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Kapitel 2
ОглавлениеAmt für Bewährungs- und Gerichtshilfe von Ventura County, Ventura, Kalifornien Donnerstag, 14. September 2006, 14.10 Uhr
»Hast du schon gehört, dass die Staatsanwaltschaft mit Robert Abernathy einen Deal machen will?«, fragte Carolyn Sullivan empört ihren Vorgesetzten. Wie üblich war sie unangemeldet in sein Büro hineingeplatzt. Carolyn und Brad Preston leiteten die Abteilung nahezu gemeinsam, da Carolyn beim Auswahlverfahren um die leitende Stelle nur knapp gegen Brad verloren hatte.
»Was ist mit deinen Haaren passiert?«, fragte er, während er einen Stapel Aktenordner zur Seite schob, um auf seinem Schreibtisch ein freies Plätzchen zu schaffen. Durch die geöffnete Tür hörte man Telefongebimmel, Stimmen und das gedämpfte Geräusch von Schritten auf dem Teppichboden.
Carolyn fuhr mit den Fingern durch ihre neue Frisur, sodass die kurzen Locken vom Kopf abstanden. Nächstes Jahr würde sie vierzig werden. Bis vor Kurzem hatte sie kaum einen Gedanken an ihr Aussehen verschwendet, doch nun kleidete sie sich jeden Morgen drei- bis viermal um, ehe sie sich für ein Outfit entschied. Ihre einst schmalen Hüften und die Taille waren deutlich fülliger geworden, und ihre Kleider saßen nicht nur knalleng, sondern wirkten auch so, als gehörten sie einer sehr viel jüngeren Frau. Sie hatte keine Ahnung, wie man sich als Frau um die vierzig zu kleiden hatte, und war überzeugt, dass sie demnächst furchtbar hässlich werden würde. Heute trug sie ein cremefarbenes Kleid, das ihre Mutter ausrangiert hatte. »Ich habe gestern auf dem Heimweg einen Abstecher zum Friseur gemacht, okay?«, raunzte sie Brad an. »Mir war nach einem Typwechsel à la Meg Ryan zumute.«
Preston grinste. »Gefällt mir. Du siehst damit richtig niedlich und unschuldig aus, was du ja bekanntermaßen nicht bist. Im Gefängnis wirst du sicher der Knaller sein. Das Kleid, das du heute trägst, wirkt allerdings ziemlich bieder. Offenbar hast du die Taktik aufgegeben, Kriminelle durch verführerische Kleidung zum Reden zu bringen.«
»Ich habe eine Menge Dinge aufgegeben«, knurrte Carolyn.
»Die Sache mit Abernathy macht dich fertig, was?«, fragte er. »Jetzt setz dich doch endlich.«
Brad Preston war ein sehr attraktiver Mann mit blondem, modisch geschnittenem Haar, strahlend blauen Augen, einem faltenlosen, bronzefarbenen Gesicht und einem athletisch gebauten Körper. Er war durch und durch ein Abenteurer, der das Risiko und den Nervenkitzel brauchte wie die Luft zum Atmen. Die Wände seines Büros waren voll mit Fotos, die ihn vor PS-starken Rennautos zeigten.
Carolyn setzte sich auf einen der beiden blauen Stühle vor Brads Schreibtisch. In der Luft lag der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. Brads Assistentin, Rachel, kochte ihm jeden Morgen aus den erlesenen Sorten, die er von zu Hause mitbrachte, eine Kanne Kaffee. Seine Lieblingsmischung war derzeit Vanille-Mokka. Er bot ihr eine Tasse an, sie lehnte ab. »Ein Ermittler der Staatsanwaltschaft meinte, sie würden Abernathy zugestehen, sich lediglich der Manipulation von Beweismaterial in zwei Fällen schuldig zu bekennen, wenn er sich einverstanden erklärt, dreißig Tage in einer psychiatrischen Klinik zu verbringen«, berichtete sie, ungeduldig mit einem Bein wippend. »Und was ist mit den Fällen von Meineid? Jeder Fall, in dem Abernathy Beweismaterial in die Hände bekam, kann vor ein Berufungsgericht kommen. Herrgott, er hat sogar die DNA-Probe im Tracy-Anderson-Mordfall untersucht. Würde mich nicht wundern, wenn demnächst dieser Carl Holden wieder freikommt.«
»Tut mir leid, Carolyn.« Brad Preston wich ihrem Blick aus. »Holdens Urteil wurde vor beinahe zwei Jahren aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft sah von einem neuerlichen Verfahren gegen ihn ab, weil es ohne das DNA-Beweismaterial keine Chance auf eine neuerliche Verurteilung gab. Und angesichts der unglaublichen Schlampereien, die in Abernathys Labor stattgefunden haben, war die Verurteilung auch unzulässig. Wie du dich sicher erinnerst, konnte ihn keines der überlebenden Vergewaltigungsopfer eindeutig identifizieren. Bei dem Fall drehte sich alles um die DNA.«
Entsetzt über diese Neuigkeit, schloss Carolyn für einen Moment die Augen. Die Sache mit Abernathy war schlimm genug, aber dies übertraf alles.
Rachel, eine Frau Mitte zwanzig mit einem jugendlichen Gesicht, betrat das Büro. »Harry ist vom Gericht zurück«, sagte sie. Harry war der oberste Gerichtspolizist der Behörde, der andere Polizisten bei Routinestrafsachen vertrat und ihnen dadurch die Mühe ersparte, bei der Abrechnung ihrer Gerichtstermine zu schummeln. »Wollen Sie seinen Bericht gleich hören oder soll er später wiederkommen? Er meinte, es sei ziemlich gut gelaufen. Nur Walkers Empfehlung wurde nicht in vollem Maße übernommen.« Erst jetzt fiel ihr Blick auf Carolyn. »Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht, dass Sie eine Besprechung haben, Brad. Soll ich die Tür schließen?«
»Ja, bitte«, sagte ihr Boss und trank einen Schluck Kaffee.
Carolyn richtete sich kerzengerade auf; ihre Miene war eisig. »Warum hat mich niemand über Holden informiert?«
»Ich habe es selbst erst vor wenigen Monaten erfahren«, sagte Brad, seine Fingerknöchel knackend. »Mir war klar, wie sehr es dich aufregen würde, und so habe ich beschlossen, es dir nicht zu erzählen. Was hätte es auch genutzt? Der Fall Holden ist nur einer von wer weiß wie vielen Fällen, die von der Sache betroffen sind. Die Staatsanwaltschaft hat Jahre gebraucht, um die Fäden von Abernathys verworrenem Tun zu entwirren und genau aufzulisten, welche Fälle davon betroffen sind. Der Mann war schließlich der Leiter des gerichtsmedizinischen Labors. Der arme Kerl hatte einen Nervenzusammenbruch. Die Cops und die Staatsanwaltschaft üben auf diese Leute einen enormen Druck aus, und sie werden mit Beweismaterial überschwemmt, das sie untersuchen sollen. Die können auch nicht zaubern. Um dem permanenten Druck auszuweichen, hat Abernathy ihnen einfach die Ergebnisse geliefert, die gewünscht wurden.« Er räusperte sich. »Die Staatsanwaltschaft hatte keine andere Wahl, als einen Deal mit ihm auszuhandeln. Man will unbedingt verhindern, dass die Sache an die große Glocke gehängt wird. Warner Chen war der Einzige, der zu einer Zeugenaussage bereit war, doch Abernathys Anwälte haben ihn als frustrierten Angestellten dargestellt, der seinen Boss in Verruf bringen möchte, um seine Stelle zu ergattern.«
»Chen würde man die Stelle ohnehin nicht geben«, wandte Carolyn ein. »Immerhin hat er sich an die Presse gewandt und alles ausgeplaudert. Erst letzte Woche gab es darüber einen Zeitungsartikel. Warum will man Abernathy schonen, wenn die Katze bereits aus dem Sack ist?«
»Warner Chen wurde letzte Woche gefeuert«, sagte Preston. »Das war der Grund, weshalb er sauer war und sich an die Presse wandte.«
»Abernathy ist nicht verrückt, Brad. Er ist ein faules, inkompetentes Arschloch. Es heißt, er habe die Hälfte der Beweise, die in seinem Labor landeten, nicht untersucht. Er hat einfach Berichte zusammenfantasiert oder von Tatverdächtigen nach deren Festnahme DNA-Proben genommen und dann behauptet, sie würden zu den jeweiligen Funden am Tatort passen. Der Typ kam sich vor wie Gott. Wahrscheinlich hat es ihn angemacht, dass er die Kontrolle darüber hatte, wer in den Knast wandert und wer freikommt. Sicher, er war von den Ermittlungsbeamten beeinflusst, aber das rechtfertigt sein Tun noch lange nicht. Man hätte ihn genauso behandeln sollen wie jeden anderen Kriminellen. Angesichts seiner Position und der damit verbundenen Macht, Leben zu erhalten oder zu zerstören, hätte er in meinen Augen eine doppelt so harte Strafe wie ein gewöhnlicher Betrüger verdient.« Angewidert von der ganzen Situation, lehnte sie sich zurück. »Das ist eine Katastrophe. Jetzt habe sogar ich jedes Vertrauen in unser Rechtssystem verloren.«
Preston klopfte mit dem Kugelschreiber gegen seine Zähne. »Wir handeln ständig mit Mördern irgendwelche Deals aus. Warum nicht auch mit einem von uns? Das heißt nicht, dass ich allem zustimme, aber ich verstehe, weshalb die Staatsanwaltschaft auf Schadensbegrenzung aus ist. Je mehr die Sache in den Medien breitgewalzt wird, desto mehr Fälle werden vor einem Berufungsgericht landen. Die Gerichte sind schon jetzt völlig überlastet. Wir haben weder die Mittel noch das Personal, um auch nur die Hälfte der Verbrechen wieder aufzurollen, die in den elf Jahren, in denen Abernathy das gerichtsmedizinische Labor leitete, verübt wurden.«
Carolyn gab keine Antwort. Auch unabhängig von Robert Abernathys Fehlverhalten barg die forensische Beweisführung aus vielerlei Gründen etliche Fehlerquellen. Proben konnten verdorben sein oder zu unergiebig, um die notwendigen Tests durchzuführen. Beweismittel konnten am Tatort oder während der Bearbeitung im Labor verunreinigt werden. Die technische Ausrüstung konnte schadhaft sein. Befangenheit war ein weiteres Problem, wie man es bei Abernathy gesehen hatte, der von dem Verlangen beseelt gewesen war, Polizei und Ankläger zufriedenzustellen. Gerichte und Geschworene hatten sich angewöhnt, vorbehaltlos auf forensische Beweismittel zu vertrauen – vor allem auf DNA-Ergebnisse, die als unwiderlegbar galten –, sodass Zeugenaussagen, Logik und materielle Fakten nicht mehr genügten, um eine Verurteilung zu erwirken.
Preston starrte einen Moment an die Decke und sah Carolyn dann ernst an. »Ich habe noch mehr schlechte Nachrichten. Holden ist wegen eines neuen Verbrechens verurteilt worden. Ich möchte, dass du den Fall übernimmst. Diesmal geht es um Sachbeschädigung. Richter Reiss hat ihm eine Bewährungsstrafe ohne Auflagen gegeben. Niemand wird dich also bitten, ihn zu beaufsichtigen.«
»Bewährung ohne Auflagen!«, rief Carolyn empört. »Carl Holden ist ein Serienvergewaltiger und Mörder. Und du erzählst mir allen Ernstes, Reiss hält es für unnötig, ihn unter Aufsicht zu stellen? Auf der Straße läuft ein gewaltbereiter Krimineller rum, und wir haben keine Möglichkeit, ihn zu überwachen! Er ist nicht einmal bedingt entlassen. Herrgott, wie kann man nur so verantwortungslos sein!«
»Ich habe dir den Fall aus zwei Gründen übertragen«, fuhr Brad fort, ohne auf ihren Wutausbruch einzugehen. »Da du vor acht Jahren die erste Ermittlung durchgeführt hast, kennst du Holden besser als jeder andere. Für den Fall, dass er in Zukunft wieder eine Gewalttat verübt, könnte es nützlich sein, wenn du ihn ein wenig aushorchst.«
»Ich will ihn aber nicht aushorchen«, entgegnete Carolyn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das kann von mir aus Richter Reiss tun.« Als ihr auffiel, wie kindisch sie sich verhielt, fügte sie hinzu: »Okay, gib mir seine Akte. Ich werde mein Bestes versuchen.« Ihre Gedanken wanderten zu dem Ehemann des Mordopfers. »Hat jemand Troy Anderson informiert?«
»Das hat die Staatsanwaltschaft sicher getan«, sagte Preston, während er in seinem Computer die Fall-Datei aufrief.
Carolyn trat an seinen Schreibtisch und ergriff ein gerahmtes Foto, das ihn mit einer jungen Blondine vor einem nagelneuen Rennwagen zeigte. »Neue Trophäe?«, fragte sie, ehe sie das Foto wieder zurückstellte.
»Nein, schon älter«, erwiderte er, nur flüchtig aufblickend. Als ihm klar wurde, worauf sich ihre Frage bezogen hatte, begann er zu lachen. »Das ist Trixie, meine Mechanikerin. Willst du eines der Mädels sehen, mit denen ich in jüngster Zeit zusammen war?«
»Danke, kein Bedarf«, sagte sie schnippisch. Es genügte, dass er seine Verflossenen – und damit auch sie – als Mädel bezeichnete.
Carl Holden war einer der ersten Schwerverbrecher gewesen, mit denen Carolyn als Bewährungshelferin und ermittelnde Gerichtshelferin zu tun gehabt hatte. Das Mordopfer war Tracy Anderson gewesen, eine sechsunddreißigjährige Hausfrau. Carolyn hatte vorgeschlagen, dass Holden für die insgesamt vier Anklagen auf Vergewaltigung zweiunddreißig Jahre und für den Mord zusätzlich noch einmal zwölf Jahre erhalten sollte. Der Richter war ihrer Empfehlung gefolgt und hatte ein Strafmaß von vierundvierzig Jahren verhängt. Acht davon hatte Holden abgesessen.
»Was hat es mit dieser Sachbeschädigung auf sich?«
»Irgendein Typ hat ihn in einer Bar angepöbelt«, berichtete Brad, die Hände im Nacken verschränkend. »Im Verlauf des Handgemenges schubste er Holden in eine Fensterscheibe. Bevor die Cops eintrafen, haute er ab, und so erhob der Barbesitzer Anzeige gegen Holden.«
Carolyn schnaubte. »Vielleicht kannst du dich nicht mehr daran erinnern, aber er hat damals bei seiner Verurteilung eine Riesenszene vor Gericht abgezogen. Er behauptete, ich hätte sein Vertrauen missbraucht und die Aussagen, die er während unserer Gespräche gemacht hatte, verdreht, um den Richter zu einer härteren Strafe zu bewegen. Holden hasst mich, das solltest du wissen. Ich bezweifle, dass er mir irgendwelche Geheimnisse anvertrauen wird.« Sie ging zur Tür, doch Brad rief sie zurück.
»Ich habe Holden für morgen Nachmittag um halb fünf einbestellt.«
»Verdammt!«, schrie Carolyn. »Jetzt muss ich an einem Freitag Überstunden machen. Du hättest mir zumindest insofern entgegenkommen können, dass du mich entscheiden lässt, wann ich ihn sehen möchte. Danke, Brad. Vielen Dank. Du bist ein echter Freund.« Er hatte dieses dämliche Grinsen im Gesicht, das sie fuchsteufelswild machte. Er bemühte sich zwar um einen ernsten Ausdruck, doch seine zuckenden Mundwinkel und das Glitzern in seinen Augen verrieten ihn. Brad sah das Leben als ständiges Abenteuer an. Das machte einen Großteil seines jungenhaften Charmes aus, und normalerweise war Carolyn dafür auch empfänglich. Im Moment hätte sie ihm jedoch am liebsten eine Ohrfeige verpasst.
»Ich versuche nur, dir behilflich zu sein.«
»Erspar mir weitere Gefälligkeiten, okay?«, fauchte Carolyn und stapfte hinaus.
Carolyn saß am Schreibtisch und wollte gerade Carl Holdens Akte aufschlagen, als jemand hinter sie trat und sie am Haar zupfte. »Was steht an?«, fragte Veronica Campbell.
Carolyn drehte sich zu Veronica um und berichtete, was sie soeben über Robert Abernathy erfahren hatte und dass sie morgen Carl Holden sehen würde. »Norton von der Staatsanwaltschaft erzählte mir, die Opfer würden nonstop anrufen, seit der Artikel vergangene Woche erschienen ist«, fuhr sie fort. »Sie versuchen herauszufinden, ob Abernathy in ihren Fall verwickelt war. Ich verstehe nicht, warum die Staatsanwaltschaft nach wie vor meint, sie könne die Sache vertuschen, obwohl alle Zeitungen darüber berichtet haben.«
»Im Gefängnis sind eine Menge Leute, die davon nichts erfahren werden«, wandte Veronica ein, während sie sich auf den Stuhl neben Carolyns Schreibtisch setzte. »Vor allem, wenn jetzt der Aufruhr im Keim erstickt wird. Die meisten sind ohnehin schuldig. Hattest du außer Holden noch andere Fälle, in denen Abernathy das Beweismaterial untersucht hat? Ich hatte tonnenweise Fälle.«
»Klar, ich auch«, sagte Carolyn. »Allerdings ist Holden der erste Mörder, der dadurch freigekommen ist. Und bei dir?«
Veronica war eine ausgesprochen weibliche Frau Ende dreißig. Sie hatte eine Tochter, die im selben Alter wie Carolyns Sohn John war, sowie zwei kleinere Kinder von fünf und zwei Jahren. Sie hatte kurze hellbraune Locken, ein rundes freundliches Gesicht und seit ihrer letzten Schwangerschaft sicher zehn Kilo Übergewicht. Die beiden Frauen kannten sich seit der Grundschule. Sie waren nicht immer einer Meinung, aber beste Freundinnen. »Erinnerst du dich an den brutalen Kindsmord, den ich letztes Jahr hatte?«
»Der achtjährige Junge, richtig?«
»Billy Bell«, sagte Veronica. Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Pullovertasche und putzte sich die Nase. »Ich weiß nicht, die wievielte Erkältung das in diesem Jahr ist. Drew hat sie auch, und das Baby hat obendrein Krupp und die letzten drei Nächte nur gehustet.«
Carolyn unterbrach sie, da Veronica sonst endlos über ihre Familie weitergeredet hätte. »Der Fall …«
»Er ist gerade in Revision. Davidson von der Staatsanwaltschaft meint, es sei gut möglich, dass das Urteil gegen Lester McAllen aufgehoben wird. Billys Mutter hat Selbstmord begangen, nachdem ihr Sohn …« Veronicas Augen wurden glasig und ihre Lippen bleich. »Puh … ein Kind auf diese Weise zu verlieren. Damit wird wohl kaum eine Mutter fertig.«
»Der Fall ist dir an die Nieren gegangen, was?«, sagte Carolyn. »Warum hast du Brad nicht gebeten, dich von dem Fall abzuziehen?«
»Na ja, Job ist Job«, erwiderte sie, mit einem Finger über ihr Augenlid reibend. »Sie haben jahrelang versucht, ein Kind zu bekommen. Die Frau hat Hormone genommen, und als der Arzt ihnen mitteilte, es sei eine Mehrlingsschwangerschaft, entschieden sie sich, alle Embryonen bis auf einen abzutreiben. Nach Billys Ermordung haben sie das sicher bitter bereut. Sie waren eine nette Mittelstandsfamilie. Die Mutter hat bei der Bank gearbeitet, der Vater hatte einen kleinen Malerbetrieb. Sie haben ihren Sohn vergöttert. Als ich den Mann anrief, um ihm die Sache mit Abernathy mitzuteilen, erzählte er, er habe Konkurs anmelden müssen. Er wusste nicht einmal, ob er das Haus behalten könne.«
Entgeistert sah Carolyn sie an. »Du hast ihn angerufen?«
»Ich habe alle Opfer, mit deren Fällen ich befasst war, angerufen, sobald ich mich davon überzeugt hatte, dass sie betroffen sind.« Veronica kippelte mit dem Stuhl. »Die Opfer haben ein Anrecht darauf, dass man sie informiert. Selbst diejenigen, die die Zeitungsberichte gelesen haben, werden die Tragweite dieser Geschichte wahrscheinlich nicht ganz begreifen. Ich meine, normale Leute können nicht viel damit anfangen, wenn sie von einem forensischen Wissenschaftler lesen, der Beweismaterial verfälscht und manipuliert hat. Auch Tyler Bell war der Ansicht, es habe nichts mit ihm zu tun, da der Mann, der Billy umgebracht hat, bereits im Gefängnis war.«
Veronica beugte sich nach vorn, zog eine Schreibtischschublade auf und kramte nach etwas Essbarem, wenngleich ohne Erfolg. Carolyn kaute immer auf irgendetwas herum – Rosinen, Nüsse, Müsliriegel. Seit Neuestem war sie bekennender Schokoholic. Normalerweise hatte sie immer zwei, drei Schokoriegel in der Schublade, und Veronica kam gelegentlich vorbei und stibitzte sich einen.
»Ich habe nichts Süßes mehr, tut mir leid«, sagte Carolyn. »Gestern habe ich den letzten Riegel gegessen und dummerweise vergessen, Nachschub zu besorgen.«
»Macht nichts«, sagte Veronica und stand auf. »Ein Schokoriegel würde mir auch nicht weiterhelfen. Ich brauche etwas, das mich länger als zwei Minuten befriedigt. Ich will versuchen, ein paar alte Fälle auszugraben oder irgendwas, womit ich McAllen, falls er freikommt, wieder einbuchten kann. Bei Typen wie ihm ist immer noch irgendetwas anhängig, wenn sie in den Knast wandern.«
Nachdem Veronica gegangen war, starrte Carolyn auf den Parkplatz hinaus. Ein Arbeitsplatz am Fenster war sehr begehrt und wurde nach Dienstalter vergeben. Veronica hatte früher in dem abgeteilten Raum nebenan gearbeitet, ihren Platz jedoch verloren, als sie zwei Jahre Babypause nahm. In der Ferne konnte Carolyn die Ausläufer des Ventura-Gebirges erkennen. Wäre das Gebäude auf die andere Seite ausgerichtet, würde sie Aussicht auf das Meer haben.
Sie blätterte durch die Holden-Akte. Als sie bei den Autopsiefotos von Tracy Anderson angelangt war, nahm sie diese heraus und zwang sich, sie anzusehen. Wenn der Job zu belastend wurde, vertiefte sie sich so lange in die Fotos, bis die darauf abgebildeten Opfer sich zu regen begannen und zu ihr sprachen. Ihr Schreibtisch war die Endstation der Reise. Bis ein Fall ihren Schreibtisch erreichte, hatte die Polizei ihre Ermittlung abgeschlossen, der Staatsanwalt erfolgreich einen Schuldspruch eingebracht, und doch stand der wichtigste Teil noch aus – die Festlegung des Strafmaßes. Und genau da hatte Carolyn die Chance einzuwirken.
Sie war überzeugt, dass Holden auch andere Frauen umgebracht und ihre Leichen irgendwo verscharrt hatte, wo niemand sie finden würde. Wie konnte man einen derart gefährlichen Kriminellen wieder in die Freiheit entlassen? Die Hand an die Stirn gelegt, sann sie darüber nach, welchen Schaden Abernathy den vielen Opfern, die ihre Stimmen nicht mehr zum Protest erheben konnten, zugefügt hatte. Sie empfand großes Mitgefühl mit den Familien, doch in erster Linie fühlte sie sich den Opfern verpflichtet – sie waren ihr Boss.
Wenn sie ihren Gehaltsscheck einlöste, sah sie nicht die Summe oder das Amtszeichen. Anders als die meisten anderen Kollegen beklagte sie sich nie über ihr Gehalt. Ihr bescheidenes Einkommen erschien ihr mehr als angemessen. Viel zu viele der Opfer hatten mit ihrem Leben bezahlt.
Das Rechtssystem hatte bei Tracy Anderson versagt, genauso wie bei Billy Bell. Carolyn war Teil des Systems. Acht Jahre für die Ermordung einer lebenssprühenden jungen Frau war keine Gerechtigkeit, genauso wenig wie die vierundvierzig Jahre, die das Gericht aufgrund ihrer Empfehlung ursprünglich über Carl Holden verhängt hatte. Und jetzt musste sie sich erneut mit der Sache befassen, musste sich erneut für Tracy Anderson einsetzen.
Um den Kopf freizubekommen, ging Carolyn in die Cafeteria, wo sich der Kaffeeautomat befand. Unterwegs hörte sie, wie ein Telefon zwei-, dreimal klingelte und abrupt verstummte, als sich der Anrufbeantworter einschaltete. In den meisten Fällen gingen die Bewährungshelfer an den Apparat, damit sie später den Anrufern nicht hinterhertelefonieren mussten.
Eine tiefe Stille lag über der gesamten Behörde. Niemand schien zu telefonieren, um Termine mit Angeklagten oder Opfern auszumachen, um mit Polizisten und Staatsanwälten über Fälle zu sprechen oder einfach nur, um zu überprüfen, ob die eigenen Kinder sicher von der Schule nach Hause gekommen waren. Im Vorbeigehen erhaschte Carolyn einen Blick auf ihre Kollegen, die an ihren durch Trennwände abgeteilten Arbeitsplätzen saßen und entweder konzentriert in irgendwelchen Akten lasen oder auf ihre Computermonitore starrten. Wahrscheinlich suchten sie nach alten Haftbefehlen, Bewährungsverstößen oder anderen Fällen, die einem Täter, der wegen Abernathys Fehlverhalten freigekommen war, noch zur Last gelegt werden könnten. Sie versuchten alle, den Schaden irgendwie zu begrenzen und mit ihrem Zorn fertig zu werden.