Читать книгу SchattenSchnee - Nané Lénard - Страница 13

Unglaubliches

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Während Wolf seinen Gedanken und dem Schlaf nachgejagt hatte, war Nadja in der Rechtsmedizin des Schaumburger Großklinikums mit der Sektion der Frauenleiche beschäftigt gewesen.

Zeitgleich beriet sich die SoKo „Engel“ zu den bisher bekannten Einzelheiten. Man trug zusammen, was man hatte und rätselte über die Schrift oder die Buchstaben. Nadine war davon überzeugt, dass sie es mit den Anfangsbuchstaben eines Satzes oder einer Phrase zu tun hatten. Dass es ein Name sein könnte, diese Idee war schnell verworfen worden. Dann schon eher die Theorie, dass das letzte Wort hätte „MOR…D“ heißen sollen, aber der Täter gestört worden war, weswegen das D fehlte. Machte denn dann das erste Wort „ALDRIG“ überhaupt Sinn?

„Ein Eigenname?“, schlug Detlef vor. „Das könnte doch möglich sein.“

Niklas schüttelte den Kopf. „Hab ich gerade mal deutschlandweit bei ,Das Örtliche’ eingegeben. Es gibt niemanden, der so heißt.“

„Was? In ganz Deutschland nicht?“, wunderte sich Peter. „Dann gib das doch mal so ein, das bescheuerte Wort.“

„Hab ich schon. Kommt nur was Dänisches oder Schwedisches, und das macht ja wohl keinen Sinn“, fand Niklas.

„Na, und was heißt es nun?“, hakte Detlef nach. „Jetzt wollen wir es wenigstens wissen.“

„Ganz einfach, es heißt ,Nie’ und da gibt es herrliche Schnulzen auf YouTube. Liebeslieder wahrscheinlich. Habt ihr Bock, dass ich euch das vorspiele? Schmonzetten auf Dänisch oder Schwedisch?“

„Untersteh dich“, drohte Nadine. „Sonst schläfst du heute draußen.“

Peter grübelte. „NIE MORD?“ Er rieb sich das Kinn. „Vielleicht eine Erklärung, dass der Tod der Dame nicht gewollt war. Und darum auch die engelsgleiche Inszenierung. Das ergäbe doch einen Sinn.“

Detlef schlug sich die Hände vor den Kopf. „Man kann sich eine Erklärung auch zurechtbasteln, wenn einem nichts Gescheites einfällt.“

„Was fällt euch nicht ein?“, fragte Wolf und bog mit seinem Rolli um die Ecke.

Nadja, die vorhin versucht hatte ihn anzurufen, war hinterher nicht mehr zu erreichen gewesen. Vielleicht hatten die Kollegen schon etwas gehört. Er stutzte. Durfte er das eigentlich noch sagen? Nach dem langen Krankenstand?

„Komm erst mal richtig rein, Alter“, sagte Peter und klopfte Wolf auf die Schulter. „Tut gut, dass du mit von der Partie bist.“

Die anderen nickten.

„Ohne dich ist das Team unvollständig“, bekräftigte Detlef.

Wolf war gerührt. Sie meinten das wirklich ernst und hatten ihn nicht nur aus Mitleid dazugebeten.

„Wir kommen nicht weiter, weil wir komische Buchstaben oder Worte haben, mit denen wir nichts anfangen können“, erklärte Nadine. „Vielleicht hast du eine Idee?“

Nach und nach ließ sich Wolf berichten, worüber sie eben schon gesprochen hatten.

„Ihr müsst alle Gedanken zulassen“, erinnerte Wolf seine Kollegen, „und zusammentragen. Macht nicht den Fehler, eure Eingebungen gegenseitig zu verwerfen. Das blockiert euch sonst. Alles ist immer möglich. Vergesst das nicht.“

„Okay, machen wir eine Liste“, schlug Nadine vor.

Plötzlich klingelte Peters Smartphone. Er hielt den Zeigefinger vor seine Lippen. „Es ist Nadja. Gleich wissen wir mehr!“ Dann ging er ran. „Grüß dich, wir sitzen hier alle zusammen. Wolf ist auch dabei. Ich stelle mal auf laut.“

„Ja, Hallo an alle! Schön, Wolf, dass du mit von der Partie bist. Seid ihr schon neugierig, was es mit eurem Engel auf sich hat? Ich habe ein paar spektakuläre Erkenntnisse. Welche Schlüsse ihr daraus ziehen werdet, da bin ich gespannt. Für mich reimt sich da erst mal nichts zusammen.“

„Schieß los, und spann uns nicht auf die Folter“, bat Peter eindringlich. „Wir kommen hier nämlich nicht so recht weiter. Vielleicht kannst du unsere grauen Zellen erleuchten.“

„Gut, dann also kein höfliches Geschwafel, sondern gleich zu den Fakten“, begann Nadja. „Folgende Dinge waren besonders auffällig. In der Frau befand sich überhaupt kein Blut. Man muss es entfernt haben. Vermutlich war es das Blut, mit dem die ominöse Botschaft geschrieben worden ist. Stattdessen habe ich eine chemische Substanz gefunden. Die Analyse läuft noch. Was mich am Fundort schon gewundert hat, war, dass die Haut so unversehrt schien. Deshalb habe ich ein paar Zellproben unter das Mikroskop gelegt.“

„Ja, und?“, hakte Wolf nach. Er war vollkommen in seinem Element, als sei er nie weg gewesen. In diesem Moment hatte er total vergessen, dass er eigentlich nur Gast war.

„Sie hätten durch den Frost oder das Gefrieren, so ganz genau wissen wir das noch nicht, in größerem Ausmaß geplatzt sein müssen.“

„Aha, ja stimmt“, fiel Nadine wieder ein. „Wasser dehnt sich ja beim Gefrieren aus, und der Körper besteht zum Großteil aus Wasser.“

„Und wenn man ihrem Körper vor dem Einfrieren das Wasser entzogen hat?“, überlegte Detlef.

„Glaubst du, sie war in Salz eingelegt?“, lachte Peter. „Ich denke nicht. Beim Pökeln wäre sie doch weggeschrumpelt.“

„So ganz unrecht hat Detlef nicht“, wandte Nadja ein. „Wobei ich der Ansicht bin, dass man den Zellen nur insoweit das Wasser entzogen hat, damit sie nicht platzen. Wie das gehen kann, ist mir schleierhaft.“

„Ja, so was hatten wir noch nicht, wenn wir auch schon mit vielem konfrontiert worden sind“, stimmte Wolf zu. „Aber es muss ja seinen Grund haben, warum das so gemacht worden ist. Der Mörder wollte sich die Frau erhalten und zwar so, wie sie war.“

„Und warum hat er sie dann doch irgendwo abgelegt und der Verwesung preisgegeben?“, bohrte Peter nach. „Das passt wohl kaum zusammen.“

„Nun“, antwortete Nadja, „Vorlieben oder Bedürfnisse können sich ändern. Vielleicht brauchte er die Frau nicht mehr, weil er sich neu orientiert hatte.“

„Hoffentlich diesmal eine lebendige Partnerin“, orakelte Nadine, „sonst werden wir bald wieder fündig.“

„Wie kommst du darauf, dass er sich neu orientiert haben könnte?“, wollte Wolf wissen. „Gibt es dafür einen Anhaltspunkt?“

„Wie man’s nimmt“, gab Nadja Auskunft, „ihr fehlt noch was Entscheidendes. Jemand hat ihr die Gebärmutter entfernt …“

Nadine musste schlucken.

„Okay“, sagte Wolf, „das ist nicht uninteressant. Vermutest du sexuelle Motive?“

„Moment. Ich war noch nicht fertig“, erklärte Nadja. „Also der Uterus wurde herausgetrennt, aber an Ort und Stelle im Unterbauch belassen.“

„Puh“, seufzte Nadine, und Niklas verdrehte die Augen.

„Was soll das denn für einen Sinn machen?“, fragte er. „Wenn schon rausschneiden, warum dann nicht entfernen? Und wenn man das Organ eben nicht herausnimmt, warum dann die Schnippelei?“

„Da wollte wohl mal einer gucken, wie es dahinter aussieht oder probieren, wie es funktioniert, wenn man so was macht“, fiel Peter ein. „Könnte das sein?“

„Du weißt doch, es kann immer alles sein, denk an Wolfs Worte“, erinnerte ihn Detlef. „Er könnte auch dabei gestört worden sein.“

„Ein Detail solltet ihr noch wissen“, berichtete Nadja. „Ist was Kurioses, was ich mir auch nicht erklären kann. Ich mache bei Frauen im gebärfähigen Alter immer einen Schwangerschaftstest. Ist so eine Marotte von mir. Ich hätte es in diesem Fall sicher weggelassen, wenn ich das mit dem Uterus vorher festgestellt hätte.“

„Ja, und?“, erkundigte sich Wolf aufgeregt. „Jetzt sag nicht, dass sie schwanger war?“

„Doch, der HCG-Wert war extrem erhöht. Das spricht eindeutig für eine Gravidität“, erklärte Nadja. „Ich hab aber dann sicherheitshalber im Uterus nachgesehen, und da war kein Braten in der Röhre.“

Hier und dort hörte man erleichtertes Aufatmen.

„Jetzt fragt ihr euch sicher, wie es zu dem falsch positiven Ergebnis kommen kann. Stimmt’s?“

Nadja machte eine Pause, der allgemeines Gemurmel folgte.

„Ehrlich gesagt, weiß ich es selbst nicht“, gab sie zu. „Ich muss erst weitere Untersuchungen vornehmen und kann nur sagen, dass die Gebärmutterschleimhaut nicht verdickt war oder Ähnliches oder gar eine Vergrößerung des Organs vorlag. Das spricht eindeutig gegen eine Schwangerschaft.“

„Trotzdem mysteriös“, fand Peter.

„Sehr“, pflichtete Niklas ihm bei. „Ich bin gespannt, was da dahintersteckt. Keine Ahnung, was wir mit diesen merkwürdigen Informationen anfangen sollen. Sorry, Nadja, damit meine ich nicht dich, nur die Sachlage.“

„Schon klar“, erwiderte die Angesprochene. „Mir kommt das ja selbst ziemlich verrückt vor. Alles in allem, meine ich: Ihr Aussehen, ihr Zustand, die Befunde, ihre Auffindesituation. Nichts davon ist normal oder gewöhnlich. Vieles erscheint direkt paradox. Wäre da im Unterleib nicht dieser riesige Schnitt gewesen, hätte ich überhaupt nicht weiter im Unterbauch nachgesehen. Wisst ihr, er sah aus wie von einem der historischen Kaiserschnitte, als man noch senkrecht zur Schambeingrenze bis zum Bauchnabel eröffnete.“

Peter stöhnte. Ihm schwante Übles. „Kommst du dann heute Nacht überhaupt nach Hause?“

„Keine Bange, einige Untersuchungen laufen noch. Da kann ich gar nichts beschleunigen. Über manche Details muss ich mir erst mal Gedanken machen“, erklärte die Rechtsmedizinerin. „Zum Beispiel, warum der Uterus einfach so im Bauchraum lag und keinen Fötus aufwies, man aber die oberen Hautschichten wieder fachmännisch vernäht hatte. Könnte also sein, dass ich sogar früher daheim bin.“ Sie zögerte. „Genau, und so mache ich das jetzt auch“, beschloss sie. „Meine Arbeit hier vor Ort ist erledigt oder angeschoben. Ich muss nachdenken. Ihr sicher auch. Also, bis dann! Wo ihr mich notfalls erreichen könnt, wisst ihr ja.“ Sie schwieg einen kurzen Moment. „Notfalls, sagte ich! Nicht, dass ihr mir prompt ein weiteres Opfer präsentiert.“

„Haben wir nicht vor“, versprach Niklas.

„Bis später“, sagte Peter und wollte gerade auflegen, als Nadja noch „Tschüss, Wolf, bis bald!“ rief.

„Ja, vielen Dank, wir sehen uns“, antwortete Wolf und lehnte sich mit seinen Händen auf Peters Schreibtisch, um ihn zu fixieren.

„Was?“, fragte Peter leicht genervt, als er Wolfs undefinierbare Miene sah.

„Da kommt verdammt noch mal was auf euch zu“, seufzte Wolf.

„Wie soll ich das verstehen?“, brummte Peter. „Willst du dich jetzt wieder in dein Heim verziehen und uns alleine machen lassen?“

„So in etwa“, grummelte Wolf zurück. „Ich habe Anwendungen, Therapie. Du verstehst? Es geht um meine Gesundheit. Ich will nicht ewig ein Krüppel bleiben, der im Rollstuhl sitzt.“

„Danke, das war deutlich“, sagte Niklas und verließ den Raum. Nadine folgte ihm kopfschüttelnd mit bösem Blick auf Wolf.

Der biss sich auf die Zunge. So ein Mist, das hätte er nicht sagen dürfen.

„Niemand sagt, dass du diese Stunden nicht wahrnehmen sollst“, versuchte Detlef zu beschwichtigen, „aber vielleicht können wir uns darauf einigen, dass du definitiv mit im Team bist und uns deine Unterstützung zusicherst, soweit es dir möglich ist. Wir brauchen deine Erfahrung und Besonnenheit.“

Peter lachte. „Besonnen war das jetzt nicht gerade, sondern beschissen. Aber wir haben auch leicht reden. Niemand steckt in deiner Haut. Uns allen geht es mehr oder weniger gut. Wir können normal leben. Trotzdem solltest du Detlefs Vorschlag, der uns allen aus dem Herzen spricht, überdenken. Dafür rede ich mit Niklas. Wenn sein Blutdruck wieder gesunken ist, wird er Verständnis für dich haben. Vielleicht trinkt ihr gelegentlich ein Bier zusammen, so von Mann zu Mann, nicht von Vater zu Sohn.“

„Wenn ich ihn aus Nadines Armen loseisen kann“, sagte Wolf und zwinkerte den beiden Kollegen zu. „Die hätte mich am liebsten eben gefressen. Sprich lieber mit ihr. Und ja: Natürlich unterstütze ich euch. Das habe ich eben nicht so gemeint. Falsche Wortwahl sozusagen. Klar bin ich mit dabei. Was denkt ihr? Ich stecke schon viel zu tief drin. Es würde mich sowieso beschäftigen.“

„Offiziell geht es natürlich nicht“, erinnerte Peter ihn und zwinkerte ihm zu. „Müssen wir vor der ollen Kukla geheim halten.“

„Unsere Staatsanwältin wird doch hoffentlich nach ihrer Weltreise immer noch gute Laune haben und über solche nichtigen Kleinigkeiten hinwegsehen“, witzelte Detlef.

Wie abgesprochen schüttelten Peter und Wolf gleichzeitig den Kopf. Da waren sie sich einig.

„Die?“

„Nie im Leben!“

„Na, dann will ich mal zum Abendbrot rollen“, beschloss Wolf.

Peter sah auf die Uhr. Gerade mal halb fünf.

„Sag nichts“, bat Wolf.

„Wieso, Buletten oder Hähnchenschenkel kann ich zu jeder Tageszeit essen oder auch ein schönes paniertes Schnitzel.“ Peter kam ins Schwärmen.

„Darf ich euch noch einen guten Rat geben?“, erkundigte sich Wolf vorsichtig. Es sollte sich nicht nach Chef anhören, denn das war er im Moment definitiv nicht.

„Klar“, antwortete Detlef. „Immer gerne!“

„Passt auf, dass nichts an die Presse dringt. Wir haben Advent. Wenn die erst spitzkriegen, dass die Tote wie ein Rauschgoldengel drapiert war, gibt es wilde Spekulationen. Glaub mir, das solltet ihr in eurem eigenen Interesse lieber verhindern. Sonst rennen sie euch hier die Bude ein.“

„Wir wissen aber noch nicht, wer sie ist“, wandte Peter ein.

„Schöpft erst mal alle anderen Quellen aus, bevor ihr die Medien um Hilfe bittet“, schlug Wolf vor. „Das könnt ihr notfalls immer noch machen.“

„Okay“, sagte Peter leichthin und ahnte nicht, dass es anders kommen sollte.

SchattenSchnee

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