Читать книгу Der Turm von Babel - Morris L. West - Страница 10
Auf See
ОглавлениеIdris Jarrah, der Terrorist mit den milden Augen, war ein Mann, der begriffen hatte, was gespielt wurde. Er wußte um die Zusammenhänge, um die persönlichen und um die politischen. Und er wußte auch, wie sehr sich das alles widersprach und einander entgegenstand.
Die politischen Zusammenhänge waren noch am einfachsten. Idris Jarrah war ein staatenloser Araber. Ein staatenloser Araber besaß weder Identität noch Zukunft. Wenn er ein Zuhause wollte, konnte er es bei den Flüchtlingen im Gazastreifen haben oder in den Barackenstädten westlich des Jordans. Wenn er arbeiten wollte, konnte er auch das haben: als Straßenkehrer oder Hausierer oder als Schnitzer von Souvenirs für die Touristen. Aber wenn er eine Identität haben wollte, eine offizielle Bestätigung, daß er eine Person war und nicht ein namenloses Stück Strandgut, dann mußte er sich einen Markt suchen, wo er eine kaufen konnte zu einem Preis, den er bezahlen konnte.
Idris Jarrah hatte einen solchen Markt in der Palästinensischen Befreiungsorganisation gefunden – dieser Familie vertriebener Zeloten, die sich geschworen hatten, die Juden ins Meer zu treiben, die alten Grenzen von Palästina wiederherzustellen und eine arabische Hegemonie zu errichten. Was den Preis betraf, so war Idris Jarrah imstande, mit harter Münze zu zahlen. Er hatte für die alte palästinensische Polizei zuerst als Spitzel und später als Geheimpolizist gearbeitet. Er kannte alle Spionagetricks und Terrormethoden, und von den Briten hatte er gelernt, was System und Methode wert waren.
Da er keine Illusionen hatte und seine ganze Hoffnung auf die Organisation setzte, arbeitete er mit erstaunlicher Tüchtigkeit. Da er nie mehr versprach, als er halten konnte, fiel seine Tätigkeit immer zufriedenstellend aus. Und da er weder an Gott glaubte noch an die Politiker, sondern nur an Idris Jarrah, war er vor Versuchung sicher – wenn auch nicht unempfänglich für persönliche Vorteile. Er sagte seine Meinung, nahm die Befehle entgegen, lieferte einen nächtlichen Überfall oder eine Bombenexplosion, ließ sich bezahlen und schlief zufrieden und glücklich mit irgendeiner Frau, während größere Männer sich in Alpträumen der Enttäuschung wälzten oder in der Phantasie ungeheure Reiche gründeten.
Die politischen Zusammenhänge waren ihm genauso klar. Soweit es die arabische Welt betraf, war es mit dem Staat Israel wie mit Gott: Wenn es ihn nicht gäbe, müßte man ihn erfinden – als Brennpunkt für die Unzufriedenheit und als Mittel der Sammlung einer peinlich entzweiten Moslemwelt. Wo fände man, wenn es die Juden nicht gäbe, einen Sündenbock für das Elend der Slumbewohner in Alexandria, für die Bettler, die im Vorhof der heiligen Stätte saßen und ihre Wunden kratzten, für die arbeitslosen Männer in Damaskus und für die zehntausend Menschen, die zwischen der Wüste und dem Meer in der Nähe der Stadt Samson kampierten? Wie ließ sich, ohne die Juden, eine leicht faßliche Erklärung finden für die reichen Libanesen, die Kuwaitis und die beduinischen Stammesgenossen, für den Haschemitenkönig und den marxistischen Syrer und für den ägyptischen Kameraden, der im Jemen einen sinnlosen Krieg führte? Arabische Einheit konnte sich nur auf negative Weise ausdrücken: Vernichtet die Juden! Und ohne die Juden konnte sie sich so gut wie gar nicht ausdrücken. Was aber die Wiederherstellung Palästinas betraf, so wußte Jarrah besser als die meisten, daß es, wenn es wirklich wiederhergestellt wäre, über Nacht von seinen neidischen Nachbarn zerstückelt werden würde.
Die Organisation hatte sich demnach einem Phantasiegebilde verschrieben, aber Phantasiegebilde waren das Arbeitsmaterial der Politiker; und sie zahlten große Summen, um es zu behalten und Männer wie Idris Jarrah zu finden, die für ihre rivalisierenden Ziele kämpften.
Und er wußte auch das: Die Ägypter wollten Israel zerstören, aber ihnen fehlten Geld und Hilfsmittel, um das zu tun. Die syrischen Sozialisten wollten den kleinen König von Jordanien loswerden, der ein Freund der Briten und ein Symbol für die überholte Stammesmonarchie war. Die Jordanier wollten eine Straße zum Meer und einen Hafen am Mittelmeer. Die Libanesen wollten Geld und Handel, und die Russen wollten Sozialismus von Bagdad bis zu den Säulen des Herkules. Die palästinensische Befreiungsorganisation hatte für alle einen bestimmten Wert. Sie mochten sie öffentlich loben und insgeheim verdammen, aber sie zahlten alle großzügig, um sie am Leben zu erhalten.
An einem strahlenden Herbstmorgen stand Idris Jarrah halb zehn an Deck der Surriento, die mit ihren zehntausend Tonnen zwischen Genua, Alexandria, Beirut und Limassol verkehrte, und betrachtete die Höhenzüge des Libanongebirges und die goldene Stadt Beirut, die in der Morgensonne immer näher kam. Er hatte eine angenehme Nacht verbracht – mit einer Barsängerin von mäßiger Schönheit und beträchtlichem Temperament – und freute sich jetzt seines Wohlbefindens und der Sicherheit, ein gesuchter Mann zu sein.
Nach der Eintönigkeit Alexandrias und den strapaziösen Verhandlungen mit den Ägyptern – einem fiebernden, arroganten und unglücklichen Volk, das er von Herzen verachtete – war die Aussicht auf zwei Tage im Libanon sehr reizvoll. Er würde im St. George wohnen, einem hübschen Hotel mit Blick auf das Meer und einem Portier, der seinen Geschmack kannte und gern bereit war, seine Wünsche zu erfüllen. Er würde zur Phönizischen Bank gehen, das Geld abheben und es bei der Pan-Arabischen Bank deponieren. Er würde sich kurz mit Freunden und Agenten besprechen und dann in aller Ruhe nach Merjayoun fahren, um den Leutnant aufzusuchen, der die Sabotagetätigkeit im Gebiet von Hasbani leitete. Vorerst würde es dort nicht viel zu tun geben, da geplant war, die libanesische Grenze in Ruhe zu lassen, während die Angriffe von Jordanien entlang dem Korridor von Jerusalem verstärkt wurden. Er würde das Geld übergeben und für die Verteilung der Waffen sorgen, die im Bauch der Surriento in Plastikröhren lagen, die später an einen Bauunternehmer für Kanalisationsanlagen verkauft wurden. Danach würde er sich einen Abend amüsieren und am nächsten Morgen nach Damaskus fliegen, um mit Safreddin zu verhandeln. Dort würde es Schwierigkeiten geben, denn Safreddin spielte viele Spiele gleichzeitig und hätte Idris Jarrah gern in alle verwickelt gesehen.
Oberst Safreddin war ein Soldat, der mit den Politikern ein Abkommen getroffen hatte. Solange man ihm genug Macht gab, die Armee zu kontrollieren, sorgte er dafür, daß sie sich loyal verhielt. Er bildete ein Offizierskorps heran, das nach den Doktrinen der Baath – der »Arabischen Sozialistischen Wiederauferstehungspartei« – geschult war und eine Waffe zur Durchsetzung der politischen und wirtschaftlichen Ziele des Einparteienstaats darstellte. Er brachte die Unzufriedenen, die immer noch nach Nasser und den Ägyptern schielten, zum Schweigen und hatte ein wachsames Auge auf die Großgrundbesitzer und Kaufleute, die versuchten, ihr Kapital aus Syrien in den Libanon und die Mittelmeerländer zu transferieren. Er hielt die Russen bei Laune und unterdrückte gleichzeitig alle revolutionären Bestrebungen oder leitete sie in den Schmelztiegel des syrischen arabischen Sozialismus.
Seine persönlichen Ambitionen waren beträchtlich. Er wollte, daß Syrien und nicht Ägypten die führende Macht der arabischen Welt würde. Er wollte Israel von der Landkarte streichen. Er wollte die Ägypter und Jordanier so bald wie möglich in einen totalen Krieg gegen die »usurpatorischen Zionisten« verwickelt sehen. Er wollte, daß der Haschemitenkönig beseitigt und eine sozialistische Regierung errichtet würde, damit die Grenzblockade zu einer regulären Belagerung ausgeweitet werden könnte. Und Idris Jarrah war der ideale Mann, um das große Schießen zu inszenieren.
Idris Jarrah würde Saboteure von Jordanien nach Israel schicken; und wenn die Israelis Vergeltung übten – dann gegen Jordanien und nicht gegen Syrien. Die Grenzbevölkerung würde König Hussein die Schuld zuschieben und nach einer neuen Regierung verlangen, die sie vor der israelischen Armee schützte. Gleichzeitig würde Idris Jarrah Geld auszahlen, um die Palastrevolution in Amman zu finanzieren. Idris Jarrah würde für die entscheidende Aktion verantwortlich sein – wenn sie fehlschlug, hätte er als bezahlter Agitator, der illegal innerhalb der Grenzen eines souveränen Staats operierte, die Verantwortung zu tragen.
Aber Idris Jarrah war ein Mann, der wußte, was gespielt wurde, und er hatte nicht die Absicht, sich selbst eine Schlinge um den Hals zu legen. Während er geschmeidig und unschuldsvoll wie eine Katze in der Sonne lag und zusah, wie das Libanongebirge immer deutlicher aus dem Meer aufragte, begann er, eine Versicherungspolice auszuarbeiten und über diejenigen nachzudenken, die sie für ihn unterzeichnen könnten.
Die ersten Unterzeichner wären die Mitglieder seiner Organisation im Libanon, in Jordanien und im Gazastreifen. Sein Geld gab ihnen Brot, seine Waffen verliehen ihnen ein Gefühl von Macht und Würde. Seine Versprechungen, daß sie in ihre Heimat zurückkehren würden, schenkten ihnen Hoffnung. Selbst die Gefahren, denen er sie bei den Sabotageaktionen aussetzte, verliehen ihrem sonst sinnlosen Leben Zweck und Glanz. Sie waren keineswegs alle Helden. Manche waren ausgemachte Feiglinge, die man überreden oder zwingen mußte, die verabredeten Maßnahmen auch durchzuführen. Aber es waren auch Patrioten darunter, die von ihrer Hoffnung auf die verlorene Heimat lebten; würden ihr Stolz und ihre Zuversicht vernichtet, dann waren sie verloren – für ihn und für sich selbst. Ohne sie war er machtlos; mit ihnen war er eine Art König – wenngleich in einem Reich von Söldnern und Ausgestoßenen.
Deshalb brauchte er andere und stärkere Hintermänner. Er brauchte ein Netz, das ihn auffing, wenn er stolperte und von dem straffgespannten Seil zwischen Syrien und Ägypten stürzte. Er dachte an Nuri Chakry, der auch auf einem Seil jonglierte und der möglicherweise bereit war, ein privates Geschäft mit ihm zu machen, das für beide Seiten von Vorteil sein konnte.