Читать книгу Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses - Nadine Treu - Страница 7

I. Einführung in die Themenstellung, den Stand der Forschung und die Vorgehensweise 1. Einführung in die Themenstellung

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Eine Welt ohne Sprache wäre (…) eine sehr arme Welt. Aber vermutlich mehr noch: Es wäre eine Welt, in der es vieles, was uns in unserer Lebensform als wesentlich gilt, nicht gäbe. Eine menschliche Lebensform ohne Sprache ist wohl keine menschliche Lebensform.1

Was Georg W. Bertram in seiner Einführung in die Sprachphilosophie schreibt, gilt im 21. Jahrhundert ebenso wie für die Autoren der gesamten Antike und für Paulus im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Nicht nur die Tatsache, dass Sprache zum Wesen des Menschen gehört, ist festzuhalten, sondern auch, dass es seit der Antike einen intensiven Diskurs über Sprache und ihr Wesen gibt; dieser stellt – die Stoa ausgenommen – allerdings keinen eigenständigen Bereich der Philosophie dar, sondern ist eingebettet in den der Ontologie, der Metaphysik oder der Erkenntnislehre.2 Auch für Paulus spielt die Sprache eine große Rolle; sie ist das Handwerkszeug, mit dem er arbeitet – ungeachtet dessen, dass er in 2 Kor 11,6 als unkundig in der Rede angefeindet wird. Sie ermöglicht es ihm, in Form von mündlicher Kommunikation, das Evangelium weiterzugeben, und dient ihm in schriftlicher Form dazu, mit seinen Gemeinden in Kontakt zu bleiben. Diese praktische Sprachtätigkeit des Paulus liegt nicht im Interesse der Untersuchung, sie kann und soll nicht in Bezug zu der aktiven Sprachtätigkeit der antiken Philosophen oder Philons gesetzt werden, obgleich auch Philon gelehrt und Vorträge gehalten hat. Es soll auch nicht erarbeitet werden, was Inhalte des paulinischen Sprechens und der paulinischen Verkündigung sind und wie die praktische Verwendung von Sprache durch Paulus aussieht. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Paulus, wenn er selbst in derart hohem Maß mit Sprache konfrontiert ist, sich auch auf einer theoretischen Ebene mit Sprache auseinandersetzt, ob er Fragen des antiken Sprachdiskurses aufgreift, und ob er als eigene Stimme in diesem Diskurs positioniert werden kann. Im Allgemeinen ist das für die paulinischen Briefe nicht der Fall. Paulus reflektiert Sprache auf theoretischer Ebene kaum, obwohl er fortwährend mit Sprache zu tun hat. Eine Ausnahme scheint 1 Kor 14 zu sein: Im Rahmen der Charismenlehre in 1 Kor 12–14 verwendet Paulus besonders konzentriert Vokabular aus dem Bereich ‚Sprache’. Das zeigt die folgende Übersicht, ohne dass dabei eine vollständige Untersuchung des lexikalisch-semantischen Paradigmas erfolgen kann und soll.3




Die Übersicht zeigt, dass Paulus zwar nicht alle Lexeme des Wortfelds ‚Sprache’ verwendet, dass die Lexeme dieses Wortfelds in 1 Kor 12–14 insgesamt aber gehäuft vorkommen. Das gilt v.a. für γλῶσσα, λαλέω, διδαχή, φωνή, ἑρμηνεύω/διερμηνεύω, ἑρμηνεία und διερμηνευτής. Die vier zuletzt genannten Lexeme werden ausschließlich in diesen drei Kapiteln verwendet. Die Lexeme γλῶσσα, λαλέω und φωνή sind auch in weiteren Paulusbriefen belegt, treten in 1 Kor 12–14 aber konzentriert auf. Besonders verdichtet ist das Vokabular aus dem sprachlichen Bereich in 1 Kor 14,6–12. Bereits im ersten Vers wird durch die Wendungen γλώσσαις λαλεῖν, λαλεῖν ἐν ἀποκαλύψει/ἐν γνώσει/ἐν προφητείᾳ/ἐν διδαχῇ der Fokus auf die sprachlichen Äußerungen gerichtet. In 1 Kor 14,7–11 finden sich alle Belege des Lexems φωνή für 1 Kor; von besonderem Interesse ist 1 Kor 14,10 f und die Formulierung δύναμις τῆς φωνῆς. Auch das Lexem λαλέω verzeichnet ¼ seines Vorkommens im 1. Korintherbrief in den genannten Versen.

Das Lexem λόγος kommt vergleichsweise selten vor, was zeigt, dass 1 Kor 14 nicht vorrangig geformte Sprache thematisiert und dass nicht der Inhalt einer sprachlichen Äußerung, wie etwa der λόγος τοῦ σταυροῦ, im Vordergrund steht. 1 Kor 14 beschäftigt sich in erster Linie mit den ‚formalen’ Aspekten von Sprache, mit deren Funktion, Wirkung und Ziel. Diese Ansicht wird dadurch unterstützt, dass Ausdrücke wie beispielsweise εὐαγγέλιον und κήρυγμα fehlen. Paulus stellt Überlegungen an, die auf die Funktionen und Wirkungen einer sprachlichen Äußerung gerichtet sind und deren ethische Relevanz betonen.

Die Begriffe, die zur Umschreibung der Charismen der Prophetie und der Glossolalie dienen, setzt Paulus in 1 Kor 12–14 besonders häufig ein. Das weist die prophetische und glossalische Rede als die beiden Sprachgaben aus, die für die Erarbeitung des paulinischen Sprachverständnisses von besonderer Bedeutung sind. Insgesamt gibt die konzentrierte Verwendung der Lexeme in 1 Kor 14, v.a. in 1 Kor 14,6–12, die dem Wortfeld Sprache zuzurechnen sind, Anlass, das Kapitel unter diesem Aspekt zu untersuchen.

Die genannte Texteinheit ist die älteste Quelle des Christentums für ein eigenes Sprachverständnis und liefert damit zugleich den historischen und sachlichen Ausgangspunkt für den Umgang des frühen Christentums mit Sprache. Daraus ergibt sich die exegetische Fragestellung der Arbeit: Welche Sicht hat Paulus auf das Thema ‚Sprache’? Die Steuerungsfragen können durch die Exegese von 1 Kor 12–14 und durch die Beschäftigung mit der Entwicklung der Sprachphilosophie differenzierter gestellt werden: Wie ist die Entstehung von Sprache zu denken? Wie funktioniert Sprache? Welche Relationen zwischen Wort und Sache können ausgemacht werden? Welche Funktionen, Aufgaben und Ziele hat Sprache? Wo werden Grenzen von Sprache deutlich? Paulus thematisiert diese Fragen zum Thema Sprache wie andere Themen situationsbezogen bzw. praktisch, indem er von einer konkreten Problemstellung in der Gemeinde ausgeht. Er behandelt das Thema Sprache nicht als Gegenstand einer eigenen thematischen Untersuchung, sondern äußert sich im Rahmen der Charismenlehre über den Nutzen solcher Gaben, die als Wort- oder Sprachgaben bestimmt werden können. Das führt ihn zu theoretischen Überlegungen, die Thema der Untersuchung sind. Um sie richtig verstehen und einordnen zu können, ist die Kenntnis des historischen Kontexts von Bedeutung; erst vor diesem Hintergrund können die Spezifika des paulinischen Sprachverständnisses als solche bestimmt werden und erst im Anschluss daran kann folgender Frage nachgegangen werden: Wie ist die paulinische Sprachauffassung im historischen Kontext positioniert?

Der antike Diskurs über Sprache wird als Sprachphilosophie bezeichnet. Der Terminus hat sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts etabliert.4 Allgemein kann Sprachphilosophie definiert werden als „die Aufgabe, den Begriff der Sprache aufzudecken, also grundlegende Fragen in Bezug auf Sprache zu beantworten.“5 Diese Fragen betreffen „die Entstehung, Entwicklung, Bedeutung und Funktion von Sprache“6. Dabei ist anzumerken, dass es nicht die eine Sprachphilosophie gibt, sondern eine große Anzahl an Fragestellungen, die unterschiedlich bearbeitet und beantwortet werden.7 Gelegentlich werden Sprachphilosophie und Sprachtheorie synonym verwendet. Erstere kann sinnvoll so definiert werden, dass sie die „phonetischen, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekte der Sprache als ihren genuinen Gegenstand“8 im Blick hat. Auf theoretischer Ebene hat wohl erst die Stoa all diese Aspekte betrachtet. Zuvor wird Sprache im Zusammenhang mit verschiedenen philosophischen Teildisziplinen behandelt. Die Autoren haben jeweils Teilbereiche, die zu einer Sprachtheorie gehören, im Blick, decken aber nicht alle Aspekte ab. Die Sprachphilosophie ist außerdem von der Sprachethik abzugrenzen. Sie ist nicht Teil der antiken Sprachphilosophien, wird aber einen Teil des philonischen Sprachverständnisses kennzeichnen.

Von einer paulinischen Sprachphilosophie kann nicht gesprochen werden, da Paulus sich nicht im Rahmen philosophischer Überlegungen mit Sprache beschäftigt; stattdessen wird sowohl für Paulus als auch für Philon der Begriff des Sprachverständnisses gebraucht. Dieser kann und wird sowohl sprachphilosophische und bei Philon auch sprachethische Aspekte in sich vereinen, lässt aber dennoch Raum für die paulinischen und philonischen Spezifika, weil er nicht den bereits vorhandenen Definitionen der Sprachphilosophie unterliegt.

Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses

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