Читать книгу Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses - Nadine Treu - Страница 9

3. Von der antiken Sprachphilosophie über Philon zu Paulus: Begründung der Vorgehensweise

Оглавление

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Beginn und der Entwicklung sprachphilosophischer Fragestellungen. Es ist erforderlich, weil „die Verflechtung des Christentums in die allgemeine Geschichte“ zu berücksichtigen ist und weil „die Aufgabe seiner Erforschung und Wertung nur von dem großen Zusammenhang der Gesamtgeschichte“1 her in Angriff genommen werden kann, wie Ernst Troeltsch in seinem epochalen Aufsatz über die Methoden der Theologie formuliert hat. Was für den gesamtgeschichtlichen Zusammenhang und das Christentum allgemein gilt, trifft auch für Paulus und für einzelne thematische Aspekte, wie den der Sprache, zu. Weil sich die Theologie und die Philosophie gegenseitig beeinflusst haben, stellt sich mit Schnelle die Frage, „ob einzelne ntl. Autoren wie Paulus und Johannes gezielt an philosophisch-religiösen Diskursen teilnahmen“ und ob „sie bewusst Schlüsselbegriffe der antiken Philosophie in ihre Argumentation [integrierten], um so gezielt Anschlussfähigkeit herzustellen“2. In diesen Fragen geht es nicht um

passive Vorgänge wie traditions- bzw. religionsgeschichtliche Beeinflussungen, sondern [um] aktive Prozesse: die Übernahme philosophischer Begriffe und Ideen, die Integration philosophischer Themen in die eigene Argumentation, die Teilnahme an umfassenden philosophisch-theologischen Diskursen.3

Die Auseinandersetzung mit den theoretischen Überlegungen zur Sprache, die sich in der antiken Umwelt entwickelt haben und im ersten nachchristlichen Jahrhundert vorhanden sind, liefert also die Voraussetzung dafür, das Spezifische des paulinischen Sprachverständnisses herausstellen zu können. Nur wenn man die antiken sprachphilosophischen Begriffe und Ideen berücksichtigt, kann aufgezeigt werden, wo Paulus an bereits erarbeitete Sprachvorstellungen anknüpft, welche Fragestellungen er nicht aufgreift oder wo er eigene, neue Positionen formuliert. Damit diese Einordnung erfolgen kann, ist es notwendig, die Entwicklung der antiken Sprachphilosophie mit ihren wichtigsten Frage- und Problemstellungen darzulegen. Ernst Troeltsch fasst dies unter dem Kriterium der Kritik zusammen: Die ntl. Texte unterliegen vorerst der „historischen Kritik“, weil „jede Einzeltatsache unsicher“4 ist.5 Damit Aussagen an Wahrscheinlichkeit gewinnen, muss „die Erklärung und Darstellung vom Gesamtzusammenhang ausgehen“, denn „nur vom Gesamtzusammenhang aus kann ein Urteil über das Christentum gewonnen werden“6. Dieser Gesamtzusammenhang, von dem aus sich das paulinische Sprachverständnis erhellen lässt, ist zum einen die antike Sprachphilosophie, zum anderen das frühjüdische Sprachverständnis Philons. Weil „[j]eder Moment und jedes Gebilde der Geschichte (…) nur im Zusammenhang mit anderen und schließlich mit dem Ganzen gedacht werden kann“7, ist es unerlässlich, zu versuchen, dieses Ganze auch für einen bestimmten Themenkomplex zu erfassen. Indem die zentralen Entwicklungen und Fragestellungen der antiken Sprachphilosophie aufgezeigt werden, wird versucht, den allgemeinen Rahmen für die Auseinandersetzung mit Sprache zu erschließen, obgleich dies nie vollständig geschehen kann. Das paulinische Sprachverständnis soll also nicht isoliert betrachtet werden, sondern im Kontext der wichtigsten sprachphilosophischen Fragestellungen der Antike. Zugleich ist es dabei notwendig, sich auf die zentralen Autoren und Entwicklungen zu beschränken.8 Neben der Kritik führt Troeltsch zwei weitere Kriterien an, die zum historischen Verstehen beitragen:9 Analogie und Korrelation. Durch Analogien können die Wahrscheinlichkeiten einzelner Aussagen erhöht werden; indem nach Analogien gesucht wird, wird die Kritik bzw. der Unsicherheitsfaktor historischen Verstehens ernst genommen und der Versuch unternommen, den Faktor der Unwahrscheinlichkeit zu verringern.10 Für die vorliegende Untersuchung ist nach Analogien in zwei Richtungen zu fragen: Zum einen nach Analogien in philosophischen, profangriechischen Texten, die sich theoretisch mit dem Thema Sprache auseinandersetzen, zum anderen in den Texten Philons, die Analogien für den jüdisch-hellenistischen Kontext ermöglichen; beide sind nach thematischen und begrifflichen Analogien zum paulinischen Sprachverständnis zu befragen, um dieses besser verstehen und einordnen zu können. Damit einher geht die dritte von Troeltsch geforderte Kategorie, die Korrelation: Es gibt keine „Erscheinungen des geistesgeschichtlichen Lebens, wo keine Veränderung an einem Punkte eintreten kann ohne vorausgegangene und folgende Aenderung an einem anderen, so daß alles Geschehen in einem beständigen korrelativen Zusammenhange steht“11. Das heißt nicht, dass nichts Neues entstehen kann, sondern allein, dass geschichtliche, philosophische, kulturelle und religiöse Ereignisse dort, wo neue Gedankengänge entwickelt werden, zum besseren Verständnis dieser beitragen können, weil sie der „Wechselwirkung aller Erscheinungen des geistesgeschichtlichen Lebens“12 unterliegen. Vor dem Hintergrund der profangriechischen sprachphilosophischen Entwicklungen und Fragestellungen kann eine Einordnung des paulinischen Sprachverständnisses in den antik-philosophischen Sprachdiskurs vorgenommen werden. Der Vergleich mit Philon präzisiert diese Einordnung, indem der kulturelle und religiöse Rahmen mit dem hellenistischen Judentum exakter abgegrenzt werden kann.

Dieser Rahmen stellt die erste von zwei wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen Philon und Paulus dar, die die Grundlage dafür bilden, weshalb gerade philonische Texte als zusätzlicher und vergleichender Bezugsrahmen gewählt wurden. Wenn also abschließend das paulinische Sprachverständnis mit dem philonischen verglichen werden soll, ist es unumgänglich, das Verhältnis der beiden Autoren und ihrer Texte zu reflektieren. Der Versuch einer solchen Standortbestimmung wurde 2003 auf dem I. Internationalen Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum in Eisenach und Jena unternommen.13

Philon selbst kannte die Jesusbewegung mit großer Sicherheit nicht. Ob die ntl. Schriftsteller Philon bewusst wahrgenommen haben, kann nicht abschließend geklärt werden, bleibt aber unwahrscheinlich.14 Einzig die Möglichkeit, dass der Jude Apollos philonische Ideen und Konzepte in Korinth verbreitet hat, erscheint möglich.15 In der aktuellen Forschung wird Philon eigenständig und unabhängig von den ntl. Schriften behandelt. Das wirkt der Philoninterpretation der Alten Kirche entgegen, die die Schriften „als Kronzeugen für die eigene, christliche Theologie heranzog und (…) zur Erklärung des Alten und Neuen Testaments gebrauchte“16. Die Untersuchung zu Philon und Paulus soll nicht im Sinn eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines Ableitungsmodells vorgenommen werden – das gilt auch in Bezug auf die zeitgenössische Philosophie17 –, sondern von zwei Seiten Bedeutung erlangen und einer wechselseitigen Erhellung dienen: Die Ergebnisse der Philonuntersuchungen können dazu beitragen, die ntl. Texte besser zu verstehen und ihren kulturellen und religiösen Rahmen aufzuzeigen, gleichzeitig sollen von den ntl. Schriften Impulse für das Verständnis der Texte des Diaspora-Judentums ausgehen.18

Philon und Paulus teilen zwei Gemeinsamkeiten: Die erste liegt, wie bereits angesprochen, im hellenistischen Judentum als kulturell-religiösem Kontext. Philon, eine knappe Generation vor Paulus geboren, lebte wie der Apostel selbst in der antiken Welt des ersten nachchristlichen Jahrhunderts; Philon ist ein Autor, „den wir als Persönlichkeit fassen können“, und deshalb schlussfolgert Pohlenz richtig, wenn er schreibt, dass darin „seine geistesgeschichtliche Bedeutung“19 liegt. Philon und Paulus stammen aus dem Diasporajudentum. Dies liefert ihre kleinste gemeinsame Schnittmenge. Zudem wird auch für Paulus vermutet, dass er von der hellenistischen Philosophie beeinflusst ist. Wie weit diese aufgegriffen, bearbeitet, neu gedacht oder gar nicht bedacht wird, kann der Vergleich zeigen. Dabei liegt in der Tatsache, dass uns eine Vielzahl der philonischen Schriften erhalten ist, ihre besondere Relevanz. Die philonische Argumentation umfasst in der Regel mehrere Bereiche und Ebenen;20 so wird in den Texten ein breites Spektrum von jüdisch-hellenistischem Gedankengut sichtbar, das auch als geistiger Horizont für die Texte des frühen Christentums gilt.21 Die größere Textbasis bei Philon erlaubt es, mehrere Faktoren zu berücksichtigen, als es für das Corpus Paulinum überhaupt möglich ist. Das wird sich auch bei der Erarbeitung der Sprachverständnisse zeigen. Die Verwendung gemeinsamen Gedankenguts ist auf eine indirekte Linie zurückzuführen, da beide im gleichen geistigen Milieu verortet werden können;22 dennoch ist keine direkte Linie zwischen paulinischen und philonischen Texten herzustellen, ebenso wie eine literarische Abhängigkeit abzulehnen ist.23 Auch die Ziele, derentwegen die jeweiligen Texte verfasst wurden, sind unterschiedlicher Art. Philon schreibt apologetische Schriften, um das Judentum nach außen zu verteidigen und zu repräsentieren. Die allegorischen Traktate, zu dem auch Conf zu zählen ist, sind primär für ein ausgewähltes, gebildetes jüdisches Publikum verfasst,24 nicht als Briefe, sondern gezielt als literarische Texte. Paulus hingegen schreibt Briefe an die von ihm gegründeten christlichen Gemeinden. Er ist in erster Linie Missionar, in diesem Zusammenhang aber argumentiert er auch theologisch und begründet seine Argumentationen mit Rückgriff auf die atl. Schriften.25

Im Bezug auf die Schrift liegt ihre zweite Gemeinsamkeit.26 Für Philon zeigt sich dies besonders in den allegorischen Schriften, aber auch darüber hinaus ist die Schrift für Philon Hauptbezugstext. Runia hat vermutlich nicht Unrecht, wenn er sagt, dass Philon sich selbst in erster Linie als Kommentator gesehen hat und sich durch diesen Blick ein wesentlicher Zugang zu den philonischen Texten eröffnet.27 Auch in der Untersuchung zum Sprachverständnis wird sich deutlich zeigen, dass Philon in der Tradition der Schrifterklärung steht; so stellt beispielsweise der Genesistext über den Turmbau zu Babel den Rahmen für den Traktat Conf. Das philosophische Interesse Philons ist damit nicht abzuwerten, aber es erlangt nicht dieselbe Autorität wie die Schrift; Philon benutzt die Philosophie dazu, die atl. Schriften zu erklären. Auch das frühe Christentum war „weder eine ‚schriftlose’ oder gar illiterate Gruppierung“, auch sie „hatten die Schrift, die sie reichlich benutzten und als interpretierende – und neu interpretierte – Grundlage ihrer eigenen Religion verwendeten“28. Dies gilt auch für Paulus: Er zitiert aus verschiedensten Teilen der Schrift,29 greift z.B. in 1 Kor 14,21 auf Jesaja zurück. In 1 Kor wird aber noch an weiteren Textstellen ersichtlich, dass Paulus davon ausgeht, dass die Gemeinde mit den Inhalten der Schrift vertraut ist. Er spielt in 1 Kor auf Aspekte der Schöpfungs- oder Exoduserzählung, auf Regeln und Verbote der Tora oder auf allgemeine jüdische Praktiken oder jüdisches Gedankengut an, ohne sie näher zu erklären.30 Für eine große Anzahl an direkten oder indirekten Zitaten gilt aber, dass sie, auch ohne dass die atl. Kontexte offengelegt werden, verständlich sind.31 Paulus untermauert seine eigene Argumentation durch Schriftzitate; dabei hat die Schrift nicht nur „als – hoch geschätztes – Gesetz des Mose“ Autorität, „sondern als Prophezeiung des Kommens Jesu“32. Paulus verleiht auch seinen eigenen Texten Autorität, indem er der Schrift eine solche zuspricht und sie in seinen Briefen zitiert.33 Paulus greift die Schrift auch auf, ohne sie als Zitat kenntlich zu machen, oder er modifiziert den Wortlaut;34 dann sind die Zitate als solche für die Korinther – sofern sie die Originalstellen nicht dezidiert kannten – nicht erkenntlich.35 Wie Paulus die Schrift interpretiert und einsetzt, gibt also nicht nur Auskunft über sein Schriftverständnis, sondern auch über sein eigenes Denken. 36 Indem Paulus lediglich aus jüdischen Schriften und nicht aus der Profangräzität zitiert, wird die Bedeutung ersterer für Paulus deutlich.37

Mit dem jüdischen Hintergrund und dem Bezug auf die Schrift weisen Philon und Paulus zwei Gemeinsamkeiten auf, die die profangriechischen Autoren nicht bieten können. Es ergibt sich daraus nicht nur der Nutzen, dass die philonischen und paulinischen Texte in ihren Besonderheiten näher erklärt werden können, sondern sogar eine Notwendigkeit,

[d]enn erst wenn auch das Neue Testament als eine in großen Teilen jüdische Schriftensammlung selbstverständlicher Teil der Beschäftigung mit dem Frühjudentum38 ist, kann von der Überwindung der alten, religiös bedingten Gegensätze in der Erforschung dieser sensiblen Zeitepoche um die Zeitenwende gesprochen werden.39

Die Perspektive auf das Thema ‚Sprache’ ist also insgesamt eine historische. Die historisch-kritische Exegese stellt den methodischen Rahmen der Arbeit dar; sie wird v.a. durch die historische Linguistik in Form der linguistischen Semantik unterstützt. So liegt ein Schwerpunkt dieser Arbeit auf der semantischen Analyse verschiedener Lexeme, die in 1 Kor 14 vorkommen (u.a. χάρισμα, πνεῦμα, νοῦς, δύναμις, προφητεία, γλῶσσα, φωνή, σημεῖον, διδαχή oder οἰκοδομή). Diese Analyse kann dazu beitragen, das paulinische Sprachverständnis als eigenständigen Beitrag zu charakterisieren, ebenso aber mit den antiken Begriffen und Fragestellungen zu vergleichen. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Analyse der Struktur der Texte, um zu sehen, wie Paulus bei der argumentativen Entfaltung seines Sprachverständnisses vorgeht.

Leitendes Ziel dieser Untersuchung ist es, das paulinische Verständnis von Sprache anhand von 1 Kor 14 herauszuarbeiten. Dieses entwickelt sich seinerseits im Rahmen des antiken Sprachdiskurses, der in besonderer Deutlichkeit von der griechischen Philosophie einerseits und frühjüdischen Positionen andererseits abgebildet wird. Ein zweites Ziel ist es daher, das paulinische Verständnis als qualifizierten Beitrag im frühkaiserzeitlichen Diskurs über Sprache zu werten und in diesem Diskurs als eigene Stimme zu positionieren.

Die Bedeutung der Untersuchung für die neutestamentliche Wissenschaft liegt damit zu allererst im Bereich der Paulusforschung. Das christliche Verständnis von Sprache wird an seinem Beginn erfasst, indem das erste schriftliche Zeugnis, 1 Kor 14, thematisch untersucht wird. Das Sprachverständnis des Paulus wird sich als eine wichtige Komponente seiner Geisttheologie erweisen. Die Einbeziehung der antiken Sprachphilosophie schafft dabei einen ebenso weiten wie genauen Interpretationsrahmen, der die Herausarbeitung der Schwerpunkte und Eigenarten des paulinischen Umgangs mit dem Thema Sprache und seine historische und sachliche Kontextualisierung ermöglicht.

Daraus ergibt sich die Gliederung der Arbeit: Sie führt zunächst in die wichtigen sprachphilosophischen Fragestellungen der Antike ein und untersucht nachfolgend das Sprachverständnis Philons. Im Anschluss daran wird das paulinische Sprachverständnis erarbeitet. In einem letzten Teil erfolgt der Vergleich zwischen Paulus und der antiken Sprachphilosophie bzw. Philon, der in das abschließende Resümee mündet. Dieses zeigt die positiven und negativen Analogien zwischen Paulus und den profangriechischen und den frühjüdischen Texten auf und positioniert das paulinische Sprachverständnis im antiken Sprachdiskurs. Abschließend wird thematisiert, inwiefern die Ergebnisse einen Beitrag zum intellektuellen Profil des Paulus liefern können.

Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses

Подняться наверх