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Im Palaisgarten

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Die Wintersonne traute sich soeben zaghaft hinter den Bäumen hervor. Es war noch bitterkalt. Kahle Äste und Tannenzweige waren vom Neuschnee der letzten Nacht überzuckert. Selbst die Pfeiler der Absperrung zum See hin trugen kleine Mützen. Fußstapfen und Reifenabdrücke, die die Wege mit ihren Spuren gezeichnet hatten, konnte man nicht mehr erkennen. Wie unberührt lag der Palaisgarten vor Wolf Hetzer. Die Stille war fast greifbar. Kein einziger Mensch hatte sich bisher an diesem Morgen hinaus in die Kälte gewagt, um im Park spazieren zu gehen. Er selbst hatte es in seinem stickigen Zimmer nicht mehr ausgehalten. Ihm fehlten die Runden in der klaren Morgenluft, die er sonst immer mit seinem Hund Leo gedreht hatte. Wenn er genauer nachdachte, fehlte ihm vieles, aber er schob den Gedanken weg. Es brachte nichts, mit seinem Schicksal zu hadern. Das zumindest hatte er begriffen. Man musste die positiven Sachen sehen. Immerhin lebte er, wagte mit Unterstützung einige Schritte und konnte sich mit dem E-Rolli wieder überall selbstständig fortbewegen. Gerne hätte er aus eigener Kraft die Räder des Rollstuhls angeschoben, aber die gesamte linke Seite war nach dem Schlaganfall noch immer nicht wieder richtig einsatzfähig – von seinem Arm ganz zu schweigen, der schon vorher unbrauchbar gewesen war, weil man ihn vor ein paar Jahren während der Ermittlungen fast umgebracht hatte.

Man konnte meinen, das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm, doch wenn man es andersherum betrachtete, war er dem Tod schon oft von der Schippe gesprungen. Es war fast so, als ob er mehrere Leben hätte, wie eine Katze. Extra totschlagen musste man ihn wohl. Er war sich selbst in den vergangenen Monaten zuwider gewesen und hätte den bedauerlichen Rest seines Körpers in dunklen Momenten am liebsten weggeworfen. Aber da war eben auch noch sein Geist gewesen, seine Seele, die sich mit Händen und Füße wehrte aufzugeben, obwohl sie unendlich müde war.

Wolf schob auch diese Gedanken beiseite und sog die kalte Luft ein. Schnee hatte einen eigenen Geruch. Durch die Bäume bahnte sich jetzt der erste Sonnenstrahl seinen Weg. Er lockte die Vögel von ihren Schlafplätzen zu einem Morgenständchen. Das alles war doch wunderbar, dachte Wolf und steuerte seinen Rolli bergab um eine Kurve, aber ein Glücksgefühl wollte sich trotzdem nicht einstellen. Doch selbst wenn eines da gewesen wäre … in dieser einen Schrecksekunde hätte es sich abrupt verflüchtigt.

Fassungslos starrte Hetzer auf das Bild, das sich ihm plötzlich bot. Von einem Sonnenstrahl in gleißendes Licht getaucht, lag ein Engel vor ihm im Schnee, direkt am Fuß einer Tanne. Er wusste überhaupt nicht, was er denken sollte. Trotz seiner schrecklichen Endgültigkeit war das Stillleben vor ihm unglaublich faszinierend. Ja, man konnte es fast schön nennen. Der Gedanke an einen Rauschgoldengel oder eine Ikone schoss ihm durch den Kopf. Natürlich wusste er, dass das viele Rot, das den Körper in einem Bogen umrahmte, Blut sein musste, aber hier wirkte es wie eine Verzierung. Mit bläulich-bleichem Gesicht lag die Tote vor ihm, auch ihre Gliedmaßen, die aus dem weißen Hemdchen ragten, zeigten diese Farbe. Das gab ihr ein übersinnliches Aussehen. Er schätzte, dass die Frau so Mitte 20 gewesen sein musste und versuchte, sich möglichst viele Eindrücke einzuprägen. Dann zog er mit der rechten Hand sein Smartphone zwischen den Beinen hervor und machte mehrere Aufnahmen. Das gelang ihm einhändig zwar mehr schlecht als recht, aber er wollte auch nicht zu nah heranfahren, um den Fundort nicht zu verändern. Auch wenn er schon länger nicht mehr im Dienst war, hatte er noch alle Nummern im Speicher seines Telefons. Als Erstes rief er seinen Kollegen und Freund Peter Kruse an und erwischte ihn schmatzend.

„Mensch, Wolf, das ist ja eine Überraschung“, freute der sich. „Moment, ich muss eben die Frikadelle …“

„Ja, ja schon gut“, sagte Wolf und musste grinsen. Manche Dinge änderten sich zum Glück nie. In diesem Moment spürte er, wie sehr er gewisse Momente mit ihm vermisste. Bald würde er wenigstens wieder zu Hause sein, seufzte er innerlich, obwohl er aus freien Stücken hier war.

In den Wochen bis zum Fest würde ein Therapeut zu ihm in den Herminenhof kommen, der deutschlandweit bekannt war. Nein, Hetzer würde nicht aufgeben. Das hatte er sich selbst geschworen. Darum hatte er den Spezialisten für knapp vier Wochen auf eigene Rechnung gebucht, Hotel inklusive. Das kostete ein Vermögen, würde ihn aber enorm nach vorne bringen, was den Heilungsprozess anging.

„So, jetzt kann ich hören“, kam es von Peter, der ein Bäuerchen unterdrückte.

„Du meinst wohl sprechen“, erwiderte Wolf, „hören konntest du schon mit vollem Mund, aber ich habe ja Anstand.“

„Immer noch der Alte“, antwortete Peter, „aber das freut mich. Was hast du auf dem Herzen? Kann ich irgendwas für dich tun?“

„Sicher, du kannst mich besuchen“, schlug Wolf vor.

„Jetzt? Im Heim? Aber wir haben uns doch erst letzte Woche im Klinikum gesehen“, wunderte sich Peter. „Ich fürchte, das muss bis zum Feierabend warten. Geht es dir nicht gut? Brauchst du mentale Unterstützung?“

„Auch“, entgegnete Wolf, „aber im Moment benötige ich eher kriminalistische und natürlich verständigst du auch gleich Nadja mit ihrem versierten rechtsmedizinischen Blick sowie Seppi von der Spurensicherung.“

Peter stutzte. „Gibt es da im Herminenhof etwa Unregelmäßigkeiten?“

„Nein, ich habe eine Leiche im Park gefunden, weiblich, schätzungsweise Mitte 20“, erklärte Wolf. „Sie liegt im Schnee und sieht aus wie ein Engel.“

„Du machst Witze“, antwortete Peter und überlegte, ob Wolfs Psyche nicht doch irgendwie gelitten hatte.

„Moment“, bat Wolf Hetzer und schickte eins seiner Fotos per WhatsApp an seinen Kumpel. „Glaubst du mir jetzt?“

„Ach du heilige Scheiße“, entfuhr es Peter, als er das Bild sah.

„Sag ich doch!“ Hetzer grinste in sich hinein. Hielt der ihn für bekloppt?

„Bleib genau, wo du bist“, befahl Peter und hatte es plötzlich eilig. „Wir sind in Sekundenbruchteilen vor Ort.“

„Keine Sorge, ich werde die Dame mit meinem Leben verteidigen“, versprach Wolf.

„Äh ja, der Mörder hat in deinem Zustand sicher mächtig Angst vor dir.“ Wolf hörte ein amüsiertes Hüsteln. „Rollst du ihm über die Haxen, ziehst die Bremse an und machst ihn am Rad fest? Wo genau ist der Fundort?“, wollte Peter noch wissen.

„Knapp unterhalb des Sees“, informierte Wolf ihn. Dann klickte es in der Leitung. Ungläubig sah er auf sein Smartphone. Legte der einfach auf. Und was sollte das, ihn in „seinem Zustand“ auch noch zu verhohnepiepeln! Das war frech und respektlos, fand Wolf, aber es war ihm bedeutend lieber als die bedauernden, mitleidigen Blicke vieler anderer. Peter behandelte ihn wie immer. Dafür war er ihm dankbar.

So langsam fing er allerdings an zu frösteln. Wenn man sich nicht richtig bewegen konnte, kroch die Kälte noch schneller überallhin.

Was musste sein Sohn Niklas gefroren haben, dachte Wolf, als er knapp 14 Tage in diesem Regenwasserschacht auf der Wiese gefangen gewesen war. Nur mit Boxershorts bekleidet hatte er mal in mehr oder weniger Wasser gestanden und zuletzt gelegen. Es war ganz knapp gewesen. In allerletzter Sekunde war er dem Tod von der Schippe gesprungen, weil eine aufmerksame Nachbarin von Gaby ihn gehört hatte. Und auch Christel war zunächst davon überzeugt gewesen, sich zu irren. Wie konnte da jemand auf der Heuwiese rufen, wenn keiner zu sehen war? Doch als sie am Nachmittag noch einmal durch ihren Garten gegangen war, stutzte sie wieder. Tatsächlich, da rief jemand. Zwar fast unhörbar leise, aber nun war sie sicher, dass sie sich das nicht einbildete.

Doch wo kam es her?

Wolf, der inzwischen zu zittern begann, fiel wieder ein, dass er selbst damals Christels Anruf entgegengenommen hatte. Er erinnerte sich: Sie war extra auf die Wiese gegangen, weil ihr plötzlich der tiefe Schacht wieder eingefallen war und hatte dort nachgesehen, damit sie sich nicht zum Affen machte, falls es doch nur ein Pfeifen im hohlen Baum gewesen sein sollte. Da säße jemand im Höppenfeld nackt in einer Betongrube, hatte sie kurze Zeit später atemlos in den Hörer gerufen und Wolf, dessen Hoffnungsschimmer bereits dabei gewesen war zu verblassen, hatte sofort gewusst, dass es sich bei dem jungen Mann nur um seinen Sohn Niklas handeln konnte.

Seitdem waren Monate vergangen. Monate voller Angst und Zuversicht, von denen er selbst etliche verpassen sollte. Beide Gefühle hatten einander ständig die Hand gereicht und sich abgewechselt, da Wolf bei der Organtransplantation einen Schlaganfall erlitten hatte und ins Koma gefallen war. Ein Martyrium für Moni, eine Selbstverständlichkeit für ihn. Auch heute fand er den Preis noch angemessen: Sein Leben für das seines Sohnes, falls es dazu gekommen wäre, aber glücklicherweise hatten sie beide überlebt.

Im Gegensatz zu ihm war Niklas längst wieder hergestellt und im Dienst. Gesundes Essen, Sport sowie eine liebende Frau an seiner Seite, hatten ihn ruckzuck zu alter Form zurückfinden lassen. Natürlich musste man auch sein jugendliches Alter bedenken. Da wurde man einfach schneller wieder fit. Vielleicht war er durch die Tortur etwas ernster geworden, aber das schadete nicht. Und Nadine, die anfänglich an seinem Bett gewacht hatte, tat es auch jetzt noch mit Argusaugen. Wolf schmunzelte. Sie hatte ihn auf positive Art im Griff. Um seinen Sohn musste er sich keine Sorgen mehr machen, was den Alltag anging. Der Erziehungsauftrag war beendet.

„Mann, Mann, Mann, ist das lausig kalt hier draußen, richtig schattig“, schimpfte Peter, der seinen Kollegen Detlef beneidete, weil er mit Lammfell gefütterte Stiefel trug. Er beschloss, sich auch welche zuzulegen. Warum nur zu Hause Lammfellpuschen tragen?

„Moin, Wolf, du siehst auch schon ganz schön verfroren aus, fast wie die Schönheit im Schnee“, begrüßte Detlef ihn.

„Kein Wunder, ihr kommt aus dem Warmen, und ich sitze schon seit Längerem hier“, sagte Wolf.

„SpuSi und Rechtsmedizin sind auch gleich da“, kündigte Peter an. „Krasse Nummer.“ Er zeigte auf die Tote.

Detlef betrachtete sie, als suche er irgendetwas. „Hmm, ich kann gar keine Verletzung erkennen. Das viele Blut. Wo kommt es her? Wirkt wie ein Muster oder so. Komisch.“

„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte Wolf. „Ich kann mir allerdings keinen Reim drauf machen, aber es geht mich im Grunde gar nichts an.“

Peter stöhnte. „Jetzt komm mir nicht mit der Mitleidsnummer. Nur weil du im Moment im Rolli sitzt …“

„Schön, wenn es nur ein Moment wäre“, wandte Wolf mit bitterer Stimme ein.

„Unterbrich mich nicht“, meckerte Peter. „Nur weil du also zeitweise im Rollstuhl sitzt, muss doch dein Hirn nicht auch geschoben werden, oder? Das wird ja wohl intakt sein. Falls nicht, lass es mich wissen. Vielleicht hat dir der Schlag ja die grauen Zellen zerdeppert. Ich glaube aber eher, das ist der miese Versuch, uns deutlich zu machen, dass wir bei diesem Fall auf deine Mithilfe nicht zu hoffen brauchen.“

„Ja, aber, äh …“, begann Wolf. „Ich bin doch nicht im Dienst und werde auch längere Zeit ausfallen, wenn ich überhaupt wiederkommen kann.“

„Und wen interessiert das jetzt?“, fragte Peter. „Hier liegt jetzt eine Tote. Glaubst du, wir wollen auf deine langjährige Erfahrung verzichten?“ Er sah Detlef an.

Der schüttelte den Kopf. „Wollen wir keineswegs!“

„Zumindest inoffiziell möchten wir dich an unserer Seite wissen“, bohrte Peter weiter. „Können wir mit deiner Unterstützung rechnen?“

„Klar könnt ihr mich jederzeit fragen“, antwortete Wolf gerührt.

„Ich spreche nicht nur vom Fragen, sondern davon, dass wir die Teambesprechungen gelegentlich in dem Seniorenknast abhalten können, wenn du nicht runter in die Ulmenallee rollen kannst oder möchtest“, erklärte Peter.

„Vergesst nicht, dass ich krankgeschrieben bin“, erinnerte Wolf die beiden.

Peter verdrehte die Augen. „Schon klar, du kommst uns dann nur besuchen, Mann. Wie ein einsamer, alter Krüppel, der sich nach der Gesellschaft seiner ehemaligen Kollegen sehnt.“

„Arschloch“, zischte Wolf. „Du machst aus mir einen bedauernswerten Tattergreis.“

„Wenn du dich so benimmst“, sagte Peter und zuckte mit den Schultern. „Wo ist dein Biss, Alter? Der Ehrgeiz, der dich immer angetrieben hat? Klar, du hast in der letzten Zeit viel Scheiße erlebt. Ja, und? Kopf in den Sand stecken, oder was? Das passt doch gar nicht zu dir. Reiß dich gefälligst zusammen.“

Wolf schwieg.

Auch Peter begann langsam zu frösteln. „Mann, brauchen die lange!“ Er stapfte auf der Stelle herum. „Meine Füße sind langsam Eiszapfen.“

„Musst du Lammfellstiefel anziehen“, schlug Detlef vor und grinste.

„Gleich haue ich dir was hinter die Löffel, du Klugscheißer“, lachte Peter.

„Hast du zu Hause nicht diese überdimensionalen Puschen?“

Peter brummte nur und freute sich, als er Nadja durch den Torbogen am seitlichen Eingang des Parks kommen sah. Ihr folgte, einen Koffer an jeder Seite, Joseph von der Lancken, auch Seppi genannt.

„Hi. Schön, dich zu sehen, Wolf. Endlich wieder unter den Lebenden.“ Sie zwinkerte Hetzer zu. „Seppi und ich haben uns bei den Parkbuchten getroffen“, sagte Nadja. „Na, dann zeigt uns mal euer Engelchen!“ Sie trat näher. „Oh“, sagte sie und reckte den Hals. „Jetzt hätte ich gerne eine Drohne oder zumindest eine Leiter.“

„Wozu das denn?“, wollte Peter wissen.

„Na ja, weil ich glaube, dass da jemand was mit Blut in den Schnee geschrieben hat. Und ich bin zwar groß, aber fliegen kann ich nicht“, erklärte Nadja.

„Ich könnte dich auf die Schultern nehmen“, schlug Peter vor.

„Damit ich hinterher deinen Bandscheibenvorfall pflege?“, konterte sie. „Kommt nicht infrage.“

„Räuberleiter?“, versuchte Peter weiter.

„Wie wär’s denn, wenn ihr einfach im Heim nachfragt, ob uns der Hausmeister eine Leiter borgen kann?“, kam es aus dem Rollstuhl.

„Praktisch wie immer, unser Wolf“, freute sich Nadja und inspizierte den Leichnam.

„Ich geh dann mal los und organisiere eine, entweder aus dem Herminenhof oder dem Palais“, beschloss Detlef. „Irgendwo werde ich schon fündig.“

Alle anderen warteten gespannt auf die erste Beurteilung der Rechtsmedizinerin.

SchattenSchnee

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