Читать книгу Die Jägerin - Vergangenheit und Gegenwart (Band 3) - Nadja Losbohm - Страница 14
11. Ada und Alex
ОглавлениеIch sah den Pater erst am Abend wieder, als ich mich zum Essen in der Küche einfand. Ich war mir nicht sicher, wer hier wem aus dem Weg gegangen war. Ich ihm, weil ich seine Fragerei nicht ertragen konnte. Oder er mir, weil er befürchtete, ich würde ihm eine Ohrfeige verpassen, sobald er das Thema „Alex“ wieder aufgreifen würde. In diesem Fall hätte meine Warnung Wirkung gezeigt. In völliger Stille verspeisten wir unseren Fisch mit Rosmarin und Kartoffeln. Pater Michael erklärte sich dazu bereit, den Abwasch zu übernehmen, obwohl ich heute eigentlich an der Reihe gewesen wäre, und meinte, ich könnte somit noch einmal nach Alex sehen, bevor ich mich auf meine nächtliche Patrouille begab. Mit großen Augen starrte ich ihn an. Nach einem Moment des Überlegens fiel es mir schließlich ein. Er dachte doch allen Ernstes, dass er mir damit einen Gefallen tat! Ich verdrehte genervt die Augen. Wenn Pater Michael als Friedensstifter unterwegs war, dann ließ er nicht locker, ehe er Frieden gestiftet hatte.
Als ich zur Küche hinausschlenderte, pfiff ich eine fröhliche Melodie und ließ den Padre in dem Glauben, dass er mir eine Freude gemacht hatte, indem er mich vor dem Abwasch gerettet und dafür zeitiger ins feindliche Gebiet entsandt hatte. Ich pfiff noch, als ich die Tür öffnete und schon in Pater Michaels Schlafzimmer stand. Doch dann schloss ich die Tür hinter mir, und die Musik auf meinen Lippen erstarb. Meine Gesichtsmuskeln wurden hart, meine Augen kalt.
„Hey,” sagte Alex und hob zur Begrüßung eine Hand, die auf der Bettdecke lag. Er war immer noch sehr schwach und selbst so etwas Einfaches, wie die Hand zu heben, kostete ihn große Kraft.
Schweigend lief ich zu ihm hinüber und beugte mich vor. Meine Finger zupften an den Pflastern herum, bis sie sich lösten. Ich entfernte den Verband und warf ihn weg. „Du hast dich nicht gemeldet. Du hast dich nie gemeldet,” sagte ich monoton, quetschte etwas Salbe aus der Tube und verteilte sie auf einem Stückchen sterilem Tuch. Ich platzierte es in meiner Handfläche, drehte mich dann zu Alex herum und sah ihm in die Augen.
„Ich weiß, Ada, und es tut mir leid. Sehr sogar,” entschuldigte er sich und sah mich mit großen blauen Augen an.
Unbeeindruckt von seinen Worten drückte ich das Tuch auf die zwei Löcher an seinem Hals. Durch die Salbe blieb es von allein an der richtigen Stelle kleben, und ich konnte ohne Hilfe ein paar Streifen Pflaster zurechtschneiden. „Wieso hast du dich nie gemeldet?”, fragte ich meinen Bruder, während ich das Pflaster zwischen den Fingern meiner linken Hand festhielt und mit der rechten die Schere führte. Langsamer als ich es sonst getan hätte, schnitt ich die Streifen durch und gab Alex die Möglichkeit, mir seine Ausreden zu präsentieren. Sie reichten schließlich von „Ich hatte keine Zeit“ bis zu „Ich konnte an kein Telefon kommen“. „Du hättest schreiben können. Briefe, weißt du. Oder eine Postkarte. Sogar Emails. Ich bin mir sicher, dort wo du warst, gab es bestimmt auch ein Internet-Café,” bemerkte ich, ohne meine Arbeit mit der Schere zu unterbrechen. Ich wartete sicher fünf Minuten auf eine Antwort. Aber mein Bruder war sprachlos. Er wusste, dass ich Recht hatte. Niemand war so beschäftigt, dass er nicht einmal drei Sätze auf eine bunte Karte kritzeln konnte, um ein Lebenszeichen von sich zu geben. Mittlerweile hatte ich sämtliches Pflaster zu handlichen Streifen geschnitten. In den nächsten zwei Jahren würden Pater Michael und ich es gebrauchsfertig zur Hand haben, falls wir uns schneiden sollten. Vier größere Stücke zwackte ich von dem Haufen ab und sortierte sie in meiner Handfläche. Gedankenverloren arrangierte ich sie immer wieder neu. „Du hast dich nie gemeldet, und ich wusste nicht warum. Ich dachte, es läge an mir. War es so? Hat es an mir gelegen?”, fragte ich ihn und baute einen Pflasterstern.
„Es hat nicht an dir gelegen, Ada,” beteuerte Alex.
„Wenn es nicht an mir gelegen hat, warum hast du dich dann nicht gemeldet?”, fragte ich ihn erneut. Von Minute zu Minute wurde ich ungehaltener, und meine Stimme wurde von Wort zu Wort immer lauter.
Alex blickte mich nur stumm an und sah dabei aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos. Hinter mir knarrte die Tür des Schlafzimmers, als sie geöffnet worden war, und ich hörte Schritte, die sich näherten. Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Ich wusste auch so, dass es Pater Michael war, der sich zu uns gesellte. Anscheinend war mein fröhliches Pfeifen nicht ganz so überzeugend gewesen, wie ich gedacht hatte, und er schaute wohl lieber nach dem Rechten. Ich könnte womöglich meinem Bruder den Hals umdrehen. Seine Kontrolle tarnte der Pater geschickt, indem er sich die Infusion an Alex’ Arm besah.
„Ich warte, Alex!” Ich spürte die Blicke des Paters auf mir und wusste, dass ihn mein strenger und ungeduldiger Ton sofort in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Ich ignorierte ihn und legte die Pflasterstreifen in meiner Handfläche zu einem Quadrat, während ich weiter auf eine Antwort von Alex wartete. Er konnte sie mir nicht geben, und ich war sein Schweigen satt. Wütend zerknüllte ich die Streifen in meiner Hand und machte eine Faust um sie. „Weißt du, was ich denke, Alex? Ich denke, du hättest dich wenigstens einmal melden können. Ich hatte es mir so sehr gewünscht, dass du dich meldest und mich einfach fragst, wie es mir geht. Aber das hast du nicht! Also muss ich annehmen, dass es an mir gelegen hat. Ich bedeutete dir nicht genug. Ich war dir egal. Deshalb hast du nie nach mir gefragt. Es hat dich einfach nicht interessiert! Ich habe dich nicht interessiert!”, schrie ich ihn an.
„Ada!” Pater Michaels ermahnende Stimme fuhr mich von der Seite an. Ich wandte meinen Kopf zu ihm und funkelte ihn böse an. „Du,” ich deutete mit dem Finger auf ihn „hältst dich da raus!”
Missbilligend verzog er den Mund, schwieg aber, und ich konnte mich wieder meinem Bruder zuwenden. Problemlos nahm ich den Faden wieder auf und überhäufte Alex mit noch mehr Vorwürfen und all den Selbstzweifeln, die er durch sein Verhalten in mir gesät hatte. Ich war so richtig schön in Fahrt, ihm ein noch schlechteres Gewissen zu machen, und meine Stimme überschlug sich fast.
„Ada, es reicht jetzt!”, donnerte Pater Michaels Stimme nach einer Weile durch das Schlafzimmer. Erschrocken zuckte ich zusammen und sah ihn verwundert an. Eine ganze Zeit lang hatte er mich einfach meinen Frust von der Seele schreien lassen, aber nun war ihm der priesterliche Kragen geplatzt. Er konnte es offensichtlich nicht dulden, dass in seiner Kirche jemand derart heruntergeputzt wurde. „Ich denke, du solltest jetzt gehen, Ada,” meinte er bestimmt, und ich wusste, dass es darüber nichts mehr zu sagen gab.
Ich sprang vom Bett auf und schleuderte die Pflasterstreifen so fest es ging vor die beiden hin. Ihr sanftes Gleiten durch die Luft entzog meiner aufgebrachten Geste jedoch jegliche Kraft, was mich nur noch wütender werden ließ, und ich verließ stampfend das Zimmer.
Nach etwa fünf Minuten kam Pater Michael aus dem Schlafzimmer, und es verwunderte ihn nicht im Geringsten, mich in dem Gang davor stehen zu sehen. Für einen Moment betrachtete er mich wortlos, dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg in die Bibliothek. Ich folgte ihm. „Zerbrich dir nicht den Kopf, Ada. Er hat mir nichts verraten, und ich habe nicht gefragt,” sagte der Pater und warf mir einen Blick über die Schulter zu. Als er meinen erstaunten Gesichtsausdruck sah, beantwortete er mir meine unausgesprochene Frage. „Es war dein Wunsch, dass ich es nicht weiß,” sagte er und blieb vor der Tür zur Bibliothek stehen. Seine Hand legte sich um die Klinke, drückte sie aber nicht herunter. „Allerdings solltest du wissen, dass deine Worte ihn sehr verletzt haben. Er konnte überhaupt keinen einzigen Ton mehr hervorbringen, weil deine Worte ihn gelähmt haben,” offenbarte er mir, wobei mein Mund vor Fassungslosigkeit auf- und zuklappte. Was war denn mit mir, bitte schön? Hatte Alex nicht auch mir wehgetan und das in einem Alter, als ich meinen großen Bruder am dringendsten gebraucht hätte? Und jetzt sollte ich auf einmal die Böse sein? Nun bereute ich es, dass ich mich nicht zusammengerissen hatte, sobald der Pater ins Zimmer hereingekommen war. Ab dem Moment, als er bei uns war, hätte ich die Klappe halten und mir meine Worte für später aufbewahren sollen. Sie waren gar nicht für seine Ohren bestimmt gewesen, aber ich war so in Rage gewesen, dass ich mich nicht hatte zurückhalten können. Und jetzt hatte ich auch noch Pater Michael gegen mich aufgebracht und ihn enttäuscht. Na super! Toll gemacht, Ada!