Читать книгу Hexenherz. Glühender Hass - Monika Loerchner - Страница 19
Goldenes Reich Kapitel 4
Оглавление»Was ist mit Intelligenz?«, frage ich und grinse. Ich liebe es, mit Mama zu diskutieren! »Sind denn Frauen schlauer als Männer? Und was ist mit Fräulein? Oder Großmü-« Ich beiße mir auf die Zunge. Zum Glück übergeht Mama diese gefährliche Stelle einfach.
»Nicht unbedingt. Aber … Ach Kolja, es ist eben so, wie es ist. Willst du darüber streiten, ob das Schaf klüger ist als die Wölfin oder die Gans? Sie müssen aufmerksamer und schneller sein als das Wölfinnenrudel, nur darauf kommt es an. Natürlich ist die Wölfin stärker, und dennoch gibt es jeden Winter Wölfinnen, die verhungern. Aber soll sich deshalb eine Wölfin zu den Schafen in den Stall sperren lassen?«
Ich mag Wölfinnen, aber nicht den Vergleich. »Wölfinnen leben und jagen im Rudel. Sie lassen die ihren nicht zurück.«
»Da hast du recht.«
Mein Hals fühlt sich wieder eng an. »Ada war nie besonders mütterlich, weißt du? Nicht so wie andere Mütter, die den ganzen Tag mit ihren Kindern gespielt und Plätzchen gebacken haben.«
Mama schnaubt. Schon klar: Im Goldenen Reich ist das Männersache. »Sie war ja immer … sie war meistens gut zu mir. Aber anders als Papa. Als wäre ich nichts weiter als eine Aufgabe, die es zu erledigen galt. Sie hat mich fast nie in den Arm genommen. Nur zu ganz besonderen Gelegenheiten. Manchmal eben.«
Mamas Griff wird fester.
»Sie hat mich auch nicht oft gelobt, nur bei ganz besonderen Leistungen. Einmal habe ich im Wald ein Hirschkalb gefunden, das sich ein Bein gebrochen hatte. Ich habe es getötet und nach Hause geschleppt. Das ist das letzte Mal, dass ich mich daran erinnern kann, dass mich Ada umarmt und geküsst hat. Ich muss acht oder neun gewesen sein. Überhaupt war nie etwas, das ich tat, gut genug für sie. Immer wenn ich etwas Neues gelernt hatte, meinte sie nur, das wäre weniger mein, als ihr oder Papas Verdienst, schließlich hätten sie mir alles beigebracht. Und wenn ich mir ganz allein etwas beigebracht habe, sagte sie, ich hätte nur getan, was die Natur für uns Menschen vorgesehen hat, da wäre doch nichts Besonderes dran.«
»Und dein Vater?«
»Der hat mich umso mehr gelobt.« Warum lache ich, wenn ich nicht fröhlich bin? »Aber das war mir nichts wert. Verstehst du das? Mein Vater hat mich immer in den Arm genommen, mich für die kleinsten Kleinigkeiten gelobt, mir immer wieder gesagt, wie stolz er auf mich ist. Anfangs war mir das genug, aber als ich älter wurde und immer mehr merkte, dass Ada schwieg, da … Irgendwann war mir das nichts mehr wert. Wenn Papa mich in den Arm nehmen wollte, habe ich mich herausgewunden. Wenn er nach der Arbeit nach Hause kam und etwas mit mir unternehmen wollte, habe ich lieber etwas im Haushalt geholfen. Immer in der Hoffnung, dass meine … dass Ada mich lobt. Oder überhaupt wahrnimmt. Aua!«
»Oh, entschuldige!«
Sofort lässt Mama meine Hand wieder lockerer. Ich drehe mich auf die Seite. Durch das Fenster fällt neben dem Licht des Drahtes auch das der Mondin. Ich sehe Kummer in Mamas Augen, aber auch Stolz. Ob ich es jetzt endlich wagen kann? Aber wenn nicht jetzt, wann dann? Morgen ist es zu spät. Ich hole tief Luft.
»Sag mal, wie ist es eigentlich, Magie zu haben?«
Wieder dieses leichte Zusammenzucken, das mir das Herz schwer werden lässt.
»Es ist wie …«
Mama ringt nach Worten. Linda ächzt leise im Schlaf und dreht sich auf die andere Seite. Ein Wunder, dass sie nicht schon längst aufgewacht ist. Ich weiß, dass sie aus einer für das Goldene Reich außergewöhnlich kinderreichen Familie kommt. Vielleicht stört sie deswegen unser Gemurmel nicht.
»Es ist, als wäre einem ein neues Körperteil gewachsen«, antwortet Mama schließlich. »Kein Arm oder so, etwas im Inneren. Mit dem du Sachen machen kannst, die du vorher eben nicht gekonnt hast.«
Ich flehe zur Göttin, dass Mama das jetzt nicht mit Brüsten vergleicht.
»Das ist vielleicht ein bisschen so, als wärest du von Geburt an blind gewesen und könntest jetzt sehen«, sinniert sie weiter. Glück gehabt. »Oder als wärst gelähmt gewesen und könntest plötzlich gehen. Oder halt, warte: Weißt du wie das ist, über einer Erkältung den Geschmackssinn verloren haben? Und dann plötzlich mit einem Mal wieder schmecken zu können?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Wenn ich krank bin, will ich eigentlich nie was essen. Also kümmert es mich auch nicht, wenn die Suppe, die du mir dann machst, nach nichts schmeckt.«
»Stimmt.« In Mamas Stimme liegt Zärtlichkeit und ich muss daran denken, wie oft sie schon an meinem Bett gesessen und mir Suppe, Tee und Arznei eingeflößt hat. Wenn ich früher krank war, bestand Adas größte Sorge immer darin, dass ich zu lange auf der faulen Haut liegen könnte. Eine Frage, die mir auf der Seele liegt, seit ich denken kann, bahnt sich ihren Weg empor: »Denkst du, sie hätte mich mehr geliebt, wenn ich ein Mädchen wäre?«
»Ich weiß es nicht.« Mamas Ehrlichkeit wird nie ins Schwanken geraten! »Aber es spielt auch keine Rolle, Mojserce. Du bist, was und wer du bist. Und genau so hätte sie dich lieben sollen.«
Ich ziehe meine Hand weg und verschränke die Arme. Ich will nicht weinen. Tief in mir drin weiß ich, dass es meine Schuld ist. Irgendwie. Dass ich zu faul, zu dumm, zu irgendwas bin. Ich meine, wenn einen nicht mal die eigene Mutter liebt … dann muss ich doch etwas ganz gehörig falsch gemacht haben, irgendwie verkehrt sein, oder –
»Kolja!« Mamas Stimme durchdringt meine finsteren Gedanken. Sie greift wieder nach mir, und die warme Stärke ihrer Hand gibt mir Halt. »Erinnerst du dich noch an Frau Enzians Hündin?«
»Oh ja!« Wie könnte ich nicht? Wochenlang haben wir uns angehört, wie die junge Sennenhündin in ihrem Verschlag vor Kummer und Einsamkeit Stunde um Stunde gejault hat. Viele, auch wir, haben Frau Enzian offen darauf angesprochen und heimlich nachts die Hündin mit Wasser, Fleisch und Streicheleinheiten versorgt. Die Enzian hatte kein Einsehen. Als Oma Rina dann sah, wie sie die Hündin sogar schlug, klagte sie die Enzian offiziell bei der Stadtoberen an. Die Hündin wurde ihr weggenommen und einem großherzigen Mann namens Günter, der weithin für seine Tierliebe bekannt war, anvertraut. Doch anstatt glücklich zu sein, büxte die Hündin wieder aus und lief zurück zum Haus ihrer ersten Herrin. Harrte dort stundenlang vor der Tür aus und wedelte vor Freude mit dem Schwanz, wenn Frau Enzian nach Hause kam. Ich erinnere mich noch, wie abfällig ich damals über die Hündin und ihre Dummheit gedacht hatte. Doch nun …
»Du denkst, ich bin wie Senta? Genauso dumm, genauso dämlich und blind und …«
»Schhhhh!« Mama streicht mir über die Wange. »Du bist nicht dumm, Mojserce, glaub niemals, dass ich so über dich denke! Was ich dir damit sagen will, ist, dass wir manchmal lieben, wen wir lieben, auch wenn derjenige unsere Liebe nicht verdient hat. Dass wir manchmal Gefangene unseres eigenen Gefallenwollens sind. Diese Lehre kannst du aus der Geschichte ziehen.«
»Was ist eigentlich aus ihr geworden?«
»Aus Senta?« Mama schaut aus dem Fenster und seufzt. »Ist gestorben, irgendwann. An gebrochenem Herzen, meinte Günter. Ich weiß es nicht, möglich wäre es.«
»Dass Hündinnen an gebrochenem Herzen sterben?« Ich kichere. »Das habe ich ja noch nie gehört!«
»Dann halt die Klappe, wenn du keine Ahnung hast«, zischt Mama, lässt meine Hand los und richtet sich auf. »Rede nicht so einen Stuss daher, wenn du es nicht besser weißt! Mach gefälligst die Augen auf, wenn du der Schöpfung der Göttin begegnest! Hast du schon einmal eine Hündin im Schlaf beobachtet? Sie träumen, genau wie wir. Ein Wesen, das träumen kann, das solch eine Freude empfinden kann und so treu ist wie kaum ein Mensch – glaubst du wirklich, dass so ein Geschöpf keine Seele hat?«
Den Rüffel habe ich verdient. Wenigstens heule ich jetzt nicht mehr. Ich setze mich auf und lehne meinen Kopf an Mamas Schulter.
»Tut mir leid, du hast ja recht.«
»Das habe ich meistens.« Ich sehe ihr Schmunzeln im Schein der Mondin.
»Du denkst also, ich wäre eine Hündin?«
Mama geht nicht auf meinen scherzhaften Ton ein.
»Manche Menschen, Kolja, sind das tatsächlich. Eines darfst du nie vergessen: Du bist ein Mensch und du allein entscheidest, ob du dich zu eines Menschen Hund machen lässt!«
Wieder wird meine Kehle eng.
»Wie konnte sie mich einfach so zurücklassen, Mama? Sie ist doch meine Mutter? Sie muss mich doch lieb haben! Warum hat sie mich nicht lieb?«
»Ich weiß es nicht, Mojserce.«
»Ich werde dich so vermissen, Mama!«
»Ich dich auch!«
»Ich wünschte, alles wäre anders.«
»Schhhh, mein Junge, ich weiß.«
Mama hält mich, bis keine Tränen mehr kommen.
Am nächsten Morgen breche ich auf.
Es fällt mir schwer, Adrian in die Augen zu schauen. Er weiß, dass er mich sehr verletzt hat. Ebenso wie ich auf eine gewisse Art weiß, dass er nichts falsch gemacht hat. Trotzdem bin ich so wütend auf ihn, dass mich, sobald ich ihn länger ansehe, der Wunsch überkommt, ihn zu schlagen. Stattdessen balle ich nur meine Hände hinter dem Rücken zu Fäusten. Sowohl er als auch Marzena tun so, als wäre alles in Ordnung. Bitte sehr, dieses Spiel kann ich genauso spielen!
Wäre Mama hier, würde sie mir sicher einen Watschen geben. Ich sollte lieber zuhören und ganz genau aufpassen, was mir Simone und Marzena über die Magie erzählen. Dazu hat sich eine sympathische blonde Rebellin gesellt, die sich als Désirée vorgestellt hat. Mit ihr werde ich trainieren.
»Warum nicht mit euch?«, frage ich Simone und Marzena. Und ergänze schnell in Richtung Désirée: »Entschuldigen Sie bitte, das war nicht böse gemeint! Es ist nur so, dass ich die anderen beiden schon kenne und sie ja auch Freundinnen meiner Mutter sind.«
»Schon gut, ich bin dir nicht böse!« Die Rebellin zuckt mit den Schultern. »Es ist besser, wenn eine mit dir übt, die über eine entsprechende Magie verfügt.«
»Wieso das denn? Wäre es nicht im Gegenteil logischer, wenn mir das eine beibringen würde, die weiß wie es ist, Magie aus einem Gegenstand zu ziehen, so wie Marzena? Oder eine, die selbst erst vor nicht allzu langer Zeit erweckt worden ist, so wie Simone?«
»Das weiß Dési auch!«, wirft Simone ein. »Sie hat das natürlich auch schon oft gemacht.«
Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Von Mama habe ich gelernt alles zu hinterfragen, was mir nicht sauber vorkommt.
»Da ist doch noch etwas, oder?«
Adrian seufzt leise, aber bevor er etwas sagen kann, meldet sich Désirée zu Wort. »Ja, du hast recht, da ist noch etwas. Ich halte es nur für gerecht, es dir zu sagen. Meine Magie ist nicht besonders stark, wenn es um schnelle Angriffe geht, aber in der Abwehr unschlagbar. In der inneren Abwehr. Du verstehst?«
Ich überlege. »Meinen Sie Heilmagie?«
»Nicht ganz, leider. Aber meine Magie ist wie Nebel, der selbst die kleinsten Ritzen durchdringen kann. Ich komme überall hinein.«
Die letzten Worte hat die Frau mit sichtlichem Stolz gesprochen. Zu was Nebelmagie gut sein mag? Kaum habe ich die Frage laut ausgesprochen, zucke ich zusammen. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass ich nicht nachdenke, bevor ich rede. Hoffentlich ist sie mir nicht böse wegen meiner Taktlosigkeit!
Aber Désirée grinst.
»Wie gesagt: Ich komme überall hinein! Das mag sich erst einmal harmlos anhören, aber um an Informationen zu gelangen gibt es keine bessere Magie. Ich könnte dir«, sie zeigt auf eines der Zelte, »ganz genau sagen, was sich alles darin befindet, bis zum kleinsten Gegenstand.«
»So lange er nicht in einer Kiste oder sonst wo drin ist«, frotzelt Marzena, doch die blonde Rebellin zuckt nur mit den Schultern. »Auch da käme ich rein, kein Problem.«
»Können Sie damit auch Menschen umbringen?«
Désirée hebt die Augenbrauen. »Mit dichtem Nebel? Was denkst du denn?«
Stimmt, das war eine blöde Frage von mir.
»Viel wichtiger aber ist, Kolja, dass ich dich damit auch beschützen kann! Deswegen werde ich dein Training übernehmen. Damit ich dich, falls etwas schiefläuft, in deinem Inneren von der fremden Magie, die du aufgenommen hast, abschirmen kann.«
Darüber muss ich nachdenken. »Sie meinen, so wie Rauch Fliegen vertreibt oder Pferde scheu macht?«
Sie lacht. »Also erst mal ist jetzt bitte Schluss mit dem Rumgesieze. Wir duzen uns hier alle, immerhin kämpfen wir für dieselbe Sache. Nun zu deiner Frage: Nein. Es ist eher so, wie feuchte Luft bei Asthma hilft oder der Rauch bestimmter Kräuter Bienen beruhigt.«
Das leuchtet mir ein. Sowohl mein Großvater als auch unser Nachbar damals hatten gegen hartnäckigen Husten zu feuchten Tüchern gegriffen. Dass der Mensch Bienen mit dem Verbrennen gewisser Kräuter davon abhalten kann, einen zu stechen, weiß bei uns jedes Kind. Immerhin sind es die jungen Leute, die vor der Honigernte die passenden Pflanzen zu suchen und zu pflücken haben. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie viele Sorgen ich mir insgeheim gemacht hatte, aber jetzt fühle ich mich erleichtert: Désirée wird gut auf mich aufpassen!
Nachdem ich meine wenigen Sachen in einem der Zelte untergebracht habe, werde ich dem Rest der Truppe vorgestellt. Es sind gerade mal sechzehn, aber laut Adrian sind viele unterwegs, um irgendwelche Aufgaben zu erledigen oder Botengänge zu machen. Adrians Gruppe hält festen Kontakt zu anderen Gruppen gleicher Gesinnung. Und zu einigen Dörfern. Vor zweieinhalb Jahren, als Mama noch im Dienst der Goldenen Frau stand, hatten Adrian und seine Leute über ein regelrechtes Netzwerk an sesshaften Unterstützern verfügt. Dank Mamas Verrat an der Nordgarde war ein großer Teil davon zerschlagen worden und es kostet Adrian viel Zeit und Mühe, es wieder aufzubauen.
Ich schaue mich im Lager um. Einmal mehr bin ich Papa und Mama dankbar, dass sie mich so gut auf das Leben vorbereitet haben: Ich kann kochen – wobei mir das nicht Mama, sondern Opa beigebracht hat, Mama hat es nicht so mit kochen – ein Zelt auf- und wieder abbauen und meine Kleidung flicken, kleine Tiere fangen und ausnehmen und weiß, welche Kräuter, Wurzeln, Pflanzen und Beeren des Waldes man essen kann. Feuer ohne Zündstock machen kann ich schon, seit ich fünf Jahre alt bin. Alles in allem denke ich, dass ich hier zurechtkommen werde. Es ist ja sowieso nicht für lange: Bereits in zwei Wochen soll ich mich dem jährlichen Zug jener, die einen Beruf in der Hauptstadt erlernen wollen, anschließen und nach Annaburg reisen. Laut Mama werde ich dort nicht auffallen, da viele dieser ehrgeizigen jungen Frauen direkt nach ihrer Erweckung aufbrechen und kaum eine erst noch eine Frauenschule besucht.
Adrian ist streng: Bevor mein Magietraining beginnen kann, muss ich erst lernen, auf welche Befehle hin ich was zu tun habe und wie ich bei drohender Gefahr binnen einer Minute fluchtbereit bin. Was ich nicht mitzunehmen brauche, obwohl es mir kostbar erscheint, und welche eher unscheinbaren Kleinigkeiten ich auf keinen Fall vergessen darf. Wie und vor allem wo ich die anderen wiederfinde. Wo ich auf dem Weg dahin Unterschlupf finde und wie ich überhaupt überlebe. Ich lerne die geheimen Zeichen, dank derer ich bei so ziemlich jeder Rebellin, gleich welcher Gruppe sie angehört, Hilfe erbitten kann. Die strengen Verhaltensregeln, die nötig sind, um ein Mindestmaß an Disziplin unter den Menschen aufrechtzuerhalten. Erst nachdem ich all das verinnerlicht habe, entlässt mich Adrian mit einem Kopfnicken und der Ermahnung, rechtzeitig zum Abendessen wieder im Lager zu sein.
Ich folge Désirée mindestens eine halbe Stunde lang durch den Wald. Erst dann ist sie zufrieden, und wir halten nach einer Lichtung Ausschau. Ich schlucke, und meine Hände werden feucht. Jetzt ist es also so weit: Ich werde tun, was nie zuvor ein Mann getan hat. Ich spreche den Gedanken laut aus.
Die blonde Rebellin lächelt. »Stimmt. Du kannst verdammt stolz auf dich sein!«
»Oder«, sage ich leise, »es haben doch schon welche versucht, nur dass sie dabei samt und sonders verreckt sind!«
»Na!« Désirée schnalzt unwillig mit der Zunge. »Was sind denn das für Ausdrücke?«
»Tut mir leid. Ich meine ja nur, dass vielleicht alle Männer, die das schon mal versucht haben, dabei gestorben sind und dass wir es deswegen nicht wissen.«
»Das glaubst du doch wohl selber nicht! Kolja, schau mich an!« Ich hebe vorsichtig den Kopf. »Ich werde auf dich aufpassen, schon vergessen? Und jetzt komm, wir fangen an!«
Bei der Lücke zwischen den Bäumen handelt es sich weniger um eine Lichtung, als um einen kleinen baumfreien Flecken, aber für uns genügt er. Ehrfürchtig betrachte ich den Gegenstand, den Désirée aus ihrer Tasche zieht. Es ist ein Stein von der Größe einer Kinderfaust. Er ist schwarzgrau und hat silbrige Schlieren. Sie hält ihn mir auffordernd hin. Zögernd strecke ich eine Hand aus und berühre den Stein mit meinem Zeigefinger. Irgendwie hatte ich erwartet, etwas zu spüren. Etwas Scharfes, Schmerzhaftes oder Mächtiges, aber zumindest irgendetwas. Doch da ist nichts. Ich zucke mit den Schultern. »Und jetzt?«
Désirée lacht. »So einfach ist das nun auch wieder nicht, du Held! Was dachtest du denn? Dass die Magie einfach so in dich hineinfließt und dich mit Macht erfüllt? Dass du plötzlich merkst, wie deine Stärke zunimmt oder du mit einem einzigen Fingerschnipsen Feuer entfachen kannst?«
So in etwa. »Weiß nicht.«
»Na dann, pass auf: Du musst das, was in dem Stein liegt, erfühlen, verstehst du?«
Ich hasse es, wenn ich unsicher bin und es dann auch noch zugeben muss. Aber etwas anderes bleibt mir kaum übrig, wenn ich lernen will. Diese Lektion hat mir Mama beigebracht.
»Es tut mir leid«, sage ich daher, »aber ich weiß nicht, wie du das meinst.«
»Mach die Augen zu und streck deine Hand aus.«
Ich tue, wie mir geheißen und spüre, wie mir die Rebellin den Stein in die Hand legt.
»Kennst du dieses Gefühl, zu erahnen, was in einem Ding ist?« Ihre Stimme ist jetzt ganz leise. »Denk daran, wie es sich anfühlt, ein rohes Ei in den Händen zu halten. Dann ein gekochtes Ei. Das eine fühlt sich schwerer an, obwohl es das nicht ist, hab ich recht? Wir denken nur, dass es schwerer ist, aber in Wirklichkeit fühlt es sich einfach nur fester an, nicht wahr?«
»Ja«, antworte ich ebenso leise.
»Gut. Dann stell dir jetzt vor, du solltest ganz ohne Vergleich herausfinden, fühlen, ob das Ei in deiner Hand roh oder gekocht ist.«
»Das ist unmöglich!«, sagt meine innere Stimme, aber von Mama habe ich gelernt, diesen Satz niemals auszusprechen, bevor ich etwas nicht ernsthaft versucht habe. Ich halte den Atem an, versuche, die Waldgeräusche um mich herum auszublenden und taste mit meinen Sinnen nach dem Stein. Nein, nicht nach dem Stein, nach dem Ei. Nein, so geht es auch nicht, der Stein ist viel zu schwer, um ein Ei zu sein.
Mir ist vollkommen klar, dass das nicht klappen wird. Nicht klappen kann: Ebenso wenig, wie ich ohne Bewegung feststellen kann, ob ein Ei gekocht ist oder nicht, kann ich zuverlässige Aussagen über diesen Stein treffen. Aber vielleicht geht es darum ja auch gar nicht, sondern um die Vorgehensweise. Um das wie auch immer geartete Tasten nach dem Inneren des Steins. Wieder denke ich an Désirées Beispiel mit dem Ei. Ja, es ist möglich. Auch wenn ich nicht weiß, wie. Oder ist es nur Einbildung? Im Dorf gibt es das sogar als Spiel: Jede nimmt sich aus einem Korb voller Eier, die mindestens zu einem Drittel ungekocht sind, eines heraus. Auf ein Kommando hin schlägt sich jede das Ei ihrer Wahl auf den Kopf. Wer Glück hat, kann dann sein Ei essen, wer Pech hat, ist voller Dotter. Die wenigen Male, die ich mitspielen durfte, habe ich mich ganz geschickt angestellt. Nur einmal lag ich daneben. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe – über Magie verfüge ich ganz sicher nicht – aber das spielt auch keine Rolle: Ich kann es und Punkt. Und genauso werde ich es hier schaffen!