos. Das bekommt doch jede mit? Die, mit denen die Frau zusammenlebt oder zusammenarbeitet oder so?«

»Natürlich. Aber keine spricht darüber.«

»Ist es denn überhaupt wichtig?«

Die Rebellin legt den Kopf schief und runzelt die Stirn. »Das kommt immer darauf an. Manche Frauen mögen es nicht, wenn ihre Männer wissen, wann sie magielos sind. In dieser Zeit gereicht den Männern ihr muskulöserer Körper zum Vorteil. Der Göttin sei Dank ist es lange her, über fünfzehn Jahre, dass sich gewalttätige Männer diesen Vorteil zunutze gemacht haben. Angriffe von Männern auf Frauen sind seltene Ausnahmen. Ganz anders sieht es bei Frauen untereinander aus. Zu wissen, wann eine Feindin schutzlos ist, ist eine mächtige Waffe. Wie du weißt, richten sich viele Stellungen und Ämter danach, wer am stärksten ist. Es gilt zwar als … sagen wir unfein, eine magielose Frau anzugreifen, aber es kommt immer wieder vor. Deshalb gibt es in größeren Städten auch Refugien.«

»Was ist denn ein Refugien?«

»Refugium in der Einzahl! Das ist eine Art Rückzugsort, an den sich mächtige Frauen während ihrer magieerneuernden Zeit zurückziehen. Dort sind sie sicher vor Feindinnen, werden von den Angestelltinnen beschützt.«

Ich bin fasziniert. »Und da kann jede hingehen?«

Désirée lacht. »Jede mit dem nötigen Kleingeld.«

»Und was machen die Frauen, bei denen es kein Refugium gibt? Bei uns habe ich noch keins gesehen.«

»Die meisten Dorfoberen, die ich kenne, machen eben ein Geheimnis daraus, wann sie magielos sind. Es ist schon auf absurde Weise komisch, aber aus genau diesem Grund halten sich vor allem die mächtigen Frauen oft mit ihrer Magie zurück. Damit keine weiß, wann sie schutzlos sind. Und jetzt los, Kolja, versuch einmal Feuer zu machen. Erst mal nur mit einer Hand.«

Ich schaue auf meine Hände. Die Erkenntnis, dass sich darin jetzt Magie verbirgt, ist zu ungeheuerlich, um es zu begreifen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich es versuchen muss. Wahrscheinlich ist der Rebellin klar, dass ich mit all meinen Fragen nur versucht habe, Zeit zu gewinnen. Das Unvermeidbare herauszuzögern. Aber jetzt ist es so weit. Ich rufe mir nochmal alles in Erinnerung, was mir Désirée gesagt hat. Denke an die gekochten und die ungekochten Eier. An Feuer. Nichts passiert.

Ich schließe die Augen und atme tief durch. Mama hat mir einmal erzählt, wie die Erweckung ihrer Magie abgelaufen war, denn sie und Oma Rina waren sich einig, dass es bei mir im Grunde nicht anders sein würde, sobald ich es geschafft hätte, Magie in mich hineinzuziehen. Mama war bereits sechzehn Jahre alt, als die Magie in ihr erwachte. Das ist wohl ziemlich spät, und sie war deswegen oft geärgert worden. Als ihre Magie dann geweckt wurde, konnte sie nicht besonders viel, die Leute waren enttäuscht, weil sie von Oma Rinas Tochter sehr viel mehr erwartet hatten. Oma muss in ihren Frauenjahren wirklich sehr mächtig gewesen sein, sie war sogar in die Hauptstadt berufen worden und hatte dort direkt für die Silberne Frau, die nur eine Stufe unter der Goldenen Frau steht, gearbeitet! Aber Mamas Magie schien schwach zu sein. Bis zu dem Tag, an dem ihrer besten Freundin etwas Schreckliches zugestoßen war. Mama sagt immer, dass die Liebe zu mir sie gerettet hat, aber dass ihr erst der Hass damals die nötige Kraft gegeben hat, ihre Magie richtig zu erwecken. Noch heute erscheint mir Mama jedes Mal größer und stärker, wenn sie wütend ist. Die Leute sagen immer, ich sei wie sie. Vielleicht muss ich also auch nur wütend werden?

Ich denke an Ada. Daran, wie sie Papa und mich all die Jahre behandelt hat. Wie sie uns ohne mit der Wimper zu zucken zurückgelassen hat. Doch es klappt nicht, ich spüre nicht den geringsten Funken Zorn. Stattdessen habe ich das Gefühl, in meiner Brust sei ein tiefes schwarzes Loch, ein Nichts, das mich in sich selbst hineinzuziehen droht. Meine Augen brennen. Ich schlucke. Verflixt, ich wollte doch wütend werden!

So wird das nichts. Désirée mustert mich, die Stirn in Falten gelegt.

»Alles in Ordnung?«

»Ich weiß nicht. Es klappt irgendwie nicht.«

»Konzerntrier dich und denk an Feuer!«

»Was mache ich denn die ganze Zeit?« Noch während ich die Frau anblaffe, tut es mir leid. »Bitte entschuldige. Ich wollte mich nicht so schlecht benehmen.«

Désirée winkt ab. »Schon gut. Du stehst vor einer gewaltigen Aufgabe, das ist jedem klar. Lass dich nicht aus der Ruhe bringen – auch nicht von dir selbst!«

Ich muss mich unbedingt besser unter Kontrolle halten! Erneut konzentriere ich mich, starre abwechselnd auf meine Handflächen.

»Nur eine Hand!«, ermahnt mich Désirée.

Dann also nochmal.

Wir üben den ganzen Vormittag. Während ich krampfhaft versuche, in meiner Hand Feuer entstehen zu lassen, erzählt mir Désirée mehr über die Magie. Es gibt so viele unterschiedliche Arten, dass es unmöglich scheint, sie alle aufzuzählen. Ebenso, wie jeder Mensch ein anderes Muster auf seinen Fingerkuppen hat, ist das Magiemuster bei jeder Frau ein bisschen anders. Grob gesagt lässt sich Magie in äußerlich und innerlich anwendbar oder in verschiedene Gruppen wie Metall, Stoffe, Tiere, Elemente oder Pflanzen unterteilen. Hinzu kommen zig Unterarten wilder Magie, die nur schwer beschrieben werden können. Das Ganze kommt mir sehr abstrus und schwammig vor, was ich der Rebellin auch sage. Die lacht.

»Die Göttin, lieber Kolja, hat uns alle mit unterschiedlichen Talenten gesegnet. Das ist dir doch klar, oder?«

Ich weiß, dass es nichts gibt, was ich besonders gut kann. Papa hat die Gabe, mit der Natur eins zu werden, vor allem im Wald. Und Juri, mein bester Freund damals, konnte richtig gut schnitzen. Mein Opa ist ein sehr kluger Geschäftsmann und Politiker: Er kann so gut reden, er könnte einem im Wald ein Stück Holz verkaufen! Auch Ada versteht sich gut darauf, Leute zu bequatschen. Sonst hätte sie Papa ja kaum dazu bringen können, alles zurückzulassen, Oma, Opa, seine und meine Freunde, meine Zukunft, und uns in dieses verdammte Land zu bringen!

Selbst in meinen Ohren klinge ich mürrisch, als ich sage: »Nicht jede taugt zu irgendwas. Schau mich doch an! Ich habe kein Talent, für gar nichts.«

Die Rebellin zieht scharf die Luft ein. »Denkst du das, ja? Hat dir deine Mutter das erzählt?«

»Helena?«

»Nein, ich meine die andere.« Désirée schaut zur Seite. »Bitte entschuldige, das war nicht fair.«

Ich schüttele den Kopf. »Schon gut. Und ja, das hat sie immer zu mir gesagt. Dass ich zu nichts tauge.«

»Und dein Vater?«

»Der hat immer versucht, mir was beizubringen. Wie Menschen im Wald überleben können zum Beispiel.«

»Und, kannst du?«

Ich denke an die erste Nacht, die Mama und ich damals nach unserer Flucht im Wald verbracht haben. Wir hatten Hunger, also war ich losgegangen und hatte uns etwas zu essen besorgt. Ich hatte nicht gewusst, ob wir ein Feuer machen könnten, daher hatte ich nach Champignons Ausschau gehalten. Von Papa hatte ich nämlich gelernt, dass die als einzige Pilze auch roh essbar sind. Ich erkenne viele Kräuter, essbare Beeren und Blüten und wildes Gemüse, aber im Winter wäre ich sicher hoffnungslos verloren. Daher zucke ich mit den Schultern. »Vielleicht ein bisschen.«

Désirée lacht.

»Wie geht denn ›ein bisschen überleben‹? Ein, zwei Stündchen und dann fällst du tot um oder was?«

Ich lache mit.

Es ist schön, einfach mal albern sein zu können. Dann wird die Rebellin wieder ernst.

»Hör mir zu, Junge, das hier ist wichtig! Ich bin weder deine Mutter noch Helena, das ist mir schon klar. Aber ich bin deine Lehrerin und hier und jetzt sage ich dir, dass du sehr wohl zu etwas Talent hast.«

»Ja? Zu was denn?«

»Ich fasse es nicht. Sieh dich doch an, Kolja!«

Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?

»Du bist ein Junge, richtig?«

»Ja und?« Was kommt denn jetzt?

»Ist dir eigentlich klar, was du jetzt gerade in diesem Moment tust?«

»Na ja«, ich schaue wieder auf meine Hände. »Ich versuche Feuer zu machen, aber es klappt nicht.«

»Ich versuche Feuer zu machen, aber es klappt nicht«, äfft mich die Rebellin nach. »Und ich kann ein bisschen im Wald überleben.«

Was soll das denn jetzt? Mir schießen dumme Tränen in die Augen. Ich dachte, Désirée würde mich mögen und jetzt macht sie sich über mich lustig? Was habe ich denn falsch gemacht?

Die Rebellin schaut mich zornig an. »Hör endlich auf damit, dich andauernd schlecht zu machen!«

»Aber ich …«

Sie zeigt auf meine Hände. »Kein Aber! Ist dir eigentlich klar, was du schon geschafft hast? Du hast Magie aus einem Gegenstand in dich hineingezogen, Kolja, Magie! Ist dir bewusst, dass du wahrscheinlich der erste Mann im gesamten Goldenen Reich, ach was, wahrscheinlich auf der ganzen Welt bist, der das geschafft hat?«

Ich weiß nicht, was daran so toll sein soll. So lange ich es nicht schaffe, die Magie auch anzuwenden, sind alle Versuche nichts wert.

»Und vergiss nicht deinen Mut, Kolja! Ist dir je in den Sinn gekommen, wie unfassbar mutig du bist? Das, was du vorhast … Bei den Sieben Finsterhexen, nicht mal ich hätte mich auf sowas eingelassen! Ganz allein, noch dazu als Junge. Aber du? Du machst es einfach. Und das ist verdammt nochmal bewundernswert!«

»Ich bin nicht bewundernswert, gar nichts an mir«, schreie ich. »Ich bin dumm und nutzlos und hier in eurem beschissenen Hexenland erst recht nichts wert! Alles, was ich will, ist wieder bei meinem Papa zu sein, hörst du? Ganz genau, der kleine Kolja will zu seinem Papa! Und am allerliebsten wäre ich mit meinem Papa wieder zuhause bei meiner Mama, das ist alles, was ich will! So tapfer bin ich, dass ich mich von meinen Eltern beschützen lassen will. So tapfer ist der kleine, dumme Kolja, dass er nach seinem Papa und seiner Mama weint!«

Ich merke erst, dass ich die Hände zu Fäusten geballt habe, als ich den Kopf senke. Was ich gesagt habe, ist die Wahrheit. Was habe ich mir nur dabei gedacht, Magie anwenden zu wollen? Ich werde es niemals schaffen.

Etwas Hauchfeines legt sich wie ein Schleier um mich, berührt mich wie tausende winzige Stupser. Désirée.

Ihr Lächeln ist so sanft wie ihre Stimme. »Du bist ein sehr, sehr tapferer Junge, Kolja, ob du es glaubst oder nicht. Denk mal an Helena. Hast du dich nie gefragt, warum sie dich überhaupt hat gehen lassen? Sie liebt dich abgöttinisch, also wieso hat sie es wohl zugelassen, dass du dich auf eine so schwierige und gefährliche Mission begibst?«

Ich schaue ratlos zu Boden. »Weil …«

»Weil sie an dich glaubt! Helena von Smaleberg ist keine Närrin, Kolja! Hätte sie nur den geringsten Zweifel daran, dass du es schaffen kannst, hätte sie dich zu Hause behalten.«

Auch wenn ich mich dagegen wehre, erreichen mich die Worte der Rebellin und lösen etwas in mir, von dem ich bislang nicht wusste, dass es verknotet war. Alles, was sie sagt, ergibt Sinn. Mama hätte mich nie gehen lassen, wenn sie denken würde, dass ich es nicht schaffe. Sie glaubt an mich. Obwohl ich ein Junge bin, obwohl ich ich bin. Wärme breitet sich in mir aus, die nichts mit der Hitze einer Wut zu tun hat. Ein Bild erscheint in mir: Mama macht Feuer im Kamin, und wir spielen auf dem Fußboden davor Schafskrieg. Plötzlich ist alles einfach, und das Feuer in meiner rechten Hand lodert hell und stark.

Hexenherz. Glühender Hass

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