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Kapitel 5

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Freitag, 15. September 2006, 16.40 Uhr

Carl Holden traf fünfzehn Minuten zu früh im Amt für Bewährungs- und Gerichtshilfe ein. Carolyn wies die Empfangsdame an, ihn schon einmal in einen Gesprächsraum zu führen. Nachdem sie bewusst noch eine Weile gewartet hatte, ging sie zur rechten Seite der Etage, wo sich eine Reihe kleiner Zimmer befand.

Außer für Gespräche mit auf Bewährung entlassenen Straftätern nutzten die Beamten die Räume auch, um ihre Berichte zu schreiben oder um sich zurückzuziehen, wenn es im Großraumbüro zu laut war.

Holden sah gut aus, dachte Carolyn, erstaunlich gut für einen Mann, der acht Jahre hinter Gittern gesessen hatte. Andererseits war er bereits seit zwei Jahren wieder in Freiheit, lange genug, um die dumpfe, fahle Gefängnispatina abzuwaschen. Trotz seiner vierundfünfzig Jahre wies sein braunes Haar noch kein Grau auf, und nur um die Augen und den Mund herum waren ein paar feine Falten zu erkennen.

Sie setzte sich an den kleinen, eichenfurnierten runden Tisch. Holden trug ein ordentlich gebügeltes Hemd und eine khakifarbene Hose. Er wirkte so freundlich und harmlos, dass sie einen Moment lang vergaß, welch grausame Verbrechen er begangen hatte. Aber als sich ihre Blicke trafen, begann sie innerlich zu frösteln.

»Sie sind erwachsen geworden, Carolyn«, sagte Holden grinsend. Einer seiner Schneidezähne stand etwas vor und reflektierte das Licht der Deckenbeleuchtung. »Erinnern Sie sich an mich? Ich erinnere mich noch sehr gut an Sie. Ich bin der Typ, den Sie am liebsten für immer hinter Schloss und Riegel gebracht hätten. Ich habe Sie durchschaut. So ein hübsches Gesicht, aber hinter dieser Fassade sind Sie eine boshafte, gemeine Person. Sie haben einen unschuldigen Mann ins Gefängnis gebracht.«

»Hören Sie zu, Carl«, sagte Carolyn. »Ich habe keine Lust auf Ihre Spielchen.« Sie gab ihm keine Zeit zu antworten. »Lassen Sie uns eines klarstellen. Ihr Urteil wurde aufgehoben, weil ein Idiot Mist gebaut hat. Wir wissen beide, dass Sie nicht unschuldig sind, also lassen Sie den Quatsch. Das Gericht hat Sie für Ihre jüngste Straftat zu einer Bewährungsstrafe von vierundzwanzig Monaten verurteilt und zu einem Schadensersatz in Höhe von sechshundertfünfzig Dollar, die Sie binnen der nächsten sechs Monate an den Besitzer von Pete’s Bar zu leisten haben. Nach dem heutigen Tag werden Sie mich nicht mehr wiedersehen, es sei denn, Sie verüben eine neue Straftat. Und in diesem Fall werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie wieder im Gefängnis landen. Haben wir uns verstanden?«

Hasserfüllt sah er sie an.

»So«, fuhr sie fort, »wo wohnen Sie derzeit?«

»Ich habe meine Stelle verloren, weil ich einen Tag im Krankenhaus verbringen musste, nachdem mich dieser Kerl durch die Scheibe geschmissen hatte. Der Arzt wollte sichergehen, dass ich keine Gehirnerschütterung habe. Meine Zimmerwirtin setzte mich vor die Tür, als sie herausfand, dass ich als Sexualstraftäter registriert bin. Mein Anwalt hätte eigentlich dafür sorgen sollen, dass der Eintrag gelöscht wird, aber ich stehe immer noch auf der Liste.«

Sehr gut, dachte Carolyn. So erlitt er für seine Verbrechen wenigstens ein paar Unannehmlichkeiten. »Und wo schlafen Sie? Sie sehen nicht aus wie jemand, der auf der Straße lebt.«

»Ich habe gestern in der Obdachlosenunterkunft übernachtet«, sagte Holden. »Ich wusste, dass ich Sie sehen werde und habe mir deshalb ein paar neue Klamotten gekauft.« Er griff in die Tasche und zog ein Bündel Geldscheine heraus. »Zählen Sie nach«, sagte er. »Das sind sechshundertfünfzig Dollar.«

Carolyn fächerte die Banknoten wie Spielkarten auf. »Woher haben Sie das?«

»Ich habe es nicht gestohlen, wenn Sie das meinen.« Er kippelte auf seinem Stuhl nach hinten. »Ich habe es von meinem Gehalt gespart. Die Leute, bei denen ich gearbeitet habe, sind Koreaner. Die sind völlig irre. Einen Job in einer Wäscherei kann ich immer kriegen. Ich möchte aber wieder ins Baugewerbe zurück. Muss nur auf die richtige Gelegenheit warten.« Er warf einen Blick auf ihre rechte Hand. »Wo ist Ihr Ehering? Sie haben ihn verjagt, was? Niemand ist gern mit einem Luder verheiratet, Carolyn. Hat Ihnen das Ihre Mutter nicht gesagt?«

Sie erstarrte. Nachdem Frank mit seinem ersten Roman gescheitert war, hatte er begonnen, mit anderen Frauen zu schlafen, um sein Selbstbewusstsein aufzupolieren. Ein Jahr später war er kokainabhängig geworden. Er hatte seine Kinder nicht mehr besucht und nie auch nur einen Cent Unterhalt für sie bezahlt. »Mein Privatleben geht Sie nichts an.«

»Oh, da täuschen Sie sich.« Er strich mit dem Zeigefinger um seinen Mund und leckte dann den Finger ab.

Seine laszive Geste verursachte Carolyn Übelkeit. Sie konnte keine Sekunde länger mit ihm in diesem Raum bleiben. Vom Flur drang kein Laut herein. Manche Beamte blieben bis um sechs Uhr, die meisten gingen jedoch bereits um fünf. Sie hätte den Termin mit Holden pünktlich beginnen sollen. »Warten Sie hier«, sagte sie, während sie zur Tür ging. »Ich muss einen Quittungsblock holen, damit ich Ihnen den eingezahlten Betrag quittieren kann.«

Im Flur war niemand zu sehen. Natürlich, dachte sie, heute war ja Freitag, und da arbeitete niemand länger. Jetzt war sie allein mit einem Mörder. Sie eilte in den Lagerraum, schnappte sich aus einem Messingschrank einen Quittungsblock, knallte die Tür hinter sich zu und hastete zurück, um Holden eine Quittung auszustellen und ihn auf schnellstem Wege wieder loszuwerden. Als sie die Tür aufriss, blieb sie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

Holden war verschwunden.

Carolyn ging in den Empfangsbereich und überprüfte die Toiletten. Nichts. Zufrieden, dass er die Behörde verlassen hatte, kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück, um ihre Handtasche und den Aktenkoffer zu holen. Plötzlich hielt sie inne und spitzte die Ohren, da hinter der Trennwand gedämpfte Schritte zu vernehmen waren.

Sie duckte sich hinter den Schreibtisch, öffnete ihre Handtasche, zog ihre Neunmillimeter heraus und rückte den Stuhl an seinen Platz zurück, damit man sie nicht bemerkte. Ihre Finger glitten zitternd zum Sicherungshebel. Ohne die Sicherung zu lösen, zielte sie mit der Waffe durch die Stuhlbeine. Sie hatte schon einmal jemanden erschossen, und Holden hatte mehr als nur eine Kugel verdient.

Die Verwaltungszentrale von Ventura County glich einer kleinen Stadt. Die Gerichtshöfe, die Büros der Bezirksstaatsanwälte und der Pflichtverteidiger und die Aktenarchive befanden sich an der linken Seite eines großen freien Platzes. In der Mitte stand ein Springbrunnen, umringt von Betonbänken. Auf der anderen Seite befanden sich das Amt für Bewährungs- und Gerichtshilfe, die Polizeibehörde sowie die Haftanstalten für Frauen und Männer. Von außen würde man nicht vermuten, dass die sich gegenüberliegenden Gebäudekomplexe verbunden waren, doch es gab einen unterirdischen Tunnel, um Häftlinge in die Gerichtssäle und wieder zurückzuschleusen.

In der Haftanstalt saßen Untersuchungsgefangene und Straftäter, die wegen leichterer Vergehen verurteilt waren. Da die relativ neue Einrichtung für vierhundertzwölf Insassen geplant war, meist jedoch weit über tausend beherbergte, glich die Infrastruktur der eines dreißig Jahre alten Gebäudes. Vor etwa elf Jahren hatte das County in Santa Paula eine weitere Strafanstalt errichten lassen, das Todd-Road-Gefängnis, mit Platz für siebenhundertfünfzig männliche Straftäter.

Detective Hank Sawyer betrat die erkennungsdienstliche Abteilung der Haftanstalt und klopfte einem uniformierten Beamten auf die Schulter. Ein dürrer Schwarzer namens Alfonso Washington wurde gerade mit Fotos und Fingerabdrücken erkennungsdienstlich behandelt. Er hatte innerhalb von zwei Wochen sechs Getränkeläden überfallen und war schwer drogensüchtig. Danny Alden, ein dreiundzwanzigjähriger Polizist, hatte Alfonso, kurz nachdem die Meldung eines neuen Überfalls eingegangen war, beim Urinieren im angrenzenden Gebüsch entdeckt; er hatte eine leere .45er Magnum in seiner Tasche gehabt sowie die achtundsechzig Dollar, die ihm der Angestellte aus der Kasse ausgehändigt hatte. Da dies Aldens erste größere Festnahme war, war Hank eigens in die Haftanstalt gekommen, um ihm persönlich sein Lob auszusprechen. »Ich verschwinde jetzt«, sagte er zu ihm. »Gehen Sie aufs Revier zurück und schreiben Sie Ihren Bericht fertig. Danach können Sie Feierabend machen. Gute Arbeit, Kumpel.«

Hank trat in die frische Abendluft hinaus. Er hatte vorhin im Revier angerufen, doch es waren keine ungewöhnlichen Vorfälle gemeldet worden, nur die üblichen Familienstreitigkeiten, Verkehrsunfälle, lauten Partys, betrunkenen Fahrer – nichts, was für einen Mordermittler von Interesse wäre. Sicher, an einem Freitagabend konnte alles passieren. Und bis zur Morgendämmerung waren es noch etliche Stunden.

Seit seiner Beförderung zum Lieutenant hatte Hank fünfzehn Kilo abgenommen. Sein einstiger Schwabbelbauch war nun hart und flach. Nicht unbedingt ein Waschbrettbauch, dachte er, aber für siebenundvierzig Jahre noch verdammt gut in Form. Er stemmte jeden Morgen Gewichte und joggte dreimal die Woche. Da seine alte Kleidung nicht mehr gepasst hatte, hatte er sich eine völlig neue Garderobe zugelegt. Als er übergewichtig gewesen war, hatte er auf seine Kleidung nicht geachtet. Jetzt genoss er es, morgens aufzustehen und eine gut sitzende Hose, ein schmal geschnittenes Hemd und eine geschmackvolle Krawatte anzuziehen. Er hatte auch mehrere neue Sakkos gekauft, darunter auch ein richtig teures Teil. Leider hatte er kaum Möglichkeiten, seine neuen Klamotten außerhalb der Arbeit auszuführen. Er ging nur ab und zu mit einer Kellnerin namens Betty irgendwohin zum Tanzen.

Als er das Verwaltungsgebäude durch die andere Tür wieder betrat, stieg er die Stufen zur Bewährungsbehörde im zweiten Stock hinauf. Zu seinem Fitnessprogramm gehörte es, dass er sein Auto auf einem Parkplatz so weit weg wie möglich parkte und anstelle eines Aufzugs immer die Treppen benutzte. Carolyn Sullivan war Workaholic, und die Chancen standen gut, dass sie noch im Büro war.

Hank erinnerte sich noch daran, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Wie lange mochte das her sein? Elf, vielleicht auch zwölf Jahre. Er hatte aus dem Fenster des Staatsanwaltbüros geblickt und diese junge Frau mit dem hübschen, klaren Gesicht gesehen, die über den Innenhof ging. Carolyn war eine kleine Frau, kaum größer als einen Meter sechzig, und damals hatte sie hohe Absätze getragen, um größer zu wirken. Ihre Haut war blass und fein. Anders als die meisten kalifornischen Frauen röstete sie sich nicht stundenlang in der Sonne. Der Kontrast zu ihren dunklen Haaren war atemberaubend. Aber er hatte sich vor allem in ihre großen, ausdrucksvollen Augen verknallt und in ihr Lächeln mit diesen beiden bezaubernden Grübchen.

Die in die Empfangshalle führende Haupttür war offen. Normalerweise wurde sie von demjenigen, der zuletzt ging, abgesperrt. Also war noch jemand hier. Er trat ein und machte sich auf den Weg zu Carolyns Arbeitsplatz. Falls sie tatsächlich noch hier sein sollte, dann sicher als einzige. Das Büro wirkte wie ausgestorben. Er entdeckte ihr Namensschild, doch als er über die Trennwand lugte, sah er sie nicht an ihrem Platz. Er wollte gerade wieder kehrtmachen, als eine Stimme schrie: »Stehen bleiben oder ich schieße!«

Hank erspähte den Waffenlauf, der zwischen den Stuhlbeinen hervorlugte und griff zu seinem Schulterhalfter, um gleichfalls seine Waffe zu ziehen. Doch dann entdeckte er Carolyn, die mit angstvoll aufgerissenen Augen seine Hosenbeine fixierte. »Herrgott, Carolyn, was soll das?«, schrie er. »Ich bin es, Hank! Was, zum Teufel, tun Sie da?«

Carolyn schob den Stuhl zur Seite und kroch hervor. Hank hielt ihr die Hand hin, um ihr hochzuhelfen. »Verbringen Sie neuerdings Ihre Freitagabende damit, sich hinter Ihrem Schreibtisch zu verstecken und anderen Leuten aufzulauern?«

Sie stand auf und strich ihr cremefarbenes Kleid glatt. Dann bückte sie sich, hob ihre Handtasche vom Boden auf und verstaute ihre Waffe darin. »Wieso sind Sie hier? Ich hätte Sie erschießen können.«

»Hm«, erwiderte Hank lachend, »ich denke, das wäre wohl eher andersherum gewesen. Wer ist der bessere Schütze, na? Wann haben Sie denn das letzte Mal mit diesem Teil geschossen?« Kaum hatte er die Worte gesagt, bereute er sie auch schon. Vor etwas über einem Jahr war Carolyn mit ihm im Wagen gesessen, als er unwissentlich in einen Hinterhalt geraten war. Während Hank sich mit den Kriminellen einen Schusswechsel geliefert hatte, hatte einer der Kerle Carolyn ins Visier genommen. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als sich zu verteidigen. Der aus nächster Nähe abgefeuerte Schuss hatte den Mann sofort getötet. So ein Erlebnis gehört zu jenen tief greifenden Erfahrungen, die man sein Leben lang mit sich herumschleppt.

Eine Weile schwiegen sie beide. Carolyn starrte auf ihren Schreibtisch, bis Hank schließlich fragte: »Erzählen Sie mir, was los ist, oder muss ich es aus Ihnen herauskitzeln?«

»Holden«, sagte sie, während sie wahllos Unterlagen in ihren Aktenkoffer stopfte. »Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, aber Carl Holdens Urteil wurde wegen dieses Skandals um Abernathy aufgehoben. Er wurde jetzt wegen eines unbedeutenden Delikts festgenommen, und Brad bestand darauf, dass ich den Bericht schreibe.«

»Ich erinnere mich an Holden«, sagte Hank. Irritiert musterte er Carolyn. Sie wirkte irgendwie verändert, doch er konnte nicht sagen, was es war. Erst nach einigen Sekunden dämmerte ihm, dass sie ihr Haar nicht hochgesteckt, sondern abgeschnitten hatte. »Was ist mit Ihren Haaren passiert?«

»Was soll schon passiert sein?«, fauchte sie und berichtete ihm dann, wie Holden plötzlich aus dem Zimmer verschwunden war.

»Wenigstens brauchen Sie ihn nicht zu betreuen«, bemerkte Hank.

Ein gequälter Ausdruck trat in ihre Augen. »Er gehört ins Gefängnis, Hank.«

Dem Detective war nicht fremd, was sie gerade erlebte. »Wie zigtausend andere auch, Carolyn. Man darf den Job nicht so nah an sich heranlassen, sonst dreht man irgendwann durch.« Lächelnd rieb er sich die Hände und lenkte auf ein angenehmeres Thema über. »Und, jemand neuen kennen gelernt?«

»Nein«, seufzte sie. »Ich hatte seit neun Monaten keine Verabredung mehr. Aber das ist schon okay. Dadurch hatte ich mehr Zeit für die Kinder.«

»Wissen Sie was?«, sagte Hank. »Wir beide gehen jetzt irgendwohin essen.«

»Oh, Hank.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Sie sind ein echter Freund. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie tun würde. Ich muss nur rasch den Kindern Bescheid geben.« Sie wählte ihre Privatnummer und hinterließ eine Nachricht. »Rebecca wollte nach der Schule zu ihrer Freundin gehen, aber sie sollte um diese Uhrzeit eigentlich schon wieder zu Hause sein. John ist vermutlich in seinem Zimmer und hat die Tür geschlossen, sodass er das Klingeln nicht hört.« Sie versuchte, ihre Tochter über das Handy zu erreichen, und legte auf, als nach mehrmaligem Klingeln die automatische Ansage ertönte. »Wieso kaufe ich den beiden überhaupt ein Handy?«, rief sie. »Sie gehen sowieso nicht ran. Ich werde es später noch einmal versuchen. Wenn sie sich nichts zu essen organisiert haben, werde ich ihnen von unterwegs etwas mitbringen.«

Carolyn nahm ihren Aktenkoffer und ging mit Hank zum Aufzug. »Und wie sieht es mit Ihrem Liebesleben aus? Haben Sie mit Ihren neuen Idealmaßen eine neue Frau gefunden?«

»Nein, nicht wirklich.« Auf der Fahrt nach unten lehnte sich Carolyn an die Rückwand des Lifts, und Hank stellte sich neben sie. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Ein köstlicher Duft stieg ihm in die Nase. War das Parfüm oder ihr Eigengeruch? Verstohlen musterte er ihren anmutig geschwungenen Hals, die Art, wie ihr Kleid sich um ihren wohlgeformten Körper schmiegte, ihre schlanken Fesseln. »Es wundert mich, dass Sie noch Single sind«, sagte er, in dem Versuch, sie auszuquetschen. »Die Typen müssen bei Ihnen doch Schlange stehen.«

»Sie wissen, dass das Unsinn ist, Hank«, entgegnete sie. »Männer, die altersmäßig zu mir passen, sind hinter Fünfundzwanzigjährigen her. Außerdem habe ich zwei Kinder, einen brutalen Job und einen Berg Schulden. Wer sollte sich so etwas aufbürden?«

Als Carolyn aus dem Lift stieg, streifte sie Hank im Vorbeigehen. Er hätte gern etwas gesagt, hielt den jetzigen Zeitpunkt aber nicht für angebracht. Sie wirkte müde und angespannt. Vielleicht lag es daran, dass er sie an den Mann erinnert hatte, den sie erschossen hatte. Vielleicht lag es aber auch an der Begegnung mit Holden. Sie verließen das Gebäude durch den Haupteingang.

»Treffen Sie sich noch mit dieser Kellnerin? Wie war noch mal ihr Name?«

»Betty«, sagte Hank. »Ich habe hinter dem Gefängnis geparkt.«

»Können wir nicht meinen Wagen nehmen?«, wandte Carolyn ein. »Sie wissen doch, wie nervös es mich nach diesem grauenvollen Zwischenfall macht, wenn ich mit Ihnen im Auto fahre.«

»Sie müssen das, was letztes Jahr geschehen ist, hinter sich lassen, Carolyn«, sagte Hank. »Das war ein unglücklicher Zufall. So etwas wird nie wieder passieren. Ich gerate ja nicht regelmäßig in irgendwelche Schießereien. Manche Polizisten müssen ihre Waffe sogar niemals benutzen. Herrgott noch mal, wir sind hier in Ventura, nicht in Mittelamerika.«

»Okay, okay«, seufzte sie.

Sobald sie vom Parkplatz gefahren waren, fragte er sie, in welches Restaurant sie gehen wolle. »Marie Callender’s, Islands, Mario’s – was darf’s sein?«

»Ins El Torito«, sagte Carolyn. »Rebecca würde nie ein mexikanisches Gericht essen, weil das Essen zu fett ist.«

»Na gut, dann ins El Torito«, stimmte Hank zu, während er sich gleichzeitig vornahm, sich fortan von fettigen Tacos fernzuhalten. Er konnte zwar gelegentlich sündigen, wollte es aber nicht zur Gewohnheit werden lassen. Über Funk kam die Meldung, ein Detective aus Oxnard versuche, ihn zu erreichen. Hank tippte die Nummer in sein Handy ein, und sogleich ertönte aus der Freisprechanlage die hohe Stimme von Sergeant Arty McIntyre.

»Wir haben gerade die Leiche von Robert Abernathy gefunden«, verkündete McIntyre. »Offenbar wurde er in den Kopf geschossen. Er wurde von seiner Tochter gefunden. Sie kam vorbei, weil sie ihn telefonisch nicht erreichen konnte. Das ist unser Mordfall, keine Frage, aber ich dachte, Sie würden es gern erfahren.«

»Sind Sie sicher, dass es kein Selbstmord war?«, fragte Hank, Carolyn einen kurzen Blick zuwerfend. »Sie wissen doch, wer Abernathy ist, oder?«

»Klar«, erwiderte McIntyre. »Aber Selbstmord scheidet definitiv aus. Die Nachbarn sagen, sie hätten weder etwas gesehen noch gehört. Abernathys Haus liegt etwas abseits der Straße, mit einem hohen Zaun und einer Menge Gebüsch. Der Leichenbeschauer ist bereits vor Ort. Er meint, dass Abernathy schon seit gestern tot ist. Der Mörder muss ihn erwischt haben, als er gerade die Haustür aufsperren wollte.«

»Ich schaue in etwa einer Stunde vorbei«, sagte Hank, da er seinen Restaurantbesuch mit Carolyn nicht absagen wollte. Er notierte die Adresse des Tatorts auf einem am Armaturenbrett befestigten Block und sagte dann zu Carolyn: »Ich finde, Abernathy hat bekommen, was er verdient hat, was? Irgendeine Ahnung, wer ihn getötet haben könnte?«

Carolyn schüttelte den Kopf, während sie sich bemühte, das Gehörte zu verdauen. Vielleicht hatte Abernathy in Wahrheit an einer Geisteskrankheit gelitten. Die Tatsache, dass er eine Tochter hatte, ließ ihn für Carolyn irgendwie menschlicher erscheinen. Sie war ihm in der Vergangenheit nur ein paar Mal begegnet, und er hatte auf sie den Eindruck eines zufriedenen Mannes gemacht, der seine Arbeit liebte und ganz darin aufging. Nach Bekanntwerden der skandalösen Vorgänge hatte sie eine so übermächtige Feindseligkeit gegen ihn entwickelt, dass es ihr nun so vorkam, als habe sie den Abzug betätigt. »Fahren Sie mich einfach zu meinem Wagen zurück, Hank«, sagte sie. »Wir können ein andermal essen gehen.«

»Hey«, rief Hank, »ich hoffe, Sie benutzen das jetzt nicht als Ausrede, um nicht mit mir Auto fahren zu müssen. Ich habe McIntyre gesagt, ich käme erst später vorbei. Abgesehen davon gibt es für mich keinen offiziellen Grund, auf ein Verbrechen zu reagieren, das sich außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs ereignet hat. Wir können nach wie vor ins El Torito gehen. Sie sind doch diejenige gewesen, die wegen Abernathy so aufgebracht war. Sie sollten glücklich sein, dass irgendjemand den Scheißkerl weggepustet hat. Die Staatsanwaltschaft hätte ihn mit ein paar Monaten Aufenthalt in der Klapsmühle davonkommen lassen.«

»Vielleicht habe ich mich geirrt und die Staatsanwaltschaft hatte recht«, sagte Carolyn. Sie drehte sich Hank zu und strich ihm kurz über den Arm. »Verschieben wir unsere Verabredung auf einen günstigeren Zeitpunkt, Hank. Das Treffen mit Holden hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Ganz gleich, wer für seine Freilassung verantwortlich ist, er wird wieder töten. Wenn er das nicht bereits getan hat. Holden ist es egal, ob er geschnappt wird und wieder ins Gefängnis kommt. Er lebt dafür, verstehen Sie? Töten ist sein Hobby.«

Hank setzte Carolyn an ihrem Wagen ab, wartete, bis sie eingestiegen war, startete den Motor seines zivilen Polizeiwagens, eines Crown Victoria, und fuhr in Richtung Oxnard weiter. Er kurbelte die Fenster herunter und atmete die Nachtluft ein, die nun voller Spannung war.

Die Enttäuschung über den geplatzten Restaurantbesuch hatte sich bereits verflüchtigt. Sein Adrenalinspiegel stieg, je näher er dem Tatort kam. Er liebte diese ersten Stunden an einem Tatort – die betriebsame Hektik der Ermittler und der Spurensicherung; die Ambulanzwagen, die mit ihren blitzenden Lichtern die Stille einer Wohnstraße zerrissen; die Schaulustigen und die Reporter, die gegen das gelbe Absperrseil drängten, in der Hoffnung, einen Informationsbrocken aufzuschnappen oder einen Blick auf die Leiche zu erhaschen.

Der Tod hatte die eigenartige Gabe, einem das Gefühl von Lebendigkeit zu verleihen. Und am besten eignete sich dafür ein Tatort, für den man nicht selbst zuständig war. Er brauchte keine Berichte zu schreiben oder Befehle zu brüllen oder sich darüber aufzuregen, dass seine Leute den feinen Details, die einen Fall lösen oder vermasseln konnten, nicht genügend Aufmerksamkeit schenkten. Er konnte herumlaufen, Fragen stellen, plaudern und dann, wenn die Aktivitäten allmählich abflauten, in den Wagen steigen und irgendwohin zum Essen fahren. Das Essen würde besser schmecken, die Luft frischer riechen. Danach würde er nach Hause fahren und heiß duschen, während er die Ereignisse der Nacht noch einmal Revue passieren ließ. Später würde er in seinem warmen Bett einschlafen und dankbar sein, dass nicht er es war, der in einen Leichensack gesteckt und in ein Kühlfach des Leichenschauhauses geschoben wurde.

Hank hielt hinter einer Reihe Polizeiautos an, befestigte sein goldenes Abzeichen am Gürtel und stieg aus dem Wagen, um sich in das Getümmel zu stürzen.

Dunkler Garten

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