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Weitere Erkenntnisse

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Kurz vor 13 Uhr fuhr Wolf Hetzer mit seinem Elektrorolli bergab in Richtung Ulmenallee. Die diensthabenden Kommissare hatten sich zur Lagebesprechung verabredet und ihn dazugebeten. Wenn er ehrlich war, hätte er sich nach den anstrengenden Morgenübungen mit seinem Therapeuten am liebsten hingelegt, aber so etwas wollte er gar nicht erst anfangen. Damit begann die Verweichlichung. Außerdem wollte er sich keine Blöße geben. Der alte, versehrte Knacker würde pünktlich vor Ort sein, um nichts zu verpassen. Er konnte halt nicht aus seiner Haut. Der Fall interessierte ihn, weil er so ungewöhnlich war. Hätte einfach einer den anderen erschlagen, könnten sie gerne ohne ihn ermitteln. Vorsichtig passierte er den Fußgängerüberweg an der Herminenstraße und rollte kurze Zeit später an der Grundschule am Harrl vorbei. In den Klassen war noch Betrieb.

Zwei Minuten vor eins stand er oben im Flur vor dem Besprechungsraum und klopfte. Sie hatten schon auf ihn gewartet und freundlicherweise nicht ohne ihn begonnen. Gegen 14 Uhr wollte die Rechtsmedizin hinzustoßen, um weitere Ergebnisse zu präsentieren, die dann auch gleich erörtert werden sollten.

Wolf Hetzer staunte nicht schlecht über die Geschichte mit der fremden Gebärmutter, konnte sich aber auch keinen Reim darauf machen. Die Sache war bizarr. Entweder hatten sie es mit einem Verrückten zu tun oder sie verstanden einfach noch nicht, worum es ging.

„Wisst ihr denn inzwischen, wer die Tote ist?“, fragte er ins schweigsame Grübeln hinein. Jeder hing irgendwie seinen Gedanken nach.

„Nein, wir haben leider noch keine Ahnung“, gab Nadine zu. „In unserer Vermisstendatei gibt es niemanden, der so aussieht, aber ich werde später noch via Interpol suchen, auch wenn ich mir davon nicht viel verspreche.“

„Kann man nie wissen“, wandte Wolf ein. „Was Neues wegen der Schrift?“

Niklas stöhnte. „Wir haben uns an ein paar Sätzen versucht, die man aus den Anfangsbuchstaben konstruieren könnte, kommen aber zu der Erkenntnis, dass das nicht der Weisheit letzter Schluss ist.“

„Da gehört wirklich schon was dazu, so ein großes Bauchorgan herauszutrennen“, bemerkte Wolf. „Hat sich Nadja schon dazu geäußert, ob die Entnahme pro

fessionell oder stümperhaft erfolgt ist?“

„Das müssen wir sie gleich unbedingt fragen“, sagte Peter und nickte. „Danke, Wolf! Siehst du, wie gut, dass wir dich dabeihaben. Daran haben wir noch nicht gedacht, weil uns die Tatsache als solche zu schaffen macht. Wer tut so etwas?“

Wolf fühlte sich wider Willen geschmeichelt. „Jemand, der einen guten Grund dafür hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Vorgehen für den Verursacher keinen Sinn hat. Es muss etwas dahinterstecken, was sich uns jetzt momentan noch nicht erschließt. Wie ein Bild, das wir nicht verstehen. Ihr seht doch, dass er sich unglaubliche Mühe mit dieser Frau gegeben hat, fast als bereute er die Tat im Nachhinein oder hat sie nicht freiwillig begangen.“

„Also, ich würde mir von keinem sagen lassen, dass ich jemandem ein Organ herausnehmen soll“, konterte Peter. „Wie meinst du das von wegen freiwillig?“

„Nicht wörtlich, Peter“, erklärte Wolf, „eher so, als ob einer dazu getrieben wird und gar nicht anders kann. Nach Erreichen seines Ziels gibt er alles, um das, was passiert ist, wieder ungeschehen zu machen. Fast so, dass alles oder noch schöner ist als vorher.“

„Puh“, kam es von Detlef. „Haben wir dann noch mehr solche versehrten Flügelwesen zu erwarten, weil derjenige immer wieder dazu getrieben wird? Das ist doch die Frage.“

„Wenn die Unternehmung einem bestimmten Zweck gedient hat, der jetzt erfüllt ist, könnte es die einzige Tat bleiben. Möglich ist alles“, konstatierte Wolf. „Wer will das wissen?“

„Wer will was wissen?“, kam es von der Tür. Nadja lehnte im Rahmen und grinste. „Ich sehe, ihr braucht mich für weitere Erkenntnisse, weil ihr auf der Stelle tretet.“

„Du sagst es“, antwortete Peter und seufzte. „Setz dich, ich hole dir einen Kaffee. Ich hoffe, du kannst Licht ins Dunkel bringen.“

„Das kann ich natürlich nicht garantieren, aber ich habe ein paar beachtenswerte Neuigkeiten, würde ich sagen“, antwortete Nadja. „Ob ihr damit was anfangen könnt, müsst ihr selbst entscheiden. Das Organ, das wir im Unterleib der Frau gefunden haben, war, wie ihr bereits seit meinem Anruf wisst, nicht ihr eigenes.“

„Kurze Frage“, bat Wolf, „ich will dich nicht lange unterbrechen. Wurde es denn eigentlich fachmännisch entfernt?“

„Das muss man unumwunden zugeben“, berichtete Nadja. „Sauber gemacht. Anschließend hat er sie ausbluten lassen und das Blut parallel mit einem unbekannten Mittel ersetzt, das dann allerdings auch wieder entfernt worden ist. Fakt ist, dass es die Leiche konserviert hat und zwar jenseits uns bekannter Methoden, die die Zellen entweder schrumpfen oder platzen lassen. Ihre waren nahezu unversehrt. Das ist ganz unglaublich.“

„Was kann ich mir darunter vorstellen?“, erkundigte sich Peter. „Selbst wenn man sie irgendwo liegen lässt, bleibt sie so und verwest nicht?“

„So in etwa“, sagte Nadja und nickte. „Zusätzlich ist ihr ganzer Körper mit dem Mittel getränkt worden. Sie muss also einige Zeit darin gelegen haben.“

„Hört sich nach einer Art Formalin an“, überlegte Detlef.

„Ist es aber nicht“, erklärte Nadja. „Diese chemische Verbindung ist mir unbekannt. Da muss ein Fachmann ran.“

„Vielleicht weiß ich da wen“, informierte Wolf die Kollegen.

„Schön, aber lass mich erst fortfahren“, bat Nadja. „Uns ist nämlich noch ein vielleicht nicht ganz unwichtiges Detail aufgefallen. Es stach uns ins Auge, als wir untersuchten, ob die Gebärmutter in der Unbekannten auch ihre eigene war.“

„Sag nicht, dass sie verwandt sind“, stöhnte Peter laut.

„Das nicht, zumindest nicht, was du darunter verstehst, so mit Blutsverwandtschaft und so, aber es gibt gewisse Sequenzen in der DNA, die übereinstimmen“, berichtete Nadja.

„Und was soll uns das sagen?“, fragte Nadine.

„Es könnte Zufall sein oder tatsächlich eine sehr entfernte Verwandtschaft“, klärte Nadja auf. „Im vorliegenden Fall müsste man auch über einen genetischen Zwilling nachdenken. Jemand hat dieser Frau eine Gebärmutter eingesetzt, die wahrscheinlich nicht abgestoßen worden wäre.“

„Sprichst du von bewusster Organtransplantation?“, hakte Wolf nach.

„Darüber muss man zumindest einmal nachdenken“, erwiderte Nadja.

„Aber wozu“, wunderte sich Peter. „Die war doch schon schwanger. Was sollte die mit einer anderen Gebärmutter?“

„Das Kind könnte krank gewesen sein. Möglicherweise hatte es schon öfter Probleme in der Gravidität gegeben“, wandte Nadja ein. „Aber das liegt wahrscheinlich eher an der Genetik als am Organ selbst. Um das jedoch genauer zu wissen, müsste ich den Uterus der Frau untersuchen. Auch eine Anomalie käme infrage, sodass jede Schwangerschaft ab einem gewissen Zeitpunkt während der 40 Wochen nicht mehr möglich war. Hier sind mir aber die Hände gebunden. Das kann ich wirklich nicht herausfinden. Vielleicht taucht die Gebärmutter ja noch auf. Dann wissen wir unter Umständen mehr.“

„Wäre es möglich, dass bei der OP etwas schiefgegangen ist, weil man die neue Gebärmutter nicht mehr mit dem Körper verbunden hat? Sie hätte doch mit sämtlichen Gefäßen etc. angenäht werden müssen. Und wenn du sagst, sie hat noch gelebt, als die andere herausgenommen worden ist, dann ist sie vielleicht verblutet, quasi jemandem unter den Händen weggestorben, der sie gerne behalten hätte und darum dieses Konservieren“, kam es von Wolf.

„Und das Zurschaustellen in diesem engelartigen Outfit“, fügte Peter hinzu.

Nadja zuckte mit den Achseln. „Ich bin hier überfragt“, gab sie zu. „Einfach weil mir nicht alle Details vorliegen.“

„Wir, äh, ich meine, ihr müsst wegen des Organaustausches mit Fachleuten sprechen“, schlug Wolf vor. „Was ist mit dem Doktor Niederegger, der mich und Niklas operiert hat? Das ist doch ein guter Bekannter von dir, Nadja.“

„Klar“, stimmte sie zu, „ich kann Till gerne anrufen. Das ist kein Problem. Wenn einer uns raten kann, dann er.“

„Oder sein Chef, der Professor“, fiel Wolf noch ein. „Professor Doktor Severin Pichlmayr ist auch eine Koryphäe in der Transplantationsmedizin. Und er ist mit meinem Freund Büthe sehr gut bekannt. Ich schlage vor, wir holen uns bei ihm parallel eine zweite Meinung ein.“

„Einen Chemiker oder besser noch einen Biochemiker bräuchten wir auch“, sagte Nadja. „Da muss ich mich aber erst mal schlaumachen. Wenn ich mich recht erinnere, hat eine meiner früheren Freundinnen aus dem Gymnasium Biochemie studiert. Die müsste ich ich versuchen ausfindig zu machen.“

„Ja, erkundige dich mal“, erwiderte Peter, „aber vielleicht fragt Wolf auch da seinen Kumpel Büthe. Ich könnte mir vorstellen, dass der Chef der Operativen Fallanalyse bestimmt so jemanden an der Hand hat. Verteilen wir also die Aufgaben: Wolf, wenn er so lieb ist, telefoniert mit Thorsten Büthe aus Hannover, Nadine, du checkst, ob wir wegen der Unbekannten bei Interpol weiterkommen. Nadja spricht mit Niederegger, dem Transplantationsspezi, Detlef soll was für die Presse vorbereiten und sich mit dem Momo Dietsch von der Landeszeitung abstimmen. Ich hab ihm versprochen, dass er das exklusiv kriegt. Bearbeite ihm ein Foto, auf dem man nur das Gesicht der Toten sieht und nicht das Drumherum mit Löckchen und so. Niklas, du kümmerst dich weiter um die Schrift im Schnee. Wissen wir, wessen Blut das war?“ Er sah Nadja an.

„Es war das der Toten, aber mit Heparin versetzt, damit es nicht gerinnen konnte. Sonst wäre die Botschaft auf diese Weise unmöglich gewesen.“

„Eins können wir auf jeden Fall sagen“, kam es aus dem Rollstuhl. „Der Mörder hat sowohl medizinisches als auch biochemisches Fachwissen.“

„Wohl so eine Art Universalgenie mit ein bisschen zu hoher Drehzahl im Gehirn“, meinte Peter.

„Gar keine so schlechte Idee“, fand Nadja. „Vielleicht haben wir es mit jemandem zu tun, der eine Inselbegabung hat. So eine Form von Autismus oder so.“

„Ihr sprecht also von einem Menschen, der auf der einen Seite genial ist, aber andererseits auch heftige Defizite aufweist?“, hakte Detlef nach.

„Genau das war meine Überlegung“, antwortete Peter und kratzte sich das Kinn. „Aber mir wäre es verdammt noch mal lieber, wenn wir es nicht mit einem durchgeknallten Typen zu tun hätten.“

Nadja schüttelte den Kopf. „Da bist du vollkommen auf dem Holzweg. Von verrückt kann überhaupt keine Rede sein. Diese Menschen sind klar im Kopf, zum Teil sogar hochbegabt, strukturiert, fixiert und pedantisch. Oft fehlt ihnen die Empathie.“

„Sag ich doch, durchgeknallt“, beharrte Peter auf seiner Meinung.

„Das ist Definitionssache“, erwiderte Nadja. „Ich glaube aber, bei so einem Tätertyp könnte es sich viel schwieriger gestalten, ihm auf die Spur zu kommen, als bei einem von dir als Verrückten bezeichneten. Ein Mensch mit einer schweren psychosozialen Persönlichkeitsstörung handelt nämlich eher impulsiv und weniger überlegt. Seine Aktionen sind spontaner, also nicht geplant. Jemand mit Grips könnte schwer zu überführen sein.“

„Möglich, für mich sind beide Arten von Typen durchgeknallt“, behauptete Peter, „und fertig.“

„Wollen wir uns dann unseren Aufgaben widmen?“, schaltete sich Wolf ein und beendete die Diskussion. Er war müde, auch wenn er das ungern zugeben wollte.

„Also gut“, lenkte Peter ein. „Dann verabreden wir uns wieder für den nächsten Nachmittag. Passt das mit deinen Übungsstunden, Wolf? Ich hätte dich wieder gerne mit dabei.“

„Das kriegen wir hin“, versprach Wolf. „Die Stunden sind vormittags und noch etwas Massage am Abend. Es ist sicher auch möglich, kurzfristig etwas umzustellen, denn der Mann ist ja nur meinetwegen hier.“

„Okay, dann ran an die Arbeit“, ordnete Peter an.

Detlef, Nadine und Niklas gingen in ihre Büros. Wolf winkte zum Abschied an der Tür.

Als alle weg waren, nahm Peter seine Frau in den Arm. „Wie kommst du mit dem Fall klar, Nadeschda?“, fragte er besorgt. Seit ihrer Eileiterschwangerschaft konnte sie keine Kinder mehr bekommen.

„Ganz gut, mein Schatz“, sagte Nadja und lächelte ihn an. Es war rührend, dass er so mitfühlte. „Ich wüsste nur zu gerne, was einen Menschen dazu bringen kann, einer Frau den Uterus samt Embryo zu entfernen und eine andere Gebärmutter in den Unterleib zu legen. Das beschäftigt mich. Mit der anderen Sache habe ich abgeschlossen. Außerdem habe ich ja dich. Zwei von der Sorte, um die ich mich kümmern muss, wären mir zu viel.“

Peter brummte. Er war doch kein Kind.

„Wir werden es herausfinden“, versprach er ihr, „und das Schwein einkassieren, das das gemacht hat.“

SchattenSchnee

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