Читать книгу Der Turm von Babel - Morris L. West - Страница 15
Jerusalem
ОглавлениеDas Haus von Yehudith Ronen, der Frau Adom Ronens, des Spiegelmannes in Damaskus, war ein alter arabischer Bau ganz oben auf dem niedrigen Hügel von Har Zion. Um hinzukommen, mußte man an einigen zerfallenen Gebäuden vorbei, bis man eine hohe weißgekalkte Mauer mit einem eisernen Tor erreichte. Hinter dem Tor lag ein weitläufiger Garten mit Oliven- und Feigenbäumen und großen Zypressen. Vom Tor aus sah man nur die Kuppel, die sich wie das Grab eines alten Propheten aus dem Grün erhob. Ein befremdendes Schweigen hing über Haus und Garten; es war, als prallten der ferne Lärm der Stadt und die schrillen Schreie der Kinder aus der Nachbarschaft von der Mauer ab.
Es war genau zwanzig nach zehn, als Brigadegeneral Jakov Baratz vor dem Tor stand und läutete. Er war immer darauf bedacht, sich die genaue Ankunfts- und Abfahrtszeit zu merken. Auch jetzt blieb er bei dieser Gewohnheit, obwohl er nach seinem Besuch bei Hannah das Gefühl hatte, als sei plötzlich die Zeit erstarrt zu einer leeren und erschreckenden Ewigkeit. Fünf Sekunden nach dem Läuten summte der elektrische Türöffner, und das Tor ging auf Er trat in den Garten und schloß das Tor hinter sich.
Unter dem dichten Laub der Feigenbäume war die Luft kühl; er schauderte. Dann machte der Weg eine Biegung, und die Sonne schien wieder. Vor ihm lag das Haus, ein gedrungener weißer Bau mit dicken Mauern, vergitterten Fenstern und einer niedrigen gewölbten Tür, die von Weinreben umrankt war. Die Tür war schwarz und schwer und mit Eisennägeln beschlagen, die vor hundert Jahren in einer Schmiede im alten Jerusalem gemacht worden waren. Die Tür öffnete sich, und Yehudith Ronen erschien, um ihn zu begrüßen.
Sie war sechsunddreißig Jahre alt, sah aber in den abgewetzten Leinenhosen und dem Männerhemd wie ein junges Mädchen aus. In der einen Hand hielt sie ein Paar Handschuhe und eine Schutzbrille, wie sie Schweißer benutzen, die andere streckte sie ihm zum Gruß entgegen.
»Jakov! Welche Überraschung. Komm herein.«
Das Zimmer unter der Kuppel war schattig, aber es wirkte hell und freundlich durch die überraschend sichtbar werdenden Farbflecke – den Webteppich auf dem Sofa, die glänzende alte Kupferlampe, eine wilde Landschaft in Gold und Purpur, die buntscheckigen Bücherrücken im Regal, das sanfte Leuchten von phönizischem Glas und Yehudiths eigene Bronzeplastiken, die auf Hockern und Wandpodesten standen. Es war ein Zimmer ohne Geheimnisse, aber voller Herausforderung. Es war wie die Frau, die es bewohnte: karg und aufregend und friedlich zugleich.
»Was führt dich nach Jerusalem?«
»Die Konferenz mit dem Premierminister heute nachmittag, und Hannah ist wieder im Krankenhaus.«
»O Gott!« Ihre Teilnahme war so schmerzerfüllt, daß sie ihn überwältigte und er fast in Tränen ausgebrochen wäre. »Hast du sie gesehen?«
»Ja – sie hat mich nicht erkannt.«
»Was sagt Liebermann?«
»Die Prognose ist negativ.«
»Hat dich das überrascht?«
»Nein. Ich habe es seit langem kommen sehen. Ich wollte es nur nicht glauben.«
»Und nun…?«
»Ich weiß auch nicht.«
»Kannst du eine Weile bleiben?«
»Natürlich. Ich habe eine Stunde Zeit. Ich hatte das Bedürfnis, dich zu sehen.«
»Gut! – Ich mache uns einen Kaffee.«
Er warf seine Mütze und die Aktentasche auf einen Hocker und folgte ihr in die Küche, die sich an das Zimmer anschloß. Er wollte ihr nahe sein – nahe und freigesprochen von der Schuld, die Hannah ihm, ohne es zu wissen, auferlegt hatte. Während er zusah, wie sie geschäftig in dem kleinen hellen Raum hantierte, dachte er an ihre biblische Namensschwester. »Sie war eine Witwe in ihrem Haus… von gutem Gemüt und wunderschön anzusehen …«
Er überlegte angestrengt, wie er zuvor schon viele Male überlegt hatte, welcher Art die Beziehung zwischen diesem beschwingten und aufrechten Wesen und dem hinterlistigen und ruhelosen Mann gewesen war, der in einer anderen Haut in Damaskus lebte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, fragte sie ihn: »Hast du von Adom gehört?«
»In den letzten zehn Tagen nicht.«
»Das ist ungewöhnlich, nicht wahr?«
»Ein wenig. Er könnte natürlich verreist sein. Oder es findet gerade eine neue Sicherheitsprüfung statt, und er wartet ab. Ich werde dir Bescheid geben, sobald ich von ihm gehört habe. Mach dir keine Sorgen.«
»Das tu’ ich nicht, Jakov.« Sie drehte sich abrupt zu ihm um.
»Versteh das bitte. Ich akzeptiere, was er ist – was er macht. Ich habe Golda, und sie ist ein reizendes Kind. Ich habe meine Arbeit. Ich bin weniger – weniger einsam, als ich es mit Adom war. Ich liebe ihn, und ich glaube, auf seine Weise liebt er mich auch. Aber wir waren nie glücklich miteinander.«
»Das wußte ich nicht.«
»Lieber Jakov!« Sie lächelte ihn traurig an und legte ihre kühle Hand einen Augenblick auf seine Wange. »In deinem Beruf bist du so gescheit. Und in anderen Dingen völlig blind.«
»Dir gegenüber bin ich nie blind gewesen, Yehudith.«
»Ich dir gegenüber auch nicht. Aber was hilft uns das?«
»Nichts. Gar nichts.«
»Also lassen wir es«, sagte Yehudith Ronen leise. »Seien wir offen und ehrlich miteinander und schämen wir uns nicht wegen Dingen, die wir beide wissen.«
»Abgemacht.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie zart. Dann ließ er sie los. »Mach den Kaffee und dann zeig mir, woran du im Augenblick arbeitest.«
Sie waren über das dünne Eis hinweg und wieder auf festem Boden. Aber sie hatten beide das dunkle Wasser gesehen und wußten, daß es immer dasein würde – ein dunkler, verborgener Strom, der darauf wartete, sie zu verschlingen. Sie tranken Kaffee und tauschten die Klatschgeschichten von Jerusalem und Tel Aviv aus, erzählten von ihren Freunden, sprachen über das jiddische Theater und amüsierten sich über die manchmal komischen, manchmal bösartigen Tricks, mit denen Gauner und Betrüger die neuen Einwanderer hereinlegten. Dann nahm Yehudith seine Hand und führte ihn durch den schattigen Garten in ihr Atelier, eine große weißgekalkte Scheune am östlichen Ende der Mauer.
Es herrschte das übliche Durcheinander von Werkzeugen, Drahtgestellen, Wachsmodellen, Gipsabgüssen, Skizzen an der Wand, halbfertigen Bronzen und behauenen Steinen. Das meiste hatte er schon früher gesehen. Aber dort war ein neues Stück, halb so groß wie ein Mann; mit einem weißen Tuch bedeckt, stand es auf einer niedrigen Bank, und durch das Fächerfenster fiel ein breiter Sonnenstrahl darauf. Yehudith hielt ihn gute drei Meter davor zurück und stellte sich dann neben die verdreckte Plastik.
»Wenn es dir nicht gefällt, brauchst du es nicht zu kaufen!« sagte sie lächelnd. »Ich bin gestern damit fertig geworden. Ich habe alles hineingetan, was ich weiß – und alles, was ich bin. Du bist der erste, der es zu sehen bekommt. Es heißt ›Ehe‹.«
Sie zog das Tuch fort und beobachtete sein Gesicht, während er die Skulptur betrachtete. Eine lange rechteckige Bahn aus Plexiglas war zu einem doppelten Bogen geformt und auf ein Steinpodest gesetzt. In der Biegung des einen Bogens stand eine nackte weibliche Gestalt in der angespannten Haltung gesteigerter Begierde, die Hände nach dem Mann ausgestreckt, der auf der anderen Seite enttäuscht und gequält gegen die durchsichtige Wand hämmerte. Ihre Muskeln strafften sich vor wütender Leidenschaft, ihre Gesichter drückten die Schrecken der Einsamkeit aus, und es war, als müsse die Wand unter dem Ansturm ihres Verlangens nacheinander zersplittern; aber die Wand gab nicht nach, und die beiden Gestalten schienen erstarrt in ewiger Höllenqual.
Die Wirkung auf den Beobachter war seltsam. Zunächst war es, als paßten die Teile der Komposition nicht zueinander, aber dann verschmolzen sie plötzlich zu einer Einheit, die den Betrachter, ob er wollte oder nicht, in das Geschehen zwischen den beiden Gestalten hineinzog.
»Es ist schön«, sagte Jakov Baratz, »schön und schrecklich traurig.«
»Jetzt weißt du, wie es zwischen Adom und mir steht.«
»Ich wünschte, ich wüßte es nicht.«
»Du mußt es wissen. Um ihn zu schützen. Und mich.«
»Uns alle«, sagte Jakov Baratz.
Dann begann sie zu weinen, ruhig und erleichtert, als habe sie eine schwere Prüfung bestanden. Als er sie in die Arme nahm, klammerte sie sich an ihn wie ein Kind, das Trost und Zärtlichkeit sucht. Aber er wußte, daß es zwischen ihnen nie wieder diese kindliche Zärtlichkeit geben würde und daß die durchsichtige Wand nie wieder zu reparieren war, wenn sie einmal brach. Als sie sich beruhigt hatte, ließ er sie die Skulptur zudecken und ging mit ihr in das weiße Haus mit der schwarzen Tür und den vergitterten Fenstern. Von dort aus telefonierte er mit seinem Büro und erfuhr von dem Sabotageakt in Ein Kerem: Eine Plastikbombe hatte ein Haus in die Luft gesprengt, ein Kind war dabei getötet und eine Frau durch herabstürzendes Mauerwerk schwer verletzt worden. Er erfuhr ferner, daß Adom Ronen aus Damaskus berichtet hatte und daß eine Kopie der Nachricht bei der Chiffrierstelle in Jerusalem lag.
»Einundvierzig Sabotageakte in zwölf Monaten«, las der Premierminister mit rauher, tiefer Stimme. »Sieben Tote, davon zwei in der letzten Woche. Wir sind hier zusammengekommen, um über Vergeltungsmaßnahmen zu diskutieren – über die Art unseres Vorgehens, über den Zeitpunkt und über die voraussichtlichen militärischen und politischen Folgen.«
Alles an diesem Mann ist grau, dachte Jakov Baratz. Die Haare, der Anzug, die Augen und fast sogar die Haut. Er war ein ruhiger Mann, der das schlichtende Moment in der Koalitionsregierung darstellte: der ausgleichende, Entgegenkommen zeigende Nachfolger der fanatischen Eiferer, die die Grenzen Israels mit Blut gezogen hatten. Er war nicht etwa ein Schwächling. Er besaß die zähe Hartnäckigkeit des Berufspolitikers und das abwartende taktische Geschick des Funktionärs. Was ihm fehlte, war die Begeisterung und die prophetenhafte Beredsamkeit, die nötig war, um ein belagertes Volk anzufeuern.
»… der Zwischenfall heute morgen und der kürzliche Tod eines Traktorfahrers bei Sha’ar Hagolan versetzen meine Regierung in eine innere Krise. Die Leute wollen wissen – und sie haben ein Recht darauf –, was wir tun werden, um ihr Leben und ihren Besitz gegen feindliche Übergriffe zu schützen. Das bedeutet die Notwendigkeit einer klaren Demonstration unseres Willens und unserer Fähigkeit, der Aggression Widerstand zu bieten. Noch wichtiger ist folgendes…« Er legte seine Hände auf die Tischplatte und begann mit den Daumen zu trommeln. »Wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden unsere Feinde immer dreister, und möglicherweise sehen wir uns eines Tages zu einem militärischen Abenteuer gezwungen, das große und gefährliche Konsequenzen mit sich bringen kann.«
Baratz spielte mit seinem Bleistift und versuchte, seine Erbitterung zu zügeln. Die Entscheidung war längst gefallen. Weshalb mußte sie noch mit Phrasen, mit der abgestandenen Rhetorik der Knesset verbrämt werden? Ihr wollt Vergeltungsmaßnahmen? Gut, wir werden das arrangieren. Ihr wollt eine Liste der möglichen Folgen? Könnt ihr haben, in allen Einzelheiten. Aber laßt uns gefälligst endlich zur Sache kommen. Und wenn wir damit fertig sind, dann hört euch den Bericht meines Agenten aus Damaskus an.
»… zwei verschiedene Arten von Sabotage.« Die graue Stimme redete unaufhörlich weiter. »Direkte Angriffe von Syrien und Raubzüge von Mitgliedern der Palästinensischen Befreiungsorganisation an der jordanischen Grenze. Daß der Traktor bei Sha’ar Hagolan auf eine Mine fuhr, geht auf das Konto der Syrer. Die Explosion in Ein Kerem heute morgen ist ganz offensichtlich das Werk von PLO-Saboteuren aus Jordanien. Die wichtigste Frage lautet also: Wo schlagen wir zuerst zurück… gegen Syrien oder gegen Jordanien – oder gegen beide –?«
»Oder überhaupt nicht.« Es war der Außenminister, der die Frage vervollständigte. »Alle Zwischenfälle an der syrischen Grenze sind von der Waffenstillstandskommission untersucht worden. Wenn wir ihre Untersuchungen ignorieren und einen direkten Angriff unternehmen, dann kann Syrien umgehend an den Beistandspakt mit Ägypten appellieren. Wenn wir Jordanien angreifen, werden die Jordanier sagen, daß wir unschuldige Menschen die Tätigkeit illegaler Terroristen, nämlich der PLO, entgelten lassen.«
»Also bleiben wir sitzen und tun gar nichts?« Die Stimme des Premierministers klang plötzlich gereizt.
»Das habe ich nicht gesagt. Ich stelle nur fest, daß wir mit allem, was wir tun können, eine rechtswidrige Handlung begehen, für die wir uns vor den Vereinten Nationen verantworten müssen.«
»Und verantworten sich die Vereinten Nationen vor unserem Volk – für unsere Toten?«
»Nein.«
»Also sind wir wieder bei meiner Frage: Syrien oder Jordanien oder beide?«
Der Verteidigungsminister schraubte seinen langen, schlangenartigen Körper aus den Tiefen seines Stuhls und sagte orakelhaft: »Unsere Politik gegenüber Syrien wird bestimmt durch den syrischen Vertrag mit Ägypten. Wenn Syrien militärische Aktionen provoziert, ist Ägypten nicht verpflichtet einzugreifen. Wenn wir die Anstifter sind, kann und wird Syrien ägyptische Hilfe anrufen. Wenn sie das Feuer eröffnen, schießen wir auch. Wenn sie angreifen, schlagen wir zurück. Wir halten es für gefährlich, diese Politik zu ändern – jedenfalls im Augenblick.«
»Und was empfiehlt der Verteidigungsminister?«
»Einen einzelnen Schlag gegen ein einzelnes, genau begrenztes Objekt innerhalb der jordanischen Grenze.«
»Um was zu demonstrieren?«
»Daß die Jordanier selbst Ordnung an ihren Grenzen halten und die PLO-Gruppen, die dort operieren, auf jeden Fall loswerden müssen.«
»Das klingt vernünftig.« Der graue Mann nickte, lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem zerknautschten Hemd.
»Haben Sie ein bestimmtes Objekt im Auge?«
»Noch nicht. Wenn wir uns im Prinzip einig sind, möchte ich die Angelegenheit zur sofortigen Bearbeitung an den Stabschef und den Leiter des militärischen Geheimdienstes weitergeben.«
»Wie lange würde die Bearbeitung dauern?«
»Eine Woche«, sagte der Stabschef.
»Ich hätte gern mindestens zwei Wochen Zeit«, sagte Jakov Baratz. »Wenn möglich noch länger.«
Der Stabschef runzelte die Stirn. Der Verteidigungsminister hustete warnend. Der Außenminister sagte unwillig:
»Je länger wir warten, desto größer ist der zeitliche Abstand zwischen der Vergeltungsmaßnahme und dem Sabotageakt, der sie hervorgerufen hat – politisch gesehen ist das gefährlich.«
»Das Ganze ist in mehr als einer Hinsicht gefährlich«, erwiderte Jakov Baratz entschieden. »Ehe wir etwas unternehmen, müssen wir alle Gefahren kennen und abschätzen.« Er suchte in seiner Brieftasche und entnahm ihr die dechiffrierte Kopie der Mitteilungen aus Damaskus. Er glättete den Briefbogen auf der Tischplatte und fuhr fort: »Ich habe heute morgen einen längst fälligen Bericht unseres Agenten in Syrien erhalten. Er war an Malaria erkrankt. Dies ist der Text: ›Glaube, Safreddin bereitet Attentat gegen König von Jordanien vor. Er benutzt meine Lastwagen zum Transport von Waffen an bislang unbekannte Personen. Scheint eine Falle zu sein. Ladung wird an der syrischen Grenze beschlagnahmt, wahrscheinlich um loyale Angehörige der Palastwache verdächtig zu machen. Werde dabeisein, wenn Waffen in meinem Lagerhaus aufgeladen werden. Das kann auch für mich eine Falle sein. Mehr, wenn alles erledigte« Baratz blickte auf und sah ihre gespannten, fragenden Gesichter auf sich gerichtet. »Sie sehen jetzt, was ich meine. Wenn wir Jordanien angreifen, kämpfen wir gegen einen Mann, der bereits die Gewehre im Rücken spürt.«