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Kapitel 9

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Samstag, 16. September 2006, 13.47 Uhr

»Miss Sullivan, ich bin Troy Anderson«, sagte der Mann. »Meine Frau Tracy wurde vor acht Jahren ermordet. Von einem Mann namens Carl Holden. Ich habe mich damals mit Ihnen über Ihre Empfehlung für das Gericht unterhalten.«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Carolyn und streckte ihm die Hand entgegen. An dem Tisch, an dem der Mann gesessen hatte, entdeckte sie einen Jungen mit mürrischer Miene und dunklem Haar, das ihm über das eine Auge fiel. »Das da drüben ist sicher Ihr Sohn Sammy, nicht wahr? Er sieht Ihnen ähnlich. Wie geht es Ihnen denn?«

»Nicht besonders«, antwortete Anderson. Sein Blick glitt von ihr zu Marcus und dann wieder zurück zu ihr. Er war kein großer Mann, mindestens einen Kopf kleiner als Marcus. Er trug ein blaues Jeanshemd, Jeans und Nike-Tennisschuhe. »Gestern habe ich geglaubt, ich würde Carl Holden auf der Straße, in der Nähe des Gerichtsgebäudes sehen. Das war doch sicher nur Einbildung, oder? Ich kriege jedes Mal die Krise, wenn ich hierher zurückkomme. Die letzten drei Jahre habe ich in Arizona verbracht. Sam und ich sind hier, um meine Mutter zu besuchen. Sie ist in einem Pflegeheim.«

Carolyn spürte, wie sie sich innerlich anspannte. »Sind Sie denn nicht benachrichtigt worden? Carl Holden wurde vor zwei Jahren entlassen.«

Entsetzt wich Anderson ein paar Schritte zurück. »Nein!«, stieß er erregt hervor. »Ich sollte verständigt werden, wenn er auf Bewährung entlassen wird. Und jetzt läuft er frei herum, und ich habe keine Ahnung davon. Wie ist das möglich?«

Carolyn wollte Marcus schon auffordern, ohne sie zu gehen, doch sie musste Anderson im Auge behalten, da die Situation zu eskalieren drohte. »Holdens Urteil wurde aufgehoben. Nachdem das DNA-Beweismaterial für unzulässig erklärt worden war, entschied die Staatsanwaltschaft, Holden nicht noch einmal vor Gericht zu stellen. Haben Sie jemanden von der Staatsanwaltschaft über Ihren Umzug nach Arizona informiert?«

»Wie kann der DNA-Beweis unzulässig sein«, schrie Anderson wütend und zog dadurch die Aufmerksamkeit mehrerer Gäste auf sich. »Es war doch eindeutig erwiesen, dass das Blut unter Tracys Fingernägeln von Holden stammte. Das hat dieser Wissenschaftler bezeugt. Sein Name war, glaube ich, Appleby oder so ähnlich.«

Da sie für andere Gäste den Zugang blockierten, bedeutete Carolyn ihm mit einer Kopfbewegung, in den Empfangsbereich hinauszugehen. Anderson erklärte, er wolle vorher noch rasch seinem Sohn Bescheid geben. »Gehen Sie nicht weg«, bat er und richtete seinen zitternden Finger auf sie.

»Du solltest besser gehen«, flüsterte Carolyn Marcus zu. »Ich finde schon jemanden, der mich abholt. Und wenn nicht, kann ich mir immer noch ein Taxi nehmen.«

»Wenn es dir nichts ausmacht«, flüsterte er zurück, »würde ich lieber bleiben. Der Typ sieht aus, als würde er jeden Moment durchdrehen.«

Als Anderson auftauchte, nahm Carolyn das Gespräch wieder auf und schilderte ihm in knappen Sätzen die Situation, die durch Robert Abernathys Fehlverhalten entstanden war. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich dies alles bedaure.«

Erregt strich sich Anderson durch das Haar. »Und was ist mit den anderen Frauen, den Frauen, die er vergewaltigt hat? Bei diesen Fällen waren DNA-Proben nicht relevant.«

»Wie Sie sich sicher erinnern«, sagte Carolyn, »waren die Frauen, die er vergewaltigt hat, nicht imstande, Holden auf den Fotos, die man ihnen vorlegte, zu identifizieren. Zwei der Opfer haben ihn im Gerichtssaal wiedererkannt, doch die Verteidigung hat deren Aussage völlig zerpflückt. Er wurde auch in diesen Anklagepunkten rehabilitiert. Falls es Ihnen ein Trost ist, Abernathy ist tot. Jemand hat ihm vor seinem Haus aufgelauert und ihm in den Kopf geschossen.«

Anderson ballte die Hände zu Fäusten. »Das Gericht ist eine stinkende Kloake, und alle, die dafür arbeiten, sind Scheiße. Und, mein Gott, was ist mit Sam? Was soll ich meinem Sohn erzählen? Er ist jetzt in einer Sonderschule, zusammen mit lauter Idioten und Unruhstiftern. Sam ist ein intelligenter Junge. Er hat den Tod seiner Mutter nie verwunden. Scheiß auf euch! Scheiß auf euch alle!« Mit diesen Worten drehte er sich um, stapfte an seinen Platz zurück, fummelte seine Kreditkarte aus der Brieftasche und schmiss sie auf den Tisch.

»Komm, Carolyn«, sagte Marcus. »Verschwinden wir.«

»In Ordnung«, sagte sie niedergeschlagen. Sie hätte Anderson gern erklärt, dass man Holdens Prozess, sobald neues Beweismaterial auftauchte, jederzeit wieder neu aufrollen könnte. Doch egal, was sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch gesagt hätte, es hätte Troy Anderson nicht getröstet.

Im Wagen lehnte sich Carolyn zurück und starrte eine Weile schweigend vor sich hin. Schließlich erklärte sie Marcus den Weg zu ihrem Haus, da sie hoffte, die Maklerin würde mittlerweile gegangen sein. Als sie dann im Jaguar durch die Straßen glitten, brach aus Carolyn ein Redeschwall hervor, den sie nicht zu stoppen vermochte. Es war, als wäre sie in der Praxis eines Seelenklempners. Wann immer sie zu sprechen aufhörte, weil sie dachte, Marcus habe genug gehört, stellte er eine weitere Frage, und es sprudelte erneut aus ihr hervor. Ehe sie sich recht versah, hatte sie sämtliche Straftaten, die Holden begangen hatte, detailliert aufgezählt; wie er sich den Frauen gegenüber als FBI-Mitarbeiter ausgegeben hatte; wie er bei ihrem ersten Gespräch angedeutet hatte, noch mehr Frauen ermordet zu haben. Als sie Marcus erzählte, dass sie Holden am Freitag wegen eines neuen Vergehens gesehen und der Richter es versäumt hatte, Holden unter Aufsicht zu stellen, war Marcus schockiert.

»Aber bist du nicht seine Bewährungshelferin?«, fragte er verwirrt.

»Nein«, seufzte Carolyn frustriert. Mitunter dachte sie, ihre Arbeit sei für die breite Öffentlichkeit so unbedeutend, dass man die Stelle genauso gut abschaffen könnte. Andererseits wurden die Berichte, die von ihr und ihren Kollegen im Vorfeld der Hauptverhandlung verfasst wurden, von den Gerichten bei allen Kapitalverbrechen verlangt. »Ich bin nur insofern seine Bewährungshelferin, als ich seine Geldstrafe einkassiert und mit ihm gesprochen habe. Aber ich bin nicht sein Betreuer. Diese Sorte von Bewährungshelfern arbeitet für die Regierung und betreut nur Frauen und Männer, die aus dem Gefängnis entlassen worden sind. Nur gelegentlich werden Strafentlassene auch an uns verwiesen, aber selbst unter Aufsicht sind die meisten unserer sogenannten Klienten auf Bewährung frei und nicht bedingt entlassen.«

»Was ist der Unterschied?«

Marcus war klug, aber da er nicht vom Fach war, konnte man nicht erwarten, dass er das wusste. Sogar in Zeitungsartikeln wurden diese beiden Begriffe synonym verwendet. »Eine Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt, nachdem jemand seine Zeit in der Haftanstalt verbüßt hat.«

Er schüttelte den Kopf. »Also doch im Gefängnis?«

»Nein«, sagte Carolyn etwas lauter als beabsichtigt. »Ich spreche von einer Art Untersuchungsgefängnis für Kurzarrest. Eine Einrichtung, in der man untergebracht ist, während der Fall vor Gericht verhandelt wird. Theoretisch soll ein Straftäter nicht länger als ein Jahr in dieser Einrichtung bleiben. Doch manchmal wird eine Person wegen einer Reihe kleinerer Delikte verurteilt und die einzelnen Strafen summieren sich zu einem längeren Zeitabschnitt. Wie beispielsweise Verstöße gegen das Betäubungsmittel- und das Waffengesetz. Selbst wenn jemand mehrerer dieser Verstöße überführt werden kann, wandert er nicht ins Gefängnis, es sei denn, er hätte jemanden umgebracht. Wird so jemand aus dem Kurzarrest entlassen, dann normalerweise mit einer Bewährungszeit zwischen drei und fünf Jahren. Eine Gefängnisstrafe erhalten nur jene Straftäter, die sich schwerer Gewalttaten oder Kapitalverbrechen schuldig gemacht haben.«

»Wahnsinn!«, rief Marcus beeindruckt. »Was für ein faszinierendes Gebiet! Warum gibt es darüber keine Fernsehsendung?«

»Weil es niemanden interessiert«, antwortete Carolyn lapidar, während sie an ihrer Nagelhaut knabberte. »Und es lässt sich nur schwer vermitteln.« Sie hatte Marcus nichts über die Wackelfälle erzählt, Straftaten, die ein Richter sowohl mit Kurzarrest und anschließender Bewährung oder mit Gefängnis ahnden konnte. Meist griff ein Richter dann auf die Empfehlung des Gerichts- und Bewährungshelfers zurück, der festzulegen hatte, ob es der Gerechtigkeit und dem Allgemeinwohl dienlich war, einen Straftäter ins Gefängnis zu schicken. Obwohl Carolyn es satt hatte, immer wieder dieselben Fragen zu beantworten, half ihr dieses Gespräch, die verstörende Begegnung mit Troy Anderson zu verdauen. »Tut mir leid, dass du diesen Auftritt im Restaurant miterlebt hast«, sagte sie. »Aber so etwas passiert hin und wieder. Normalerweise finden derlei Konfrontationen im Büro statt, dann und wann wird man jedoch auch in der Freizeit von jemandem wiedererkannt und zur Rede gestellt.«

»Dein Beruf ist ganz schön gefährlich«, bemerkte Marcus. »Und obendrein ungeheuer komplex. Wie es sich anhört, erledigst du für den Richter einen Großteil seiner Arbeit und musst dann tatenlos zusehen, wenn er alles vermasselt.«

»So könnte man es im Großen und Ganzen zusammenfassen«, sagte Carolyn mit gezwungenem Lächeln. »Ein wesentliches Element hast du allerdings ausgelassen. Ich verdiene nur einen Bruchteil dessen, was ein Richter erhält, und er muss sich nicht die Hände im Umgang mit Kriminellen schmutzig machen.«

»Das ist nicht gerecht«, stimmte Marcus zu.

»Weißt du das noch nicht?«, fragte Carolyn, als er an ihrem Haus vorfuhr. »Für manche Menschen ist das Leben nun einmal nicht gerecht.«

Margaret verstaute gerade das Schild, auf dem die Hausbesichtigung angekündigt war, im Kofferraum ihres Mercedes. Carolyn konnte also beruhigt hineingehen und den restlichen Nachmittag genießen. Der Blick, mit dem Margaret den Jaguar musterte, verriet, dass sie Marcus für einen potenziellen Käufer hielt. Mit einer Handbewegung bedeutete Carolyn ihr, dass sie nun gehen könne. Die Maklerin formte mit den Lippen unhörbar die Worte: »Wir telefonieren.« Und dazu machte sie die bekannte Geste.

»Bleibst du in der Gegend, wenn du dein Haus verkauft hast?«

»Das muss ich allein schon wegen meines Jobs und meiner Familie«, sagte Carolyn. »Mein Sohn beginnt nächstes Jahr mit seinem Studium, und ich habe eine fünfzehnjährige Tochter. Die Ausbildung ist heutzutage sehr teuer, deshalb habe ich beschlossen, einen Teil meines Besitzes zu Geld zu machen.«

»Du kannst unmöglich einen Sohn haben, der studiert«, rief er. »Dafür bist du viel zu jung.«

»Schmeichler«, sagte Carolyn und legte die Hand auf den Türgriff des Jaguar. Da er keine Anstalten machte, sie um ein weitere Verabredung zu bitten, fragte sie kühn: »Werden wir uns wiedersehen?«

»Na klar.« Marcus wühlte in beiden Taschen, ohne etwas darin zu finden. »Wenn du einen Kugelschreiber oder irgendeinen Stift hast, werde ich dir meine Nummer aufschreiben. Ich habe im Moment keine Visitenkarte einstecken.«

»Das wäre nett.« Carolyn beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann kramte sie aus ihrer Tasche eine Reinigungsquittung und einen Kugelschreiber hervor und reichte ihm beides. Sie würde sich diese Chance, den Mann wiederzusehen, nicht entgehen lassen. Vorausgesetzt natürlich, dass er tatsächlich an ihr interessiert war. Eigentlich war sie es nicht gewöhnt, Männer anzurufen, doch die Zeiten hatten sich geändert.

»Du warst wunderbar«, sagte sie und nahm die Quittung mit der Telefonnummer entgegen. »Wie du dich bei dem Unfall verhalten hast, in der Werkstatt, einfach alles. Unser Mittagessen war eine Oase in meinem ansonsten so chaotischen Leben. Nächstes Mal, falls es ein nächstes Mal geben sollte, werden wir hoffentlich nicht gestört.«

»Ich habe einiges gelernt, was ich bis dato noch nicht gewusst habe«, erwiderte Marcus, während er ausstieg, um Carolyn zur Haustür zu begleiten. »Es kommt mir vor, als würdest du einen guten Kampf liefern, aber im Endeffekt gewinnen immer die Verbrecher.«

»Möchtest du noch einen Augenblick mit hereinkommen?«, fragte sie, da er zu zögern schien. Aus den Augenwinkeln erspähte sie die künstlichen Blumen in den Beeten entlang des Fußwegs und betete, er möge sie nicht bemerken. Wenigstens war es im Haus sauber und aufgeräumt.

»Nein, nein«, sagte er mit einem Blick auf seine Uhr. »Ich habe noch eine Verabredung mit einem Geschäftspartner. Unsere Unterhaltung war so spannend, dass ich ein paar Mal im Kreis um das Viertel gefahren bin. Ich muss mich also beeilen. Vielleicht nächstes Mal.«

»Okay, dann nächstes Mal.« Carolyn schloss die Haustür auf und wartete, bis er wieder in sein Cabrio gesprungen war und losfuhr.

Geschäftspartner, dachte sie, als sie sich auf das Sofa warf und die Beine lang ausstreckte. Wahrscheinlich hatte Marcus ein Rendezvous, und sie würde ihn nie wieder sehen. Wie auch immer, abgesehen von der Begegnung mit Troy Anderson, war es ein aufregender Tag gewesen.

Es war spät, nach dreiundzwanzig Uhr. Ein großer Mann, gekleidet in einen langen dunklen Mantel, Cowboyhut und Sonnenbrille, bezahlte den Taxifahrer, stieg aus und verschwand im Dunkel der Nacht.

Nach einem flotten, zehnminütigen Fußmarsch sperrte er das Haupttor zum Eagle-Lagergelände auf und setzte seinen Weg fort, bis er seine Mieteinheit erreicht hatte. Einen Baseballschläger unter dem Mantel hervorziehend, sprang er hoch, zerschlug den Scheinwerfer neben seinem Lagerraum und wich zurück, um nicht von den herabfallenden Glasscherben getroffen zu werden.

Sein Lager befand sich am Ende der Straße, und die Gegend um ihn herum war in Dunkelheit getaucht. Innen befand sich alles, was er brauchte – ein schwarzer Ford Pick-up und diverses Werkzeug. Er breitete eine Decke auf der Ladefläche aus und legte darauf eine Schaufel, einen Hammer, einen Rechen, zwei Eispickel und ein Paket reißfester Müllbeutel. Nachdem er sich ein Paar Latexhandschuhe übergestreift hatte, ging er nach draußen zum Wasserhahn und füllte einen Eimer mit Wasser. Er kehrte mit dem Eimer in den Lagerraum zurück, rührte etwas Lysol-Flüssigseife in das Wasser und verbrachte dann die nächste halbe Stunde damit, den Zementboden und die dünn gestrichenen weißen Wände mit einem großen Schwamm sauber zu schrubben. Die Miete war für die nächsten sechs Monate bezahlt, doch er hatte nicht die Absicht, noch einmal hierher zurückzukehren.

Er ergriff eine zweite Decke und warf sie über die Gegenstände auf der Ladefläche. Ehe er aufbrach, stellte er sich in die Mitte des Lagerraums und musterte noch einmal prüfend Wände und Boden, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hatte und alles absolut sauber war.

Schon vor Monaten hatte er das Kennzeichen des Pick-up abgeschmirgelt. Wenn das Werkzeug seinen Zweck erfüllt hätte, würde er es reinigen und auf irgendeiner Baustelle deponieren. Alles andere, einschließlich Cowboyhut, Jeans, Hemd, Mantel, Unterwäsche und Socken würde er in den Matchbeutel packen und später in ein Schließfach von einem der rund um die Uhr geöffneten Fitnessklubs sperren. Er hatte unter falschem Namen eine Mitgliedschaft erworben und dadurch uneingeschränkten Zugang zu jedem Fitnessklub der Kette.

Bei der heutigen Technologie war es eine Kleinigkeit, sich eine neue Identität zu verschaffen. Es wunderte ihn, dass es nicht mehr Leute wie ihn gab. Wenn man umsichtig und wachsam war und die Fähigkeit besaß, einen perfekten Plan zu ersinnen und umzusetzen, standen die Chancen sehr gut, dass man niemals gefasst wurde.

Als er rückwärts aus dem Lagerraum herausfuhr, war er froh, dass draußen nach wie vor alles ruhig war. Er stieg rasch aus und hängte das Vorhängeschloss an die Tür, ehe er das Gelände verließ. Die Lagerfirma war günstig gelegen, nur einen Block von der Zufahrt auf den Freeway entfernt. Um diese Tageszeit herrschte kaum Verkehr, und das war gut, da er eine anstrengende körperliche Arbeit und eine ziemlich lange Fahrt vor sich hatte, bis er sein endgültiges Ziel erreicht hätte.

Fünfzehn Minuten später fuhr er durch die dunklen Straßen des neu erschlossenen Baulands mit den skelettartigen Rohbauten. Der Wind war aufgefrischt und strich mit einem seltsamen, klagenden Ton durch die Häusergerippe. Er nahm seine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach und setzte sie auf, um beim Ausschaufeln der Grabstätte keine Erde in die Augen zu bekommen.

Hin und wieder drehte hier die Polizei ihre Runden, wofür sie vermutlich von den Baufirmen mit einem netten Trinkgeld entlohnt wurde. Die Polizisten parkten dann ihre Wagen in unbewohnten Gebieten, machten ein Nickerchen oder schrieben an einem Bericht. Um sicherzugehen, dass sie seinen Pick-up nicht erspähten und neugierig wurden, parkte er in der zukünftigen Garage eines im Bau befindlichen Hauses. Sollten die Polizisten den Wagen dennoch entdecken, was unwahrscheinlich war, würden sie annehmen, er gehöre einem der Bauarbeiter.

Schaufel, Eispickel und Hammer in die Decke gewickelt, ging er zügig in Richtung des Grabes. In seine Jackentasche hatte er mehrere Müllbeutel gestopft. Sorgsam zählte er die Schritte ab, blieb dann stehen und begann zu graben. Der Mond war aufgegangen und spendete ihm Licht. Eine Taschenlampe könnte Aufmerksamkeit erregen, und er war es gewohnt, im Dunkeln zu arbeiten. Er hatte die Leiche nicht sehr tief begraben, damit Hitze und Insekten den Zersetzungsprozess beschleunigten. Der letzte Sommer war brüllend heiß gewesen. Und da war sie schon längere Zeit unter der Erde gelegen.

Seine Berechnungen erwiesen sich als richtig. Als er mit der Schaufel auf etwas Hartes stieß, hielt er es zunächst für einen weiteren Felsbrocken, doch als er sich bückte und den Gegenstand aufnahm, entpuppte er sich als Schädel. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und befühlte den Schädel mit den Fingern. Ein paar Haarsträhnen klebten noch daran; er zupfte sie aus und überließ sie dem Wind.

Die Zähne waren bereits verschwunden, waren ausgefallen, als das Zahnfleisch zu faulen begonnen hatte oder gefräßigen Insekten und Würmern zum Opfer gefallen war. Die in der Erde verbliebenen Zähne klaubte er mit seinen behandschuhten Fingern auf, ließ sie in eine der Mülltüten fallen und verschloss die Tüte mit einem Knoten, um sie später wegzuwerfen. Es war nicht schwierig, die Zähne zu finden, da die Leiche mit dem Gesicht nach unten gelegen hatte und die Zähne sich alle in einem Radius von wenigen Zentimetern befanden. Er zählte die Zähne nicht, hielt das nicht für nötig. Wenn das Grundstück für das neue Wohnprojekt planiert werden würde, würden eben ein oder zwei Zähne untergegraben werden. Und sollte die Leiche irgendwann identifiziert werden – er hatte Maßnahmen ergriffen, um das so lange wie möglich hinauszuzögern –, würde niemand die Spur zur ursprünglichen Grabstätte zurückverfolgen können.

Die restlichen Knochen sammelte er einen nach dem anderen auf und legte sie in einen zweiten Müllbeutel. Zum Schluss wühlte er noch einmal gründlich durch die Erde, bis er sicher war, nichts übersehen zu haben. Ihre Kleider hatte er bereits entfernt und verbrannt, bevor er sie vergraben hatte.

Der Müllbeutel mit den Knochen war erstaunlich leicht. Er wusste, dass dies dem fortgeschrittenen Verfallszustand zuzuschreiben war. Zusätzlich zu dem heißen Sommer hatte es im Jahr davor heftige Regenfälle gegeben. Sogar das Wetter hatte für ihn gearbeitet.

Statt die Müllbeutel auf die Ladefläche des Pick-up zu legen, deponierte er sie auf dem Boden der Fahrerkabine. Beim letzten Besuch in seinem Lagerraum hatte er einen Beutel mit Abfall hinterlegt, den er nun in die Tüte mit den Knochen kippte. Sollte die Polizei ihn aus irgendeinem Grund anhalten, würde eine Duftwolke des stinkenden Abfalls genügen, um den Polizisten die Lust an einer genaueren Durchsuchung zu nehmen. Er würde ihnen einfach sagen, er habe seinen Abfall zur Müllhalde bringen wollen, sei dann aber zu beschäftigt gewesen, um dorthin zu fahren. Angesichts seines unrasierten, mit Erde verdreckten Gesichts und der Schweißflecken unter den Achseln auf seinem Hemd würde ihm die Polizei das sofort abnehmen.

Er nahm die Sonnenbrille ab, um beim Autofahren besser sehen zu können. Er trug ohnehin getönte Kontaktlinsen. Bei den meisten Leuten wirkte das künstlich, doch seine Augen waren hellbraun und die Kontaktlinsen braun, sodass seine Augenfarbe völlig natürlich aussah. Der Schnauzbart und die schwarze Haarfarbe hatten ihren Zweck schon längst erfüllt und waren Vergangenheit. Sobald er beschlossen hatte, sich der Frau zu entledigen, hatte er absichtlich Unmengen von Bier in sich hineingekippt und rasch einen unansehnlichen Bauch entwickelt, den er durch das Tragen von Hosen, die eine Nummer zu klein waren, noch mehr betont hatte. Dieses zusätzliche Gewicht war ebenfalls verschwunden. Wie eine Schlange, die sich häutet, hatte er nahezu alles, was ihn mit der Frau verband, beseitigt. Jetzt musste er nur noch die Knochen an dem neuen Ort deponieren und in eine nahe gelegene Stadt fahren, wo es ein rund um die Uhr geöffnetes Fitnesscenter gab.

Sobald er sein Training absolviert hätte, in die Sauna gegangen und unter die Dusche gesprungen wäre, würde er sich völlig neu einkleiden und die alten Kleidungsstücke, die er jetzt trug, im Matchbeutel zurücklassen. Seine Mitgliedskarte würde in der nächsten Mülltonne landen. Er würde vom Pick-up die Nummernschilder abschrauben und den Wagen in einer Gegend parken, die nicht derselben Polizeibehörde unterstellt war wie jene, wo er die Knochen verscharren wollte. Nach einer Woche, vielleicht auch einem Monat, würde die Polizei den Pick-up abschleppen lassen. Wenn niemand ihn abholen würde und der Wagen nicht in der Liste der gestohlenen Autos auftauchte, würde die Stadtverwaltung ihn versteigern, um die Stellplatzgebühren wieder hereinzuholen.

Binnen weniger Stunden würde alles vorbei sein. Wenn alles wie geplant funktionierte, würde die Frau, deren Knochen derzeit auf dem Grund eines Plastikbeutels ruhten, nichts weiter als eine verblassende Erinnerung sein. Selbst in dieser Phase kam es ihm schon so vor, als hätte sie nie existiert. Wenn die Polizei ihn nach einer gewissen Zeit an einen Lügendetektor anschließen und ihm ein Foto der Frau zeigen würde, könnte er ruhigen Gewissens behaupten, er habe sie noch niemals zuvor gesehen.

Diese Fähigkeit, an seine eigenen Lügen zu glauben, war eine seiner besten Eigenschaften. Und so sehr es auch Spaß machte, jemanden umzubringen, alles in allem war ein Mord, ähnlich wie die Ehe, nichts weiter als eine bequeme Lösung. Warum ein Jahr mit einem Scheidungsprozess vergeuden oder das Risiko eingehen, dass irgendein durchgeknalltes Weibsstück auf deiner Türschwelle auftaucht und dich erschießt? Solange sie sich gut benahmen, lebten sie. Wenn sie begannen, sich zu beklagen, zu streiten oder in seiner Privatsphäre herumzuschnüffeln, gab es eine simple Lösung.

Umbringen, vergraben und verschwinden.

Wenn er nachts zu Bett ging, schlief er wie ein Baby.

Dunkler Garten

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