Читать книгу Die Jägerin - Vergangenheit und Gegenwart (Band 3) - Nadja Losbohm - Страница 15
12. Pater Michaels Lektion
ОглавлениеDie Patrouille in dieser Nacht war eine sehr willkommene Ablenkung für mich. Ich lief schneller und schlug fester mit dem Schwert zu, als ich es je zuvor getan hatte. Meine Wut verlieh mir diese Kräfte. Ich konnte mich nur nicht einigen, auf wen ich wütender war. Auf Alex, weil er mir all den Schmerz zugefügt hatte und ihn nun wieder aufkommen ließ? Auf Pater Michael, weil er sich auf die Seite meines Bruders gestellt und mir versucht hatte, ein schlechtes Gewissen einzureden? Oder war ich auf mich selbst sauer, weil ich in dieser verdammt großen Stadt ausgerechnet meinen Bruder finden musste und mich von meinen Gefühlen hatte leiten lassen, was in Gegenwart des Padres nicht ratsam gewesen war? Wahrscheinlich war es ein Zusammenspiel von allen dreien, was mich rasend machte. Mein „Heilmittel“, die Jagd, war daher eine herrliche Möglichkeit, mich abzureagieren und um einen klaren Kopf zu bekommen.
Erst im Morgengrauen trat ich über die Schwelle des Portals. Auch wenn es aus meiner Sicht eine gute Nacht gewesen war und es mir gutgetan hatte, meinem Ärger Luft zu machen, war ich dennoch froh und erleichtert, wieder zurück zu sein. Ich freute mich auf eine heiße Dusche, etwas zu trinken und mein warmes Bettchen, das meine Blessuren mit seiner Weichheit verwöhnen würde. Während ich bei dem Gedanken still vor mich hin lächelte, verriegelte ich die Tür, verstaute den Schlüssel wieder in meiner Manteltasche und drehte mich um hundertachtzig Grad, um in Richtung wohlverdienter Erholung zu eilen. Doch als ich das Mittelschiff der Kirche verlassen vorfand, fror mein Lächeln ein, und ich konnte die leeren Holzbänke nur anstarren. Wo sonst jede Nacht mein Empfangskomitee saß und auf meine Rückkehr wartete, herrschte nun gähnende Leere. Es überraschte mich und machte mich traurig, dass Pater Michael nicht da war, um mich mit einem herzlichen Lächeln und einer warmen, festen Umarmung zu begrüßen, die mir jedes Mal verriet, wie erleichtert er war, dass ich gesund zu ihm zurückgekehrt war. Seiner Besorgtheit um mein Wohlbefinden schien ein abruptes Ende gesetzt worden zu sein, und ich fragte mich, wieso er ferngeblieben war. Vielleicht konnte man es auch nicht auf ewig von jemandem verlangen, dass er stundenlang auf ein und demselben Fleck sitzen blieb, nur um ein „Willkommen daheim” zu trällern. Oder vielleicht hatte er solch einen festen Glauben an mich, dass ich immer unversehrt zurückkommen würde, dass er es für überflüssig hielt und es ihn langweilte, hier Däumchen zu drehen.
Wie auch immer, es schien ihm egal geworden zu sein, dass ich mich an seinen Anblick bei meiner Rückkehr schon so sehr gewöhnt hatte, sodass mir die St. Mary’s Kirche nun kalt und fremd vorkam. Es kümmerte ihn nicht weiter, wie sehr ich es mochte, wenn er die Arme ausbreitete und mich nach einer anstrengenden Nacht an sich zog, um mir etwas von der Sicherheit und Geborgenheit zurückzugeben, die ich den Menschen in meiner Heimatstadt gewährt hatte. Es war ihm egal. ICH war ihm egal.
Der Gedanke ließ mich wie angewurzelt neben dem Taufbecken stehen bleiben. Die Worte, die in meinem Kopf noch nachklangen, erinnerten mich an noch jemanden, von dem ich überzeugt war, dass ich ihm egal war: Alex. Das musste es sein! Pater Michael strafte mich mit seiner Abwesenheit, weil ich meine große Klappe zu weit aufgerissen und meinen verletzten Bruder mit Vorwürfen überschüttet hatte. Ich wusste, dass ihm mein Verhalten missfallen hatte. Somit lag die Schuld allein bei mir, dass mich statt seiner warmen, dunklen mit Lachfältchen umrandeten Augen nur die Leere und Stille im Mittelschiff begrüßte. Nun, in Psychologie hatte er wohl bestens aufgepasst, und man konnte Pater Michael nur beglückwünschen. Sein Plan ging vollends auf. Mein schlechtes Gewissen meldete sich sofort. Um es wenigstens ein bisschen zu beruhigen, steuerte ich zunächst das Schlafzimmer des Paters an, in dem Alex lag.
So vorsichtig wie möglich öffnete ich die Tür. Ein gelber Lichtstreifen fiel in das Zimmer und wurde länger und breiter, je weiter ich die Tür öffnete. Er fiel auf das Bett und zeigte mir meinen Bruder. Alex schlief friedlich und ahnte nichts davon, dass ich ihn beobachtete. Ich stellte überrascht fest, dass er zufrieden aussah und sogar lächelte. Vermutlich träumte er gerade etwas sehr Schönes. Ich entspannte mich ein bisschen bei dem Gedanken, dass er sich gut erholte. „Das ist gut,” dachte ich und erkannte, dass es mir wirklich wichtig war zu sehen, dass er okay war.
Leise schloss ich die Tür und machte mich auf den Weg ins Labor, wo ich meine Waffen ablegte. Liebevoll reinigte ich mein Schwert mit einem Tuch von den Gedärmen der Monster, die in dieser Nacht gestorben waren. Die Bewegungen meiner Hände mit dem Tuch über das Metall wirkten fast hypnotisch auf mich, und ich dachte plötzlich daran, dass es jetzt mein einzig verbliebener Freund hier war. Alex hatte ich mit meinen Worten verletzt, und Pater Michael war enttäuscht von mir und meiner scheinbaren Unnachgiebigkeit. Nur mein Schwert hatte ich nicht enttäuscht.
Nachdenklich hielt ich die Klinge vor mein Gesicht und betrachtete das wieder glänzende Metall. Ich drehte das Schwert nach links und dann nach rechts, um das Spiel des Lichts beobachten zu können. Das Metall war so glatt und rein, dass ich mein eigenes Gesicht darin erkennen konnte, in dem Staub, Schmutz und Monster klebten. Ich drehte das Schwert wieder nach links, dann nach rechts und wieder zurück. Und plötzlich tauchte in dem Metall die Gestalt des Paters auf, der mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen lehnte und mich beobachtete. Ich war so tief in meine Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht einmal seine Schritte gehört hatte.
Schweigend öffnete ich den gläsernen Safe und legte mein Schmuckstück in sein Bett aus Samt, damit es sich ausruhen konnte, um in der nächsten Nacht wieder bereit zu sein. Ich zog die Pistole unter meinem Mantel hervor und legte sie in die Schublade. Die Silberkugeln, die ich heute Nacht nicht gebraucht hatte, sortierte ich ordentlich in die silberne Schatulle ein. Ich ging dabei sehr penibel vor. Wahrscheinlich zu penibel, wohlweislich, dass Pater Michael hinter mir stand und mich beobachtete. Dann verstaute ich den Bogen und die Pfeile und legte meinen Mantel ab, in dem die kleinen Messer steckten. Ich nahm das Mobiltelefon, mit dem ich das Aufräumkommando in dieser Nacht etwa ein Dutzend Mal herbeigerufen hatte, aus der Tasche und kontrollierte den Akku, ob er eventuell aufgeladen werden musste. Nur ein Balken wurde angezeigt. Also steckte ich es in meine Hosentasche, damit ich es in meinem Schlafzimmer an den Strom anschließen konnte. Als alles verstaut war, drehte ich mich zum Pater um und ging auf ihn zu.
„Eine anstrengende Nacht?”, wollte er wissen. Ich sah zu ihm auf, und er konnte mein schmutziges Gesicht eingehend betrachten. Er streckte seine Hand aus und strich mit seinem Daumen über mein Kinn. Ich zuckte kurz zusammen, als er die Schürfwunde dort berührte.
„Ist halb so schlimm. Mach dir keine Sorgen,” meinte ich und lächelte gequält.
Er ließ mein Kinn los und nickte. Er hatte begriffen, dass seine Taktik, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, aufgegangen war. „Ja,” flüsterte er. „Es ist halb so schlimm. Mach dir keine Sorgen,” wiederholte er meine Worte. Er lächelte mich an und legte einen Arm um mich. Da wusste ich, dass zwischen uns alles in Ordnung war.