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Alles sehr merkwürdig!

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Wieder schüttelte die Rechtsmedizinerin Doktor Nadja Serafin den Kopf. So etwas hatte sie in der Tat noch nicht gesehen.

Die Leiche sah irgendwie komisch aus, und damit meinte sie nicht nur die blutleere Blässe, die dem „Engel“ eine überirdische Ausstrahlung verlieh. Sie wirkte zu wächsern, was den Eindruck des Rauschgoldengels unterstrich, den sie wohl darstellen sollte. Zumindest vermutete Nadja das.

Es war eine fast schon perfekte Inszenierung dort im Schnee. Jede Falte des Hemdchens, jede Extremität, die Haare – alles war von einem morbiden „Regisseur“ gestaltet worden. Und genau diese Perfektion gruselte Nadja, die sonst hartgesotten war. Hier hatte der Tod etwas Schönes und stand damit in grausamem Widerspruch zu seiner eigentlichen Eigenschaft. Kein Verfallen und Vergehen, keine Autolyse konnte man von der Toten erwarten.

Die Abwesenheit ihres Geistes und ihrer Seele paarte sich mit der Unvergänglichkeit ihres Körpers. Sie war gleichzeitig da und auch nicht – wie ein dreidimensionales Abbild der Vergangenheit anstatt eines Fotos. Wie lange die zurückliegen mochte, konnte sie nicht sagen. Zu einer möglichen Totenstarre war aufgrund des Frostes rein gar nichts zu sagen. Nadja vermutete aber, dass diese sich nicht erst kürzlich aufgelöst hatte und dass die junge Frau schon viel länger tot, wenn nicht gar tiefgekühlt gewesen war.

„Sind die Haare echt?“, riss Peter seine Frau aus den Gedanken. „Die wirken irgendwie künstlich.“

Nadja zuckte mit den Schultern. „Das kann ich erst nach einer Analyse genau sagen. Beneidenswert auf jeden Fall, wenn das Naturhaar ist“, sagte sie und dachte an ihr wirres Gestrüpp auf dem Kopf, von dem Peter immer behauptete, sie müsse eher im Frühling eine Mütze tragen als im Winter, sonst würden die Vögel darin nisten wollen. Sie überlegte. „Komisch auch die Haut, möchte ich sagen. Theoretisch sieht die Frau aus, als sei sie eingefroren gewesen, aber dann wäre die Haut nicht so glatt. Ich kann auch nirgendwo Gefrierbrand entdecken.“

Jetzt war Hauptkommissar Wolf Hetzer hellhörig geworden. „Zu schön?“, fragte er. „Zu perfekt und so?“

„Ja, so könnte man es nennen“, gab Nadja zu. „Eigentlich eher wie mumifiziert, aber da ist das äußere Erscheinungsbild trotzdem ein ganz anders. Ehrlich gesagt bin ich etwas ratlos, aber ich finde das richtig klasse, denn so ist es total spannend.“

„Mir wäre wohler, wenn einfach mal einer dem anderen was über die Omme haut und gut is“, stöhnte Peter. „So eine schöne, klassische Schädelfraktur, wo man gleich weiß, woran man ist.“

„Und ich fände es besser, wenn überhaupt keiner umgebracht würde“, wandte Wolf aus dem Rollstuhl heraus ein.

„Du wirst alt“, konterte Peter, „aber wer weiß es besser als du, dass wir nicht auf einem Ponyhof leben. Hättest eben nicht hier so herumrollen sollen.“

„Du Depp“, schimpfte Wolf, „dann wäre sie doch trotzdem tot.“

„Schon“, erwiderte Peter, „aber du würdest davon nichts mitgekriegt haben, und deine Welt wäre noch in Ordnung.“ Er biss sich auf die Lippen, nachdem er das gesagt hatte. Nichts in Wolfs Welt war derzeit in Ordnung – bis auf seine Beziehung zu Moni und Niklas.

Glücklicherweise kam Detlef wieder und rettete die Situation. Über seiner Schulter trug er eine große Trittleiter aus Aluminium.

„Ja los, schwing dich hoch“, schlug Peter seinem Kollegen vor.

Detlef schüttelte den Kopf. Er war schwer höhenkrank und konnte nicht mal auf einen Stuhl steigen.

„Der kleine Zwockel?“, lachte Nadja und handelte sich von Detlef einen strengen Blick ein. „Wohl kaum! Das wirst du schön selbst machen. Du siehst mit deinen zwei Metern viel mehr oder soll ich etwa?“ Sie war nur rund fünf Zentimeter kleiner als er.

„Untersteh dich“, drohte Peter und nahm die erste Stufe.

„Kindsköppe“, sagte Detlef kopfschüttelnd zu Wolf, doch der reagierte nicht. Sein Fokus war ganz auf den Fundort ausgerichtet. Er war gespannt, ob jemand wirklich etwas mit Blut in den Schnee geschrieben hatte.

Seppi konnte bestätigen, dass es sich tatsächlich um Blut handelte. Er hatte bereits von einer Stelle am Rand eine Probe genommen.

Diffuses Knistern lag in der Luft, und das hatte nichts mit Weihnachtsstimmung oder -vorfreude zu tun. Selbst Wolf, der das nie zugegeben hätte, spürte es: Der Jagdinstinkt des Teams war erwacht.

Mittlerweile war Peter oben angekommen, lehnte sich auf der Leiter nach vorne wie über eine Balkonbrüstung und kniff die Augen zusammen.

„Ja, da steht tatsächlich was“, sagte er. „Ist irgendwie Schrift, aber man kann nix damit anfangen.“

„Also, was denn nun?“, wollte Detlef wissen. „Steht da was geschrieben oder nicht?“

„Buchstaben schon, nur ohne Sinn. Ich glaube, der Kerl ist nicht fertig geworden“, überlegte Peter laut.

„Könntest du uns denn jetzt bitte vorlesen, was du siehst?“, fragte Wolf mit mühsam beherrschter Stimme. Er musste sich zusammenreißen. Normalerweise dürfte er gar nicht mehr hier sein. Im Grunde hätten sie ihn wegschicken müssen.

Peter drehte sich um 180 Grad und grinste Wolf an. „Das willste wohl wissen, was? Freut mich! So, hier steht: ALDRIG MOR. Und jetzt könnt ihr euch auch vorstellen, dass da noch ein winzig kleiner Buchstabe fehlen muss, wenn ihr das vor eurem inneren, geistigen Auge ausschreibt.“

„Du denkst, das letzte Wort hätte MORD heißen sollen?“, hakte Seppi nach.

„Gut möglich, er könnte gestört worden sein“, überlegte Detlef.

„Klingt sinnvoll, aber was soll das erste Wort heißen?“, fragte Nadja. „Hat da jemand von euch eine Idee?“

„Vielleicht ein Name?“, kam es aus dem Rollstuhl. „Möglicherweise heißt die Tote so. Der Mörder wird mit Sicherheit kaum so dumm gewesen sein und seine Visitenkarte dagelassen haben.“

„Unwahrscheinlich“, erwiderte Detlef. „Wer eine Tote so virtuos inszeniert, kann nicht ganz blöd sein. Dazu gehört schon eine gewisse Raffinesse und Planung.“

Nadja reichte Peter die Kamera nach oben.

„Machst du bitte ein paar aussagekräftige Bilder? Mal mit Blitz, mal ohne“, bat sie. „Dann kann die Frau eingepackt werden. Alles Weitere mache ich im Institut, wenn ich meine Finger wieder bewegen kann.“ Sie rieb sich die Hände, die in den Latexhandschuhen ganz kalt geworden waren.

„Okay“, sagte Peter und nickte den Bestattern zu, die sich dezent zurückgehalten hatten und ein paar Meter weiter weg warteten. „Macht auch keinen Sinn, sie hier weiter zu untersuchen, wenn sie länger tot ist, aber vielleicht solltest du Enno anrufen, damit er den Sektionstisch runterkühlt oder willst du, dass sie sofort auftaut?“

„Keinesfalls“, erwiderte Nadja, „aber zuerst muss ich sie so haben, wie sie jetzt ist, sonst kann ich einige spezifische Dinge nicht mehr richtig beurteilen.“

„Dachte ich mir“, sagte Peter und zwinkerte ihr zu. „Wir rücken dann ab, Detlef. Bis später!“

„Wann denn später?“, fragte Wolf. „Kommst du mich mal besuchen?“

„Nee“, antwortete Peter frech, „du wirst dich schön in der Ulmenallee einfinden und mit an unseren Ermittlungen teilnehmen – natürlich inoffiziell und eher als Berater, aber wir wollen nicht auf dich verzichten.“ Er blickte in die Runde. Alle nickten. „Gibt wegen der neuen Rampe auch keine Ausrede hinsichtlich deines neuen Fortbewegungsmittels.“

„Okay“, sagte Wolf gerührt. Sie hatten ihn noch nicht abgeschrieben. Wahrscheinlich glaubten sie mehr an ihn als er an sich selbst.

„Treffen wir uns doch mit den ersten Ergebnissen am frühen Nachmittag“, schlug Peter vor. „Sagen wir halb vier? Schaffst du das, Nadja?“

„Ich denke schon. Schaltet mich dann einfach per Skype zu, einverstanden?“, bat sie.

„Perfekt“, sagte Peter und winkte zum Abschied.

Wolf beschloss, noch einen Moment zu bleiben, denn Seppi würde jetzt den Bereich unter der Leiche untersuchen. Dabei wollte er ihm Gesellschaft leisten, bevor er wieder in sein Zimmer zurückrollen würde.

SchattenSchnee

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