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9. Schwester Ada, bitte in den OP

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Erschrocken sprang ich auf und starrte auf ihn hinunter. „Du bist überrascht, dass du mich hier findest? Was glaubst du wohl, wie es mir geht? Mir wurde deine Todesanzeige gezeigt, und jetzt stelle ich fest, dass du so lebendig bist wie ich. Na ja, im Moment wohl eher nicht,” stellte Alex fest und umfasste seinen Kopf mit den Händen, als könnte es helfen, dass sich die Welt um ihn herum nicht so schnell drehte.

Ich wusste absolut nicht, was ich sagen sollte. Sämtliche Wörter aus meinem Sprachschatz waren verschwunden. Ich konnte meinen Bruder nur fassungslos ansehen. Wie lange hatte ich ihn jetzt schon nicht mehr gesehen? Oh ja, richtig! Ich war zwölf, als er mich im Stich gelassen hatte. Nach Adam Riese ergab das insgesamt noch einmal ebenso viel Jahre, in denen ich nicht ein einziges Mal etwas von meinem großen Bruder gehört hatte. All die schlechten Erinnerungen und die Wut auf ihn stiegen wieder in mir auf. Es geschah nicht willkürlich. Es passierte einfach. Ich war ein emotionaler Mensch. Ich konnte vergeben, aber nicht vergessen. Da ich nicht vergessen hatte, was er mir angetan hatte, kamen auch die alten Gefühle wieder in mir hoch, und ich wurde erneut sauer auf Alex. Und ausgerechnet jetzt lag er hier auf dem Boden vor mir, ausgesaugt von einem Vampir, und brauchte Hilfe. Meine Hilfe nach Möglichkeit. Boah, ey! Wie mich das ankotzte!

Ich gebe zu, dass ich daran dachte, aufzustehen und einfach wegzugehen. Welchen Grund hätte ich, ihm zu helfen? Mir wollte lange Zeit keiner einfallen. Aber dann meldete sich mein Gewissen, das zumeist riesengroß war. Viel größer als das von anderen Menschen. Und es sagte mir das, was ich auch schon allein gewusst hatte. Ich würde nicht mit dem Gedanken leben können, ihn zum Sterben in dieser Gasse allein gelassen zu haben. Es war meine Aufgabe, die Menschen in dieser Stadt zu beschützen. Und wenn mein Bruder nach vielen Jahren wieder nach Hause zurückgekehrt war, gehörte auch er zu diesen Menschen. Ob ich es wollte oder nicht. „Kannst du aufstehen?”, fragte ich Alex. Er versuchte sich aufzurappeln und bewegte sich dabei, als wäre er bis unter die Haarspitzen mit Alkohol abgefüllt. Schwankend richtete er sich auf und fiel mir sogleich entgegen. Ich schnappte mir einen seiner Arme und legte ihn mir um die Schultern. Dann umfasste ich seinen Rücken und schlurfte mit ihm los.

Wir brauchten für den Weg zur Kirche immens viel Zeit. Alex konnte sich nicht schnell bewegen und musste sich zwischendurch mehrfach ausruhen. Er war ein absoluter Klotz am Bein. Und als wir schließlich vor dem Portal standen, war der Himmel über der Kirche schon strahlend blau.

„Du bringst mich in eine Kirche?”, fragte mich Alex etwas schockiert.

Seufzend verdrehte ich die Augen und fummelte mit den Schlüsseln herum. Es bereitete mir einige Mühe, die Tür aufzuschließen UND meinen nervtötenden Bruder davon abzuhalten, zusammenzusacken. „Ja, sieht ganz so aus,” beantwortete ich seine Frage knapp und zog ihn in die Kirche hinein.

„Willst du mir die Absolution erteilen lassen?”, nervte er weiter und kicherte schwach.

„Halt die Klappe, verdammt noch mal!”, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und stieß die Tür hinter mir mit meinem Fuß zu.

Alex schnaubte, aber seine Verachtung war nur gespielt. Ich hatte schon früher gespürt, wenn er nur so tat als ob. „Du fluchst im Hause Gottes? Also wirklich, Ada! Tzz!”, machte er.

„Dir geht es offensichtlich wieder ziemlich gut. Ich glaube, du brauchst meine Hilfe nicht mehr!”, gab ich zurück. Ich hatte das letzte Wort noch nicht ganz ausgesprochen, da gaben seine Beine unter ihm nach, was uns beide aus dem Gleichgewicht brachte. Pater Michael, der uns von Weitem beobachtet hatte, kam sofort herbeigeeilt und nahm mir Alex ab. Erstaunt blickte er mich an, machte aber kein großes Federlesen darum, dass ich in Begleitung war, sondern brachte den Verletzten in unsere unterirdischen Räume. Ich war froh und dankbar, dass er ihn mir abnahm und ihn anscheinend ohne große Mühe in sein Schlafzimmer trug, wo er ihn ins Bett legte. Alex schlief augenblicklich ein, und ich erklärte dem Pater, wer nach „Schneewittchen-Art” in seinem Bettchen schlief. Er musterte mich nachdenklich, wobei die Falten auf seiner Stirn so tief wie der Grand Canyon wurden. Wer konnte es ihm verdenken. Ich hatte ihm nie erzählt, dass ich einen Bruder hatte.

Ich ignorierte seine verwunderten Blicke und fragte ihn, ob wir Medikamente da hätten, die bei großem Blutverlust halfen. Ich war mir nicht sicher, ob noch welche aus der Zeit übrig waren, als ich bei der Geburt meiner Tochter solch einen großen Blutverlust erlitten hatte. Wortlos nickte Pater Michael und verschwand dann in Richtung des medizinischen Raumes. Kurze Zeit später kehrte er mit einem Tablett zurück, auf dem das Instrumentarium lag, um eine Infusion zu legen, und rollte den Tropf-Ständer in den Raum. Geschickt kümmerte er sich um den Zugang, während ich mir die Wunden am Hals meines Bruders besah. Ich nahm mir ein paar von den Tüchern, die der Pater mitgebracht hatte, und träufelte etwas Jodtinktur darauf. Vorsichtig säuberte ich die Löcher, die die Zähne des Vampirs hinterlassen hatten. Dann betupfte ich sie mit einer Salbe und klebte Mull darüber. Ich war nun also zu einer Krankenschwester mutiert. Erst der Pater und jetzt mein eben noch verschollener, aber nun wiedergefundener Bruder, um den ich mich kümmerte. Na, großartig!

Die Jägerin - Vergangenheit und Gegenwart (Band 3)

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