Читать книгу Der Turm von Babel - Morris L. West - Страница 6

Tel Aviv

Оглавление

In seinem großen kahlen Büro im vierten Stock des Dienstgebäudes saß Brigadegeneral Jakov Baratz, Leiter des militärischen Geheimdienstes, an seinem Schreibtisch und las den Bericht über den Zwischenfall, der gerade hereingekommen war. Er teilte seinem Adjutanten die Koordinaten mit. Der junge Soldat markierte die Stelle auf der Landkarte mit einem kleinen roten Kreuz in einem Kreis und machte dann eine Eintragung in die Liste, die er in der Hand hielt.

»Das ist der vierte Zwischenfall im Revaya-Sha’ar-Hagolan-Gebiet. Zerstörung einer Pipeline, Zerstörung einer Pumpstation. Vernichtung von drei Wohnhäusern und einer Wasserpumpe, und jetzt dies.«

»Vier Zwischenfälle in neun Monaten«, fuhr der Brigadegeneral fort. »Lauter Ärgernisse, die uns zu militärischer Aktion in einer entmilitarisierten Zone provozieren sollen.«

»Was machen wir jetzt?«

»Wir? Nichts.« Aus Baratz’ Stimme klang bittere Ironie. »Kaplan in Tiberias hat der UNO-Waffenstillstandskommission bereits telefonisch und schriftlich Bericht erstattet. Morgen wird das Memorandum bestätigt werden, und die Waffenstillstandskommission wird eine formelle Untersuchung anordnen. In vier bis sechs Wochen wird die Kommission einen formellen Bericht vorlegen. Darin wird festgestellt werden, daß eine oder mehrere unbekannte Personen auf einem Stück Land im Sha’ar-Hagolan-Gebiet, das die Bezeichnung ›Grüner Finger‹ trägt, eine Mine unbekannter Herkunft legten. Man wird ferner feststellen, daß ein israelischer Traktor auf das obenerwähnte Stück Land fuhr und explodierte. Schlußfolgerung: Eine oder mehrere unbekannte Personen haben sich durch Minenlegen in einer entmilitarisierten Zone eines illegalen Aktes schuldig gemacht; ein Israeli, der bedauerlicherweise dabei den Tod fand, beging einen illegalen Akt, indem er mit einem Traktor auf das obenerwähnte Stück Land vordrang. Erforderliche Aktion: keine.«

»Aber wir tragen mal wieder die ganze Schuld, wie üblich.«

»Wie üblich«, sagte Baratz sarkastisch. »Aber streng juristisch gesehen – und die Waffenstillstandskommission ist eine Organisation, die sich strikt an die Gesetze hält –, sind wir die einzigen, die identifiziert werden können. Wir haben einen toten Mann auf der Türschwelle liegen.« Er machte eine Pause und fügte dann ruhig hinzu: »Die Liste wird immer länger. Von August letzten Jahres bis Oktober dieses Jahres hatten wir siebenundvierzig Sabotageversuche. Wir haben aber auch eine neue Regelung in Jerusalem. Sehr bald wird jemand anfangen, nach Vergeltung zu schreien. Ich kann nicht sagen, daß ich es ihm übelnehmen würde. Aber jetzt nicht, noch nicht.«

»Wann?«

Baratz hatte Mitleid mit ihm. Er war sehr jung, sehr ungeduldig und immer noch ein Neuling im kalten Geschäft des militärischen Geheimdienstes und der politischen Manöver.

»Wann? Das entscheiden nicht wir. Das entscheidet der Premierminister in Jerusalem mit dem Kabinett und den Stabschefs. Wir liefern Informationen, Beurteilungen, Ansichten über mögliche Konsequenzen. Und wir hoffen zu Gott, daß wir wenigstens zur Hälfte recht haben. Aber wenn Sie mich fragen, was uns zu Gegenmaßnahmen zwingen könnte, dann würde ich sagen: alles, was zum Beispiel hier passiert…« Sein knochiger Finger zeigte auf den breiten Landkeil zwischen der südlichen Grenze Libanons und der östlichen Grenze Syriens. Er war dicht mit Kreuzen und Kreisen bedeckt, die von Metulla aus nach Süden den Jordan entlangliefen. »… oder hier, in der Ebene von Sharon, oder in der Shefelah oder am Toten Meer zwischen Ein Gedi und Arad. Es ist das Ganze, an das wir denken müssen, immer – das Ganze!«

»Heute morgen wurde ein Mann getötet, ein friedlicher Bauer. Ist er nicht auch ein Teil des Ganzen?«

»Wir haben sechs Millionen Menschen in Vernichtungslagern verloren. Israel ist auf ihrer Asche erbaut. Vergessen Sie das nicht.« Dann fragte er etwas freundlicher: »Haben wir Nachricht von Fathalla?«

»Noch nicht. Seit einer Woche ist kein Funkspruch von ihm gekommen, und wir konnten ihn auch nicht erreichen.«

»Ich weiß«, sagte Baratz bedrückt. »Ich mache mir Sorgen um ihn. Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie mit ihm Kontakt haben. Das ist alles.«

Der junge Mann salutierte, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Baratz betrachtete die Landkarte mit den roten Flecken, die wie Blutspritzer aussahen, und den geheimnisvollen militärischen Zeichen, die die Geschichte des täglichen Kampfes ums Überleben erzählten.

Die Landkarte war ihm vertraut wie seine eigene Haut, und er reagierte sofort auf jedes Jucken und Brennen, das sie befiel. In seinen unruhigen Träumen war diese Karte manchmal wirklich eine Haut, eine lebendige menschliche Haut, straff gespannt über das schmale Stück Land zwischen Ägypten und Jordanien, Syrien, Libanon und dem Meer. Auf dieser Haut bildeten sich plötzlich Schwellungen und Beulen, aus denen Legionen von Soldaten-Ameisen brachen, die die Haut bald völlig bedeckten und sich durch sie hindurchfraßen bis auf den Grund. Dann waren die Ameisen verschwunden, der Boden blieb mit Knochen bedeckt zurück, und darüber tönte die Stimme des alten Propheten:

Und des Herrn Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geiste des Herrn und stellte mich auf ein weites Feld, das voller Totengebeine lag. Und er führte mich allenthalben da durch, und siehe, des Gebeins lag sehr viel auf dem Feld und siehe, es war sehr verdorrt. Und er sprach zu mir, du Menschenkind, meinst du auch, daß diese Gebeine wieder lebendig werden…

Dann wurde es still in seinem Traum, und er wartete auf die Verheißung, die dem Klagelied folgte. Aber zu der Verheißung kam es nie, und er erwachte schweißgebadet und erschrocken, denn er wußte: wenn die Ameisen über das Land herfielen, würde es nie mehr eine Wiederauferstehung geben, und das Haus Israel wäre für immer ausgelöscht.

Laut und schrill läutete das Telefon. Er ging hastig zum Schreibtisch.

»Hier Baratz.«

»Jakov, hier ist Franz Liebermann. Ich war gerade bei Hannah.«

Eine kalte Hand krampfte sich um sein Herz. Er spürte, wie er zitterte. Er packte einen Bleistift, um das Zittern zu unterdrücken, und der Bleistift brach in seiner Hand entzwei.

»Wie geht es ihr? Was meinst du, Franz?«

»Ich glaube, du solltest sie eine Weile bei uns lassen, Jakov.«

»Wie lange?«

»Einen Monat. Vielleicht auch zwei oder drei. Sie ist diesmal auf einer langen Reise. Wir werden versuchen, ihr zu folgen und sie zurückzubringen, wenn sie bereit ist zu kommen.«

»Kannst du nichts machen?«

»O doch! Es gibt natürlich Möglichkeiten, sie zu behandeln, aber garantieren läßt sich nichts. Das weißt du.«

»Ich weiß es. Sei gut zu ihr, Franz.«

»Wie zu meiner eigenen Frau«, sagte Franz Liebermann.

»Wann kann ich sie besuchen?«

»Ich werde dich anrufen. Hab Vertrauen zu mir, Jakov.«

»Ja, wem sonst sollte ich vertrauen.«

Er legte den Hörer auf und starrte lange auf seine Handflächen, als könnte er aus ihnen die Zukunft seiner Frau, seine eigene und die Zukunft all derer lesen, für die er in einer zwielichtigen Welt einsam Wache hielt. Aber das Weissagen aus den Handlinien war eine magische Kunst, und an Magie glaubte er genausowenig wie an den Gott seiner Väter, der gelassen in seinem Himmel sitzen konnte, während sechs Millionen seiner Auserwählten auf entsetzliche Weise den Tod fanden. Es war die Ironie seiner Situation, daß in ihm, einem Treuhänder der Kontinuität Israels, diese Kontinuität bereits gebrochen war. Die Hände, die vor ihm auf dem Tisch lagen, waren für kein Priesteramt gesalbt. Keine Prophezeiungen waren in ihre lederartigen Innenflächen geschrieben. Sie erflehten keinen Segen von einem schweigenden Himmel. Es waren Handwerkerhände, die Holz und Metall bearbeiten konnten. Es waren Soldatenhände, die ein Gewehr zerlegen und schneller wieder zusammenzusetzen vermochten als die meisten anderen. Es waren Liebhaberhände, die Hannah einst zu triumphierender Ekstase erweckt hatten, aber jetzt nicht die Kraft hatten, sie vor der quälenden Rückkehr in die Vergangenheit zu bewahren. Einen Augenblick lang überkam ihn tiefe Verzweiflung, doch dann kehrte langsam die Disziplin zurück, die er ein Leben lang geübt hatte, und er begann wieder klar zu denken.

Fathalla war seine größte Sorge: Selim Fathalla, dessen arabischer Name Geschenk Gottes bedeutete, der in Damaskus ein Import-Export-Geschäft betrieb, mit Syrern in hohen Stellungen befreundet war, und der täglich sein Leben riskierte, weil er in Wirklichkeit Adom Ronen hieß und ein israelischer Spion war. Jede Woche schickte er auf dem einen oder anderen Weg einen Bericht aus erster Hand. Die Wege waren sehr unterschiedlich. Jeden Tag nahm Fathalla zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen Wellenlängen per Funk Kontakt mit Tel Aviv auf. Manchmal brachte ein israelischer Pilot von Zypern einen verschlüsselten Brief mit. Ein anderes Mal überraschte der Fahrer eines Konsulats, der täglich durch das Mandelbaumtor fuhr, seine Freundin in Jerusalem mit einem Geschenk aus Jordanien. Gelegentlich kam der Bericht aus Rom oder Athen, denn Fathalla war ein erfinderischer Mann mit Sinn für Humor, und seine ganze Sorge galt der Sicherheit seines Netzwerks. Seit zehn Tagen hatten sie nichts mehr von ihm gehört, und Baratz machte sich Sorgen.

Der Turm von Babel

Подняться наверх