Читать книгу Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses - Nadine Treu - Страница 15
6. Die Stoa
ОглавлениеDie Überlegungen zur Sprachphilosophie der Stoa sind in folgende Einzelschritte zu unterteilen:1 (1) Die Entwicklung der Sprachphilosophie zum zentralen Gegenstand der Philosophie und die zentralen Inhalte der stoischen Sprachphilosophie. (2) Die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens, die φωνή, und (3) die Behandlung der Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens, das λέκτον.
(1) Der Beginn der Stoa ist um 300 v. Chr. anzusetzen.2 Die Stoiker, deren Schule von Zenon aus Kition begründet wurde, haben die Sprachphilosophie zum Hauptgegenstand der Philosophie gemacht. Während in der vorangegangenen Entwicklung, vom Krat. Platons abgesehen, keine dezidiert sprachphilosophischen Werke entstanden sind, widmen sich die Stoiker der Sprache als eigenem philosophischem Gegenstand. Nach Pohlenz entsteht die Notwendigkeit, sich mit Sprache zu beschäftigen, dort, „wo man Anlaß hatte, die eigene Sprache an einer anderen zu messen, sei es an einer älteren Sprachstufe des eigenen Volkes, in der die heiligen Schriften abgefaßt waren, sei es an der Sprache eines anderen Volkes“3. Pohlenz zufolge war eine Mehrheit der Stoiker gezwungen, ihre Gedanken in einer von ihrer semitischen Muttersprache abweichenden Sprache, dem Griechischen, zu formulieren. Er sieht in den Unterschieden dieser beiden Sprachen, mit denen sich viele Stoiker auseinandergesetzt haben, einen Grund, weshalb in der Stoa eine dezidierte Sprachphilosophie entstanden ist.4 Hülser widerspricht dieser These, da die große Nachwirkung der stoischen Sprachphilosophie damit nicht ausreichend erklärt werden kann. Weiterhin ist mindestens von Zenon bekannt, dass er Hellenist sein wollte und dass er seine semitische Muttersprache vernachlässigte.5 Angeregt zu sprachphilosophischem Denken wurden die Stoiker vielmehr durch die dialektische Schule um Diodoros Kronos (ca. 350–284 v. Chr.),6 die sich mit derartigen Fragen bereits beschäftigte und die Sprache als Bestandteil der Logik etabliert hatte.7 Neben Ethik und Physik ist die Logik der dritte Teilbereich der Philosophie.8 Sie selbst wird in Dialektik und Rhetorik unterteilt. Gelegentlich wird als weiterer Sektor die Erkenntnistheorie angeführt, die stark mit der Dialektik verbunden ist.9
Das zentrale Element der stoischen Sprachphilosophie bleibt der seit Heraklit im Fokus stehende λόγος-Begriff.10 Der λόγος ist in der stoischen Lehre sowohl auf Gott als auch auf den Menschen bezogen. Er wird zum einen als der Urgrund alles Seienden bestimmt.11 Zum anderen gibt der λόγος-Begriff Auskunft über das Wesen der Menschen, das mit den Begriffen des λόγος ἐνδιάθετος und des λόγος προφορικός beschrieben werden kann.12 Λόγος ἐνδιάθετος bezeichnet den gedachten Gehalt, die innere Rede; λόγος προφορικός bezeichnet die stimmliche Äußerung.13 So werden das Denken und das Sprechen als Wesensmerkmale des menschlichen λόγος bestimmt. Die beiden Bereiche sind eng miteinander verbunden.14 Der λόγος ist als allumfassendes Prinzip für die stoische Philosophie von großer Bedeutung. Da die stimmliche Äußerung unmittelbar aus dem λόγος hervorgeht, ist der gesprochenen Sprache gegenüber der schriftlichen Sprache der Vorzug einzuräumen, da letztere lediglich ein Symbol für die stimmliche Äußerung ist. Dieses Verhältnis hatte sich bei Platon bereits abgezeichnet. Die Stoiker verstehen unter λόγος sowohl einzelne Wörter als auch die Verbindung von ὀνόματα und ῥήματα sowie ganze Satzeinheiten.15
Neben dem λόγος-Begriff ist eine weitere wichtige Voraussetzung für die sprachphilosophische Entwicklung, dass auch die Stoiker zwischen der Inhalts- uns Ausdrucksseite eines sprachlichen Zeichens unterscheiden. Sie differenzieren zwischen dem Bezeichneten/Signifikat/Inhalt, dem Bezeichnenden/Signifikant/Ausdruck eines sprachlichen Zeichens und dem Objekt, übernehmen also folglich das von Aristoteles herausgearbeitete dreiteilige semiotische Modell.16 In diese beiden Teilbereiche des sprachlichen Zeichens gliedert Chrysipp die stoische Dialektik. Das wird durch die beiden Schrifttitel bereits deutlich: Περὶ σημεινόντον (Über das Bezeichnende) beschäftigt sich mit der Stimme, also mit dem Zeichen, Περὶ σημεινομένον (Über das Bezeichnete) mit dem Gesagten und der Bedeutung.17 Beide Teilbereiche des sprachlichen Zeichens wurden nun differenzierter betrachtet. So konnten gezielt einzelne Aspekte der Sprache herausgegriffen, untersucht und systematisiert werden. Für die Zusammenführung dieser Teilsystematisierungen und eine Vereinheitlichung ist Diogenes von Babylon (240–150 v. Chr.) verantwortlich.18 Im Folgenden werden die beiden von Chrysipp vorgelegten Teile der Dialektik behandelt. Am Anfang steht die Auseinandersetzung mit dem Bezeichnendem.
(2) Die Stimme, die φωνή, verstehen die Stoiker als das Bezeichnende, die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens. Sie wird für körperlich und damit für seiend erklärt.19 Daneben wird die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens wie folgt bestimmt:
φωνή ἐστιν ἀὴρ πεπληγὼς αἰσθητὸς ἀκοῇ, τὸ ὅσον ἐφ’ ἑαυτῷ ἔστιν. (Dositheus, Ars gramm. p. 381; FDS 500)
„Die Stimme (der Laut) ist erschütterte Luft, die, soweit es an ihr liegt, mit dem Gehör wahrnehmbar ist“ (Dositheus, Ars gramm. p. 381; FDS 500)
Die φωνή wird als Schall durch das Sinnesorgan des Ohres wahrgenommen. Zur eigentlichen Stimme wird diese Luft bzw. der Schall, wenn ein Lebewesen dadurch einen Laut erzeugt. Um die menschlichen Laute von den tierischen unterscheiden zu können, führt die Stoa die Differenzierung zwischen artikulierten und unartikulierten Lauten weiter, die bereits bei Aristoteles angedeutet wurde:
πᾶσα φωνὴ ἢ ἔναρθρός ἐστιν ἢ ἄναρθρος. ἔναρθρός ἐστιν ἣ γράμμασιν καταληφθῆναι δύναται∙ ἄναρθρος ἐστιν ἥτις γράφεσθαι οὐ δύναται. (Dositheus, Ars gramm. p. 381; FDS 500)
Jede Stimme (jeder Laut) ist entweder artikuliert oder konfus. Die artikulierte Stimme ist diejenige, welche in Buchstaben festgehalten werden kann; die konfuse ist diejenige, welche man nicht aufschreiben kann. (Dositheus, Ars gramm. p. 381; FDS 500)
Sind Laute ἄναρθρος (unartikuliert), so handelt es sich um ἦχος (bloße Laute).20 Dagegen ist φωνή ἔναρθρος (der artikulierte Laut) an den λόγος gebunden. Menschliche Sprache kann nicht nur auf ihr körperliches Phänomen reduziert werden. Das Denken, der λόγος ἐνδιάθετος, ist eng mit der sprachlichen Äußerung verbunden. Dies wurde bei der Thematisierung des stoischen λόγος-Verständnisses bereits deutlich und kann durch Chrysipp noch einmal in Erinnerung gerufen werden, der feststellt „τὴν διάνοιαν εἶναι λόγου πηγήν“21 (der Verstand sei die Quelle der Rede).22
Wenn die Stoa die menschlichen sprachlichen Äußerungen eng an den λόγος koppelt, wirft das die Frage auf, welche Position die Stoa im φύσει-θέσει-Streit einnimmt. Die stoische Position diesbezüglich wird in Auseinandersetzung mit den Theorien der Skeptiker und der Epikureer entwickelt. Die Skeptiker sind der Ansicht, dass die Zuordnung von Ding und Wort θέσει vonstattengeht23, die Epikureer plädieren vorerst für die reine φύσει-These.24 Letztere waren, wie alle Vertreter der natürlichen Sprachentstehung, mit der Frage konfrontiert, warum unterschiedliche Sprachen entstehen konnten. Epikur begründet dies mit der Unterschiedlichkeit von „geographischen und ethnischen Gegebenheiten“25, die sich in den sinnlichen Wahrnehmungen und letztlich in der Zuordnung von Objekt und Wort niederschlagen. Dinge jedoch, die schwierig zu bezeichnen waren, wurden von weisen Menschen bezeichnet, um Klarheit zu schaffen und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Mit diesem Zusatz vereint Epikur beide Theorien. Damit ist für die Stoa aber noch kein gangbarer Weg begründet; weil die Epikureer nicht zwischen tierischen und menschlichen Lauten unterscheiden, findet deren These für die Stoa eine Grenze. So wie die tierischen Laute sind nach epikureischer Ansicht auch die ersten Laute der Menschen entstanden: durch eine natürliche Erregung wie etwa Husten oder Seufzen.26 Das widerspricht dem stoischen Verständnis, zwischen Mensch und Tier eine scharfe Grenze zu ziehen.27 Wie oben bereits deutlich wurde, ist die menschliche Sprache – im Gegensatz zu den tierischen Lauten – explizit an den λόγος gebunden, weil eine menschliche Stimme im stoischen Verständnis nur dort vorliegt, „wo die Stimme vom Denken ausgeht und die Artikulation dazu dient, die Gliederung der Gedanken zum Ausdruck zu bringen und die verschiedenen Dinge auf Grund einer bestimmten Erkenntnis zu bezeichnen.“28 Die Stoa kann somit wenigstens zu einem Teil der epikureischen These folgen, nämlich darin, dass die Zuordnung von Wort und Ding auch durch den Menschen veranlasst wurde.29 Insgesamt geht die Stoa einen Mittelweg: Die Wörter gelten als vom Menschen gesetzt. Die namengebenden Menschen orientierten sich jedoch an der φύσις der Dinge.30 Die ersten Wörter haben ihre Bedeutung also nach stoischer Ansicht nicht durch Konvention erhalten, sondern von Natur aus, indem die Objekte nachgeahmt wurden.31 Diese Nachahmung bezieht sich einerseits auf die Ähnlichkeit zwischen Objekt und Wort, wie dies für Onomatopoetika der Fall ist; andererseits auf eine Ähnlichkeit zwischen der Eigenschaft des Objekts und des „psychischen Eindrucks, der bei der Rezeption der dieses Ding bezeichnenden Laute entsteht“32. Dies trifft für Etymologien zu,33 weshalb sich bei den Stoikern für diese ein besonderes Interesse entwickelt.34
Neben dem Ursprung und der allgemeinen Beschreibung des Wesens sprachlicher Laute befasst sich der Lehrbereich ‚Περὶ σημεινόντον’ mit dem Aufbau der Sprache.35 Auf der Ebene der λέξις (Artikuliertheit) können verschiedene Bereiche ausgemacht werden: Als die kleinsten zerlegbaren Einheiten gelten die Phoneme, die die Stoiker in den 24 Buchstaben gegeben sahen.36 Auf diese folgen die Silben als Laute, die in verschiedene Segmente eingeteilt werden können, aber keine Bedeutung besitzen. Wörter, Sätze und Texte sind die darauf folgenden größeren Einheiten, die Bedeutung haben.37 Die Rede an sich lässt sich nach der stoischen Lehre in verschiedene Wortarten gliedern: Substantiv (ὄνομα), Verb (ῥῆμα), Artikel (ἄρθρον) und Konjunktion (σύνδεσμος) sind die vier Wortarten, die die Stoa aus der vorangegangenen Sprachphilosophie übernommen hat.38 Chrysipp unterteilt die Substantive in ὄνομα (Eigenname) und προσηγορία (Appellativ)39, Antipater fügt das ἐπίρρημα (Adverb)40 hinzu.41 Diese Wortarten werden als die einzelnen Elemente (στοιχεία42) der Rede (λόγος) angesehen. Die Rede selbst sollte nach stoischer Ansicht folgende Merkmale aufweisen: Ἑλληνισμός (gutes Griechisch), σαφήνεια (Deutlichkeit), συντομία (Kürze), πρέπον (Angemessenheit) und κατασκευή (ausgefeilte Gestaltung).43
(3) Das zweite Teilgebiet der stoischen Sprachphilosophie (‚Περὶ σημεινομένον’) beschäftigt sich mit dem, was wir heute die Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens bzw. das Bezeichnete nennen. Hinter dieser Thematik steht die Frage, wie der Bezug zwischen Wort und Objekt zu denken ist. Die Stoiker knüpfen diesbezüglich an die Sichtweise von Aristoteles an, der den Bezug zwischen Wort und Ding durch die παθήματα τῆς ψυχῆς vermittelt sieht. Die Stoiker sind bemüht, die aristotelische Ansicht zu differenzieren und näher zu bestimmen. Sie benutzen hierzu den Begriff λέκτον, der das Bezeichnete charakterisiert:44
σημεινόμενον δὲ αὐτὸ τὸ πρᾶγμα τὸ ὑπ’ αὐτῆς δηλούμενον καὶ οὗ ἡμεῖς μὲν ἀντιλαμβανόμεθα τῇ ἡμετέρᾳ παρυφισταμένου διανοίᾳ, οἱ δὲ βάρβαροι οὐκ ἐπαΐουσι καίπερ τῆς φωνῆς ἀκούοντες∙ (…) ἓν δὲ ἀσώματον, ὥσπερ τὸ σημαινόμενον πρᾶγμα, καὶ λεκτόν (…). (S. Emp., Adv. Math. VIII,12; FDS 67)
Die Bedeutung [das Bezeichnete] ist eben die Sache, auf die durch den Laut hingewiesen wird und die wir begreifen, da sie in Abhängigkeit von unserem Denken existiert, die aber fremdsprachige Leute nicht verstehen, so sehr sie auch den Laut hören; (…) eines [von Bezeichnetem, Bezeichnendem und dem Objekt selbst] hingegen ist unkörperlich, nämlich die bezeichnete Sache, und zwar ein Lekton (…). (S. Emp., Adv. Math. VIII,12; FDS 67)
Das Bezeichnete definieren die Stoiker als unkörperlich, im Gegensatz zum eigentlichen Objekt und dem Bezeichnendem. Umberto Eco fasst prägnant zusammen, wie das λέκτον im stoischen Sinn zu fassen ist:
Bei den Stoikern ist der Inhalt keine Empfindung der Seele, kein geistiges Bild, keine Wahrnehmung, kein Gedanke oder keine Idee mehr, wie er es bei ihren Vorgängern war. Er ist weder eine Idee im platonischen Sinne, denn die Stoiker haben eine materialistische Metaphysik, noch eine Idee im psychologischen Sinne, da selbst in diesem Fall der Inhalt ein Körper wäre, eine physische Tatsache, eine Veränderung der Seele (die ebenfalls ein Körper ist), ein Siegel, das dem Geist aufgedrückt wird. Stattdessen schlagen die Stoiker vor, daß der Inhalt etwas Unkörperliches sei.45
Das λέκτον ist an den λόγος gekoppelt und zwar an den λόγος in seinem zweifachen Verständnis; d.h. unter λέκτον ist die Vorstellung zu sehen, die vom Denken erfasst wird und die zugleich an die sprachlichen Äußerung gebunden ist.46 Der Aspekt der Vorstellung wird in der stoischen Lehre durch die Komponente der φαντασία verdeutlicht:
λεκτὸν δὲ ὑπάρχειν φασὶ τὸ κατὰ λογικὴν φαντασίαν ὑφιστάμενον· λογικὴν δὲ εἶναι φαντασίαν καθ’ ἣν τὸ φαντασθὲν ἔστι λόγῳ παραστῆσαι. (S. Emp., Adv. Math. VIII,70; SVF II,187)
Sie (die Stoiker) sagen, daß ein ›Sagbares‹ (Lekton) dasjenige ist, was in Übereinstimmung mit einer vernünftigen Vorstellung subsistiert; und eine vernünftige Vorstellung ist diejenige, in der es möglich ist, den Inhalt der Vorstellung sprachlich zu präsentieren. (S. Emp., Adv. Math. VIII,70; Long/Sedley, 33C)
Mit der φαντασία wird ein Element eingeführt, das den Unterschied zur aristotelischen Sprachphilosophie zeigt und deutlich macht, dass das λέκτον aus einer rationalen Vorstellung entspringt. Eine solche liegt dann vor, wenn die φαντασία in einer sprachlichen Äußerung wiedergegeben werden kann bzw. wird. Das λέκτον ist dabei nicht mit der Vorstellung gleichzusetzen, da diese auch entstehen kann, ohne dass es zu einer sprachlichen Äußerung kommt.47 „Das lektón ‚existiert’ gleichsam zwischen dem Gedanken (…) und der Sache selbst.“48 Deshalb ist es mit ‚Gesagtem’ oder ‚Sagbarem’ zu übersetzen. Es ist als Mittlerelement zwischen dem Objekt und dem Gedanken zu sehen und dabei nicht an eine bestimmte Lautgestalt gebunden, aber an die Sprache im Allgemeinen.49 Mit dem Begriff λέκτον bringen die Stoiker das zum Ausdruck, was wir heute mit dem Terminus Bedeutung bezeichnen.50 An dieser Stelle sei angemerkt, dass es auch nach stoischer Lehre Laute gibt, die keine Bedeutung haben. Laute können also σημαντικός sein oder nicht. Ist letzteres der Fall, so handelt es sich um unsinnige Wörter wie beispielsweise βλίτυρι.51
Unvollständige λεκτά sind die Bezeichnung für die Flexionslehre, hierzu gehören Subjekt und Verb. Ein vollständiges λέκτον liegt vor, wenn „abgerundete Sinneinheiten“52 vorhanden sind, wie dies für Aussagesätze, Entscheidungsfragen oder Aufforderungen der Fall ist.53 Auch wenn die Stoiker den verschiedenen Satzarten großes Interesse beimessen, liegt ihr Fokus doch auf dem Aussagesatz.54
Der Begriff λέκτον, seine exakte Bestimmung und seine Bedeutung für die stoische und die nachfolgende Sprachphilosophie ist umstritten. Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten und Gewichtungen des Begriffs können an dieser Stelle nicht im Einzelnen wiedergegeben werden.55 Im Wesentlichen sind für die Wirkung der stoischen Sprachphilosophie und das Verständnis des Begriffs λέκτον in der Forschung zwei Positionen auszumachen, die anhand von Umberto Eco und Klaus Oehler gezeigt werden können.56 Eco spricht sich dafür aus, dass die stoische Sprachphilosophie eine bedeutende Rolle für die modernen sprachwissenschaftlichen Theorien hat:
Sie [die Stoiker] scheinen die Triade [des sprachlichen Zeichens] zu reproduzieren, die Platon und Aristoteles vorschlugen, aber sie überarbeiteten sie mit einer theoretischen Feinheit, die vielen von denen fehlt, die ein solches semantisches Dreieck heutzutage wiederentdeckt haben. (…) Die Stoiker [gehen] viel weiter als ihre Vorgänger und entdecken die provisorische und labile Natur der Zeichenfunktion (derselbe Inhalt kann mit einem Ausdruck aus einer anderen Sprache ein Wort bilden).57
Problematisch an dieser Sichtweise ist, dass in den stoischen Fragmenten das gefunden werden kann, was man in ihnen zu finden gewillt ist.58 Oehler vertritt die zweite Position und schätzt die Wirkung der stoischen Lehre für die moderne Sprachwissenschaft als gering ein. Seiner Einsicht nach zeigt die Sprachphilosophie der Stoa gegenüber der platonischen und aristotelischen keinen wesentlichen Unterschied:
Dasselbe Schema findet sich schon bei Platon und Aristoteles. Es ist die ontologische Dreiteilung von πρᾶγμα (εἶδος), νόημα und ὄνομα. Das stoische λέκτον ist also gleichbedeutend mit dem νόημα (…). [D]as sind drei Elemente in der stoischen Logik, die auch schon bei Platon und Aristoteles begrifflich fixiert sind. Es kann also auch nicht die Rede davon sein, daß diese Betrachtungsweise (…) bei Aristoteles ‚vorbereitet’ wird: [S]ie ist bei Platon und Aristoteles schon längst da (…).59
Unter Umständen kann man mit Hennigfeld schlussfolgern:
Es liegt nahe, die Wahrheit in der Mitte zu suchen: Die Stoiker antizipieren zwar nicht moderne Sprach- und Satztheorien; sie gehen jedoch über Aristoteles (und Platon) hinaus, was sich zumindest an der Terminologie belegen läßt. Damit ist allerdings nicht viel gewonnen.60
Nicht viel gewonnen deshalb, weil das Verständnis des λέκτον für die Stoa letztlich nur unbefriedigend bestimmt werden kann. Die eindeutigen Aussagen über λέκτον müssen begrenzt bleiben, weil der Begriff innerhalb der Stoa vielfältig verwendet wird.
Zusammenfassung:
Die Stoa macht die Sprachphilosophie zum zentralen Untersuchungsgegenstand der Philosophie. Wichtigster Ansatzpunkt ist die von Aristoteles vorgenommene Unterscheidung des sprachlichen Zeichens in eine Ausdrucks- und Inhaltsseite. Sie wird von der Stoa aufgenommen und konkretisiert. Die φωνή als Ausdrucksseite wird zum Bezeichnenden, wenn mit ihrer Hilfe ein Laut erzeugt wird. Die Laute können unartikuliert oder artikuliert sein und werden für körperlich erklärt. Die artikulierten Laute sind die Laute des Menschen, die eng an den λόγος gebunden sind. Neben der Bestimmung des Wesens der Sprache gehört der Aufbau der Sprache zu der Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens. Hier folgen die Stoiker den ihnen bereits bekannten Einteilungen in Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze und Texte. Was die Wortarten betrifft, so fügt Antipater von Tarsos (200–129 v. Chr.) das Adverb hinzu, Chrysipp (276–204 v. Chr.) teilt das Substantiv in Eigennamen und Appellative.
Während bei Aristoteles drei Komponenten der Sprache unterschieden werden, die Dinge (πρᾶγμα), die Eindrücke in der Seele hinterlassen (παθήματα τῆς ψυχῆς) und das Wort (ὄνομα), kommt bei den Stoikern das λέκτον als viertes Element hinzu. Die aristotelischen παθήματα τῆς ψυχῆς zerfallen in eine „‚psychische’ und eine ‚ideelle’ Komponente“61. Das λέκτον zeigt uns das reale Ding an, wenn wir das im Lautbild dargestellte Objekt gleichzeitig denken. Damit wird aber auch deutlich, dass es unkörperlich sein muss, im Gegensatz zur Stimme und dem Objekt selbst.62 Der Laut weist auf das λέκτον hin, welches wir jedoch erst verstehen können, wenn in unserem Denken (λόγος) der Bezug zum konkreten Objekt hergestellt wird. Das λέκτον ist folglich eng an den λόγος gebunden. Es existiert zwischen dem Gedanken und der Sache, ist aber anders als die platonische Idee direkt an die sprachliche Äußerung gekoppelt. Durch die Trennung von Ausdrucksseite und Bedeutung und die differenzierte Ausgestaltung letzterer erfährt die Sprache eine Abwertung. Da eine stimmliche Äußerung nicht mehr direkt auf das Objekt verweist, sondern auf das abstrakte λέκτον, zerfallen „die einheitlichen Leistungen der Sprache (…), wenn den Bedeutungen ein eigener ontologischer Status zugesprochen wird“63.
Die Stoa entwickelt ihre Position bezüglich der φύσει-θέσει-Theorien in Auseinandersetzung mit den Skeptikern und den Epikureern. Im Gegensatz zur stoischen Sprachphilosophie hat die der Epikureer für die weitere sprachwissenschaftliche Entwicklung nur eine geringe Bedeutung.64 Die Stoa nimmt in der Diskussion letztlich eine Mittelposition ein: Die Wörter gelten als vom Menschen gesetzt; die namengebenden Menschen orientieren sich bei der Setzung jedoch an der φύσις der Dinge und zwar in Form der Nachahmung.