Читать книгу Die Jägerin - Vergangenheit und Gegenwart (Band 3) - Nadja Losbohm - Страница 10
7. Zurück zur Normalität
ОглавлениеWährend Pater Michaels Genesungsphase war ich daheim geblieben. Ich hatte es mich einfach nicht gewagt, ihn allein zu lassen. Auch wenn er erstaunlich wenig Zeit gebraucht hatte, sich zu erholen, was mich immer noch verblüffte und, zugegebenermaßen, auch ein klitzekleines bisschen neidisch machte, wartete ich immer noch auf einen Rückfall. Der, wie konnte es anders sein, nicht eintrat. Selbst als er am Sonntag nach seinem „Scheintod“ vor seiner Gemeinde stand und zu ihr sprach, saß ich in der letzten Reihe und wippte nervös mit dem Fuß auf und ab, weil ich mir Sorgen machte, dass seine Arbeit ihn überanstrengen könnte. Er hingegen war wieder ganz der Alte. Für ihn schien alles so zu sein wie vor jener Nacht, als er sich hatte erschießen lassen. „Abgebrühter Mistkerl,” dachte ich und kicherte still in mich hinein, während Pater Michael seine Schäfchen zu einem Gebet aufforderte.
Doch auch mein Urlaub war an diesem Sonntag vorüber, und als die Nacht anbrach, war ich bewaffnet bis an die Zähne und in Begleitung Pater Michaels auf dem Weg zum Portal. Doch als ich dort angelangte, packte er mich am Handgelenk und zog mich von dem Tor weg. „Halt!“, rief er aus. „Denkst du nicht, dass du etwas vergessen hast?“, fragte er und sah mich erwartungsvoll an.
Ich blickte unsicher in der Gegend umher und überlegte. Nach einer Weile leuchtete vor meinem inneren Auge eine kleine Glühbirne auf, als mir die Antwort auf seine Frage eingefallen war. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und gab Pater Michael einen Abschiedskuss auf den Mund. Als ich mich wieder von ihm gelöst hatte, lächelte ich, stolz darauf, dass ich sein Rätsel gelöst hatte, und wandte mich erneut zum Portal, um zu gehen. Weit kam ich jedoch nicht, denn der Padre hielt mich weiterhin fest. Erstaunt blickte ich zu ihm auf.
„Das war wirklich süß, und ich danke dir dafür. Aber das war es nicht, was ich gemeint hatte,“ erklärte er und gab mir etwas Zeit zum Nachdenken.
Verwirrt starrte ich ihn an und überlegte fieberhaft, was ich vergessen haben könnte. In Gedanken ging ich die Momente durch, die unserem Weg zum Portal vorangegangen waren. Ich hatte mich für die Jagd fertig gemacht. Mit sicheren Griffen und ohne großartig zu überlegen, hatte ich meine Waffen angelegt. Ich wusste, dass Routine gefährlich sein konnte. Routine lässt uns manchmal unaufmerksam werden. Wir sind uns sicher, wir beherrschen dieses oder jenes so gut, weil wir es schon an die einhundert Mal getan haben. Aber genau darin liegt oftmals der Fehler. Man wird blind für Details. Doch ich erinnerte mich gut an jede Handbewegung und spürte zudem das Gewicht des Schwertes an meiner Hüfte, fühlte das feste Metall der Pistole im Halfter an meiner Seite. Auch die Präsenz des Bogens, der über meiner Schulter hing, und die Pfeile, die in dem Köcher auf meinem Rücken steckten, war deutlich genug und bewies, dass ich nichts zurückgelassen hatte.
„Was ist hiermit?“, fragte Pater Michaels Stimme und brachte mich dazu, aufzublicken. Ich sah, dass sein Arm in der Luft hing und folgte mit meinen Augen seinem Weg, an dessen Ende sich der lang ausgestreckte Zeigefinger befand und auf den Bildschirm deutete, den der Padre vor nicht allzu langer Zeit aus meiner Meinung nach völlig irrationalen Beweggründen dort angebracht hatte. Ich hatte damals versucht, es zu verstehen, doch es war mir nur bedingt geglückt. Daher verstand ich es nun noch weniger, was er damit wollte. „Solltest du nicht vorher nachsehen, ob der Platz vor der Kirche frei ist von potenziellen Angreifern?“, fragte er und musterte mich eingehend. „Hätte ich dich heute nicht hierher begleitet, hättest du dann daran gedacht?“, wollte er von mir wissen.
„Ja, natürlich!“, erwiderte ich rasch. Aber es war einen Tick zu schnell hervorgeschossen. Auch trugen meine großen runden Augen und der unschuldige Blick nicht dazu bei, Pater Michael davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit gesprochen hatte. Seine Lippen wurden zu einer schmalen Linie. Die Mundwinkel zogen sich nach unten. Seine dunklen Augen verengten sich, als er mich prüfend ansah. „Das war eine Lüge!“, stellte er schließlich fest, trat von mir zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Fassungslos schüttelte er den Kopf. „Du lügst mich diesbezüglich an und das vor seinen Augen?“, fragte er und nickte mit dem Kopf in Richtung Altar, über dem das Gemälde Jesu Christi hing und uns beobachtete.
Seufzend verdrehte ich die Augen. „Es tut mir leid, Michael,“ entschuldigte ich mich. „Aber,“ – natürlich konnte ich es nicht auf mir sitzen lassen, dass er mich als Lügnerin bezeichnet hatte - , „du hast selbst gesagt, ich hätte ein angeborenes Talent der Selbstverteidigung. Du hast mich mit der Frage über den Bildschirm ebenso überrascht wie der Angriff eines Monsters, das aus einer dunklen Ecke hervorgesprungen kommt. Ich habe mich angegriffen gefühlt und mich verteidigt. Mein Selbstverteidigungsinstinkt oder ausgeprägter Überlebenswille hat mir sofort gesagt: ,Lüge!‘, und das habe ich getan,“ rechtfertigte ich mein Handeln.
Pater Michaels linke Augenbraue wanderte ein Stück weit höher, und sein Mund verzog sich missbilligend, aber so ganz konnte er das Lächeln nicht verbergen, das meine Worte hervorlockten. „Du hast wohl immer eine Ausrede parat, oder?“, fragte er. Ich zuckte mit den Schultern und grinste. „Nun gut,“ sagte der Padre und ließ die Arme entspannt an seine Seiten fallen, „Selbstverteidigungsinstinkt hin oder her. Wenn wir dieses kleine Hilfsmittel nun schon einmal hier haben, dann tue mir den Gefallen und nutze es. Es ist nicht nur dazu da, um übermäßig besorgte Priester zu beruhigen, sondern auch um Jägerinnen vorzuwarnen, die nie um eine Antwort verlegen sind.“ Damit fasste er unter den Bildschirm und drückte auf den Knopf, um ihn einzuschalten.
Vor fünf Tagen hatte ich das letzte Mal an dieser Stelle gestanden. Damals allerdings steif gefroren wie ein Stockfisch, ohne jegliche Kontrolle über mich selbst. All diese Ereignisse schienen jetzt so weit weg zu sein. Es kam mir plötzlich so vor, als wären bereits Monate vergangen, dabei war es nicht einmal ganz eine Woche. Alles war wieder normal, nun ja, jedenfalls was unsere Definition von „normal“ anging. Der Platz vor der Kirche sah friedlich und sauber aus. Keine Spur war mehr von dem Massaker zu sehen, das ich angerichtet hatte. Das Aufräumkommando hatte ganze Arbeit geleistet. Pater Michael hing die meiste Zeit über seinen Büchern und kümmerte sich um seine Gemeinde. Er organisierte und kommandierte. Und ich? Nun, ich ging ihm auf die Nerven, weil mir langweilig war. Darin war ich perfekt wie niemand sonst. Aber jetzt stand ich wieder in den Startlöchern und war bereit, den Kampf erneut aufzunehmen. Und Pater Michael war bei mir, um mich in die Nacht zu verabschieden. Alles war wie immer.
Ich war mir nicht sicher, ob sich die Nachricht von Pater Michaels Gesundung in der Monsterwelt bereits herumgesprochen hatte. Allerdings fragte ich mich, wie das hätte gehen sollen. Schließlich hatte ich auf dem Platz vor der Kirche keine Überlebenden zurückgelassen. Und die Monster, die wie Feiglinge abgehauen waren, konnten nur mich als wahnsinnige Rachegöttin in Erinnerung haben und wie ich über den toten Pater hinweggestiegen war, um sie für seine Ermordung büßen zu lassen. Ich nahm also ganz stark an, dass sie es NICHT wussten, dass wir vereint waren wie eh und je und der Padre quietschfidel in seiner Kirche herumsprang. Ob sie wohl wussten, dass ihr großer Anführer, der Vampir, nicht mehr unter uns weilte? Vielleicht ahnten sie etwas, da er seit Tagen verschollen war. Oder aber sie dachten, dass er sich doch lieber wieder nur auf seine eigene Art konzentrierte, anstatt mit den Minderwertigen zu kollaborieren. Egal wie man es drehte, eines war doch ganz klar: Ich war definitiv im Vorteil, denn das Überraschungsmoment lag auf meiner Seite des Spielfeldes.
Es fühlte sich großartig an, wieder zurück zu sein. Als ich in dieser lauen Sommernacht durch die dunklen Straßen lief und mich von einem Schatten zum nächsten bewegte, fühlte es sich toll an, wieder das zu tun, was ich am besten konnte. Das hier war mein Gebiet, und ich beherrschte meine Arbeit einwandfrei. Niemand sah mich. Niemand hörte mich. Bis auf die Kreaturen der Nacht. Und diese spürten mich auch. Oder besser gesagt, sie spürten mein Schwert. Jedes Mal aufs Neue war es faszinierend mit anzusehen, wie sie mich erstaunt mit gelben, grünen oder schwarzen Augen anblinzelten und nicht fassen konnten, dass ich vor ihnen stand. Damit war dann auch die Frage geklärt, ob sie über mein Schicksal Bescheid wussten oder nicht. Sie hatten doch tatsächlich geglaubt, dass ich in jener Nacht getötet worden war. Tss! Einfältige Monsterlein. Hatten sie wirklich geglaubt, es wäre so leicht, mich niederzumachen? Ja, sie hatten. Als sie mich erkannten, grunzten sie verwundert, und mit ihrem Erbsenhirn dachten sie wohl, mein Geist würde vor ihnen stehen. Aber das Schwert eines Geistes ist sicherlich nicht so todbringend wie meines. Und auch kein Pfeil eines Geistes ist so spitz wie meiner.
Mich freute ihre Fassungslosigkeit über alle Maßen. Ich konnte mich bei jeder neuen Begegnung nur schwer wieder in den Griff kriegen und bekam mein hysterisches, verrücktes Lachen kaum unter Kontrolle. Oh, diese Nacht war einfach herrlich! Und nach meinem Geschmack ging sie viel zu schnell vorbei. Aber Morgen ist ja auch noch ein Tag, nicht wahr? Also machte ich mich etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang auf den Weg zurück zur Kirche. Ich kam an einem Spielplatz vorbei, der nur darauf wartete, dass die Kinder am Morgen wieder auf ihm herumtobten. Ich huschte durch Unterführungen, überquerte verlassene Supermarkt-Parkplätze und kam an dunklen, verwinkelten Hauseingängen vorbei. An einer Straßenecke stand eine Laterne, deren Glühbirne in ihren letzten Zügen unentwegt flackerte. Ich war im Begriff, in ihren Lichtkreis zu treten, als ich wenige Meter vor mir eine dunkle, merkwürdig geformte Gestalt entdeckte, die mitten in der Gasse kauerte. Meine feinfühligen Ada-Sensoren sprangen sofort an und ließen mich knapp an der Grenze zum Laternenlicht stehen bleiben. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte angestrengt herauszufinden, was sich da vor mir befand. Meine Ohren sperrten sich weit auf und lauschten den Geräuschen in der sonst verlassenen Gasse. Es dauerte nicht lang, und ich vernahm ein mir bekanntes Schmatzen und Saugen und wusste gleich, wer oder was diese unförmige Gestalt war. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Auch wenn ich denjenigen getötet hatte, der mich mit seiner unheimlichen Macht unter Kontrolle gehabt hatte, ich würde mich nie an diese Dinger gewöhnen. Für mich waren und sind sie immer noch die Schlimmsten von allen: Vampire.
Meine Hand wanderte unter meinen Mantel und zog die einzig wirksame Waffe hervor. Meine Finger rutschten über das Metall der Pistole, und mir wurde klar, dass ich schwitzige Hände bekommen hatte. Soviel zu dem Thema „herrliche Nacht“. Über die Begegnung mit dieser Art von Monstern freute ich mich keineswegs. Aber umdrehen konnte ich nun auch nicht mehr. Nicht nachdem ich wusste, dass der Vampir an einem unschuldigen Menschen hing und dabei war, ihn zu töten. Ich zählte innerlich bis drei, festigte meinen Griff um die Pistole, streckte den Arm aus, zielte auf die zusammengekauerte Gestalt und trat dann in das Licht der Laterne.