Читать книгу Die Jägerin - Vergangenheit und Gegenwart (Band 3) - Nadja Losbohm - Страница 13
10. Mein Punchingball
ОглавлениеHauptsächlich schlief Alex, was gut für seinen Körper war, damit er sich schnell wieder erholte. Und für mich war es gut, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass mein Bruder wieder da war und er die Wahrheit über meinen Verbleib kannte. Nach dieser anstrengenden Nacht hatte ich versucht zu schlafen, aber es war mir nur für etwa zwei Stunden gelungen. Meine Gedanken hatten sich einfach zu sehr überschlagen und wollten keine Ruhe geben. Nachdem ich eine kleine Mahlzeit eingenommen und kurz nach dem Patienten gesehen hatte, ging ich in den Trainingsraum und reagierte mich erst auf dem Laufband ab und machte dann Schussübungen mit Pfeil und Bogen. Ich war so sehr in mein Training und meine Gedanken vertieft, nicht einmal das Öffnen der Tür brachte mich aus dem Konzept. Erst als ich seine Stimme hörte, zuckte ich zusammen. „Ihr seht euch sehr ähnlich,” meinte Pater Michael ohne große Vorrede und schlenderte durch den Raum. Er ging zur Zielscheibe und bewunderte meine Treffsicherheit aus der Nähe. Einen nach dem anderen zog er die Pfeile heraus und sammelte sie zu einem Strauß zusammen.
„Da liegst du falsch. Wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich!”, korrigierte ich ihn verärgert und schoss einen Pfeil ab. Er landete etwas abseits von der Mitte der Zielscheibe. Genauer gesagt hatte mein Schuss einen leichten Linksdrall gehabt und war dem Padre gefährlich nahe gekommen. Nur wenige Zentimeter trennten seine Nase und das vibrierende Ende des Pfeils. Mit großen Augen sah Pater Michael zu mir herüber und betrachtete nachdenklich mein Gesicht. Ich zuckte mit den Schultern und war die Unschuld in Person. Ich konnte schließlich nichts dafür, dass Sätze wie „Ihr seht euch ähnlich“ bei mir immer eine allergische Reaktion auslösten. Ich wurde dann kurzatmig und bekam rote Flecken am Hals. Übertrieben gesprochen, versteht sich. Jedenfalls empfand ich solche Sprüche immer als eine bodenlose Frechheit. Da konnte die Treffsicherheit schon mal drunter leiden.
Ich blickte auf, als ich seine Schritte hörte, die sich mir näherten. Als er vor mir stand, nahm er mir den Bogen ab. Wahrscheinlich wollte er auf Nummer sicher gehen und sich nicht noch einmal der Gefahr aussetzen, von einem meiner Pfeile getroffen zu werden. Ich zuckte nur mit den Schultern, wandte mich um und lief zu den Übungsschwertern, die an der Wand hingen. Ich nahm meines in die Hand und stach damit in die Luft. Ich drehte mich um mich selbst, tanzte geschickt mit der Klinge durch den Raum. Die Wände und Gegenstände sah ich nur noch verschwommen, so schnell bewegte ich mich. Ich drehte mich noch einmal herum und schwang das Schwert durch die Luft, da prallte die Klinge plötzlich mit einer zweiten zusammen. Das Klirren des Metalls erfüllte den Raum. Ich sah die Hand, die den Griff umfasste, den Arm, der sich von dort bis zur Schulter streckte. Mein Blick hob sich zu Pater Michaels Gesicht. Er beobachtete mich mit ernsten Augen und starren Gesichtszügen. „Du bist wütend? Ich gebe dir die Gelegenheit, etwas von deiner Wut herauszulassen,” forderte er mich auf und wartete, bis ich meine Entscheidung traf. Mit einem Schrei teilte ich sie ihm mit. Mit dem kraftvollen Hieb meiner Klinge ließ ich sie ihn spüren.
Wir lieferten uns einen heftigen Kampf. Meine schlechte Stimmung verlieh mir genug Kraft. Ich verschonte ihn nicht und ließ mein Schwert immer wieder auf ihn niedersausen. Doch Pater Michael hatte mir etliche Jahrhunderte des Trainings voraus. Er wehrte jeden meiner Schläge ab und zeigte nicht einmal den Hauch von Ermüdung, während ich schwitzte und schnaufte. Trotzdem wollte ich nicht aufgeben. Ich war noch nicht fertig mit dem Abreagieren. Allerdings schien Pater Michael unser Spielchen zu langweilen, und er setzte ihm mühelos ein Ende. Er entwaffnete mich in weniger als fünf Sekunden. Mein Schwert flog im hohen Bogen durch den Raum und landete scheppernd in der Ecke. Ich lehnte meinen Oberkörper vor und stützte die Hände auf die Knie. Schnaufend versuchte ich wieder zu Atem zu kommen.
„Reicht dir das?”, fragte mich Pater Michael. Seine Klinge tauchte vor meinen Augen auf. Er legte die Spitze des Schwertes unter mein Kinn und zwang mich dazu, mich wieder aufrecht hinzustellen. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Immer noch schwer atmend sah ich den Padre an. „Gut,” meinte er, nachdem wir uns einige Momente lang in die Augen gesehen und ich ihm Flüche an den Hals gewünscht hatte. „Dann können wir ja jetzt reden,” fügte er mit einem Lächeln hinzu und senkte sein Schwert.
„Mir ist nicht nach reden!”, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Pater Michael nickte. „Das ist mir auch schon aufgefallen,” bemerkte er und grinste schief.
Ich verdrehte genervt die Augen und lief auf ihn zu. Ich drängte mich so dicht an ihm vorbei, sodass ich ihn anrempelte. Es war sicher nicht nötig gewesen, aber Pater Michael konnte es ab, wenn ich ihn als Punchingball benutzte. Ich hob meinen Bogen auf, den er vor unserem kleinen Kampf auf den Boden gelegt hatte. Ich legte einen Pfeil auf die Sehne, hob die Arme, zielte und traf ins Schwarze.
„Du hast nie erzählt, dass du einen Bruder hast,” sagte er nach einer Weile, in der er mich hatte schießen lassen. Es war deutlich zu hören, dass er enttäuscht und verletzt war, weil ich ihm diese Sache verschwiegen hatte.
Ich zuckte nur mit den Schultern. Genaugenommen hatte ich einen Bruder UND eine Schwester. Aber das Thema „Verwandte“, ich verbot mir selbst das Wort „Familie“ zu gebrauchen, war für mich kaum bis gar nicht der Rede wert.
„Wieso bist du wütend auf ihn, Ada?”, wollte Pater Michael wissen. Er schloss eine Hand um den Pfeil, den ich gerade aufgelegt hatte und hielt mich somit vom Schießen ab. Stur schaute ich an ihm vorbei auf die Zielscheibe.
„Ich werde nicht mit dir darüber reden, Michael!”, antwortete ich ihm emotionslos.
„Wie lange ist es her?”, wollte er wissen.
„Jahre,” antwortete ich ihm.
„Willst du ihm dann nicht endlich vergeben?”, fragte er mich. Ich sagte nichts und rührte mich auch nicht. Ich blinzelte nicht einmal. „Ich verstehe, dass er dich offenbar sehr verletzt hat.”
„Nein, zum Henker! Du verstehst es nicht!”, blaffte ich ihn an.
„Dann hilf mir dabei. Erkläre es mir, Ada!”, flehte er mich an und reichte mir eine Hand. Er wartete darauf, dass ich sie ergriff und seine Hilfe annahm. Aber ich tat ihm den Gefallen nicht. Pater Michael atmete tief durch, dann ließ er seine Hand wieder sinken. „Ich glaube, es würde ihn sehr glücklich machen, wenn du ihm vergeben wür… .”
„Hey!”, fuhr ich ihm lautstark dazwischen und zeigte mit dem Ende meines Bogens auf ihn. „Stell dich ja nicht auf seine Seite!””
Traurig blickte er mich an. „Ich stelle mich auf niemandes Seite,” versuchte er mich zu beruhigen.
Wütend funkelte ich ihn an. „Das wäre auch gesünder für dich!”, warnte ich ihn trotzig. Pater Michael runzelte die Stirn und rieb sich nachdenklich das Kinn bei meinen Worten. „Damit ist die Diskussion beendet,” teilte ich ihm mit und schoss einen neuen Pfeil ab.