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Kapitel 10

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Montag, 18. September 2006, 11.15 Uhr

Der Tod sollte eigentlich die Macht haben, das Sonnenlicht zu verfinstern, dachte Carolyn, doch dies war Kalifornien. Während sich die Leute gegenseitig umbrachten, wiegten sich die Palmen in der Brise, brandeten die Wellen an den Strand und verbreiteten bunte Blumen in perfekt angelegten Parkanlagen ihren Duft.

Carolyn fuhr in Johns Honda Civic auf dem Victoria Boulevard in westliche Richtung, wo sich die Verwaltungszentrale befand, und weiter auf die Zufahrt zum Freeway 101. Die Stadt baute gerade eine neue Brücke über den Santa Rosa River, wodurch der Verkehr in den Stoßzeiten nahezu zum Erliegen kam. Die Brücke sollte mit altmodischen Straßenlaternen bestückt werden, um dem ehemals unansehnlichen Gebiet etwas Charme zu verleihen. Die Verbrechensrate war so hoch, dass nachts und an den Wochenenden Baugeräte und Konstruktionsteile in der Luft aufgehängt wurden, damit sie nicht gestohlen werden konnten.

Bei Vista Del Mar, unweit vom Pierpont Inn, verließ Carolyn den Freeway und bog an dem Schild mit der Aufschrift »Alessandro Lagoon« scharf nach rechts ab. Schon von Weitem sah sie das Aufgebot aus Polizeiautos, Einheiten der Spurensicherung und dazwischen die zivilen Dienstwagen der Detectives und den Van des Leichenbeschauers. Am Sonntagabend waren in der Lagune, die parallel zum Freeway 101 verlief, die Leichenteile eines Menschen entdeckt worden. Im Rückspiegel sah Carolyn den Ventura Pier und das Holiday Inn, beides lokale Wahrzeichen, und jenseits davon das schimmernde Blau des Pazifiks.

Sie schaltete den Motor aus, öffnete die Tür, wechselte ihre Schuhe gegen ein paar alte Tennisschuhe aus und wünschte, sie hätte stattdessen Gummistiefel mitgenommen. Von der schmalen Zufahrtsstraße aus war kaum etwas zu erkennen. Abhängig von der Niederschlagsmenge war der Wasserstand in der Lagune mal seichter, mal tiefer, mit trockenen Abschnitten dazwischen. Das Schilf wuchs bis zu zwei Meter hoch, und es gab jede Menge Gestrüpp. Das Gebiet war durch einen ein Meter achtzig hohen Maschendrahtzaun geschützt, der jedoch an mehreren Stellen umgefallen oder von Eindringlingen gewaltsam aufgebrochen worden war.

Hinter den Streifenpolizisten, die den Tatort bewachten, erspähte sie Detective Mary Stevens, doch von Hank Sawyer war keine Spur zu sehen. Mary war allerdings auch kaum zu übersehen. Sie war eine bildschöne Schwarze Anfang dreißig, die man eher auf dem Titelblatt einer Modezeitschrift vermutet hätte als am Fundort einer Leiche. Ihr Markenzeichen war eine rote Bluse, die sie als ihre Mordbluse bezeichnete. Auch heute schimmerte die Bluse durch den weißen Overall hindurch.

Einer der Uniformierten stellte sich Carolyn in den Weg. »Lieutenant Sawyer hat mich herbestellt«, sagte Carolyn. Sie zückte ihren Ausweis und befestigte ihn dann am Gürtel. »Wissen Sie, wo er sich gerade befindet?«

»Der Fundort ist dort drüben bei den Bäumen, wo die vielen Leute sind«, sagte Officer Wyman. Suchend sah er sich um. »Noch vor wenigen Minuten stand Sawyer direkt neben der Stevens. Keine Ahnung, wo er jetzt ist.«

Carolyn wollte weitergehen, doch Wyman hielt sie erneut zurück. »So können Sie da nicht hin, Sullivan«, sagte er und nickte zu ihren Tennisschuhen hinunter. »Gehen Sie zum Wagen der Spurensicherung. Dort findet man immer ein paar zusätzliche Overalls, Kappen und Handschuhe. Die Papierstiefel sind bei dem Wasser hier zwar nicht geeignet, aber was Besseres haben wir im Moment nicht.«

»Danke«, sagte Carolyn, ging zu dem Wagen und kramte den kleinsten Overall, den sie finden konnte, hervor. Rasch schlüpfte sie hinein, schob ihr kurzes Haar unter die Kappe und steckte, zum Schutz gegen das Wasser, die Hosenbeine in ihre von Papier umhüllten Tennisschuhe. Schließlich machte sie sich auf den Weg zum Leichenfundort.

Sie drängte sich durch die Gruppe von Polizisten, bis sie Hank entdeckte, der in ein etwa ein Meter tiefes Loch starrte. Die matschigen Innenwände waren mit Metallstreben gesichert, um sie am Einstürzen zu hindern, und man hatte Schilf und Buschwerk beseitigt, damit die Ermittler Platz zum Arbeiten hatten. Im angrenzenden hohen Schilf sah man die Köpfe weiterer Polizeibeamter.

Mehrere Tische waren am Straßenrand aufgestellt worden, und die Leute der Spurensicherung kauerten mit großen, runden Sieben am Boden, um im Schlamm nach Beweismaterial zu suchen.

Charley Young, einer der besten Pathologen des County, diktierte in sein Handy, und der Text wurde durch seinen kabellosen Anschluss direkt in den Computer seines Büros übertragen. Charley war sicher auch deshalb so leistungsstark, dachte Carolyn, weil er sich der modernen Technologie bediente. In dieser Hinsicht war Hank ein Dinosaurier.

Ein Mann, den Carolyn noch nie gesehen hatte, filmte für Dr. Martha Ferguson, die, wie Carolyn vermutete, sein Boss war, die Vorgänge auf Video. Sie hatte Ferguson noch nie getroffen, kannte sie aber aus Zeitung und Fernsehen. Da die Leiche skelettiert war, hatte man die bekannte forensische Anthropologin hinzugezogen. Ferguson war eine kleine Rothaarige zwischen vierzig und fünfzig Jahren mit wettergegerbter, sommersprossiger Haut. Sie trug kniehohe Gummistiefel, und ihre Augen waren von einer Schutzbrille bedeckt.

Charley war ein schmächtiger, knapp einen Meter fünfundsechzig großer Mann koreanischer Abstammung. In all den Jahren, die Carolyn ihn kannte, hatte sie nie erlebt, dass er auch nur einmal die Beherrschung verloren hätte. Angesichts des Drucks, den die Polizei ihm ständig wegen irgendwelcher Obduktionsberichte machte, war das sicher nicht einfach. Niemand konnte einen so unter Druck setzen wie ein Cop.

In der Zeitung hatte sie gelesen, dass Robert Abernathy morgen bestattet werden würde. Einerseits fühlte sie sich verpflichtet, an der Trauerfeier teilzunehmen, andererseits hatte sie den Mann kaum gekannt. Sie fragte sich, ob man je herausfinden würde, wer ihn umgebracht hatte. Als Hank sie heute Morgen angerufen hatte, hatte er berichtet, dass die Kollegen in Oxnard so gut wie nichts Verwertbares hätten, außer der Kugel in Abernathys Kopf und einem unvollständigen Fingerabdruck an seinem Gartentor.

»Na, soll ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?«, fragte Mary Stevens und wischte sich mit einem weißen Baumwollschal den Schweiß vom Gesicht. Der Schal hatte mehrere Funktionen. War der Leichengeruch an einem Tatort unerträglich, deckte Mary mit dem Schal Nase und Mund ab. Und wenn sie eine Leiche aus der Nähe betrachtete, wickelte sie sich den Schal um den Kopf, um sicherzustellen, dass ihre Haare den Tatort nicht verfälschten. Heute trug sie jedoch eine Kappe, vermutlich auf Drängen von Dr. Ferguson. Seit Samstag wehte der heiße Santa-Ana-Wind, und die Temperatur war auf über dreißig Grad Celsius gestiegen. Da auch die Sonne heiß herunterbrannte, konnte man meinen, es sei Sommer und nicht Herbst. Aber in Südkalifornien gab es ohnehin keine richtigen Jahreszeiten. »Entschuldigen Sie, aber ich schwitze wie ein Schwein«, fuhr Mary fort. »Laut Hank hat Carl Holden in dieser Lagune sein erstes Opfer verbuddelt. Ein Typ, der im Pierpont abgestiegen ist, war am Samstag mit seinem Hund spazieren, der Hund riss sich von der Leine los und sprang durch ein Loch im Zaun. Der Mann rannte dem Hund natürlich nach, weil er Angst hatte, er würde auf den Freeway laufen. Als er über die Grabstätte rannte, sackte der Boden ein, und er verstauchte sich den Knöchel.« Sie kicherte. »Der Mann, nicht der Hund. Ich habe Schlafentzug, okay? Wenn ich also dummes Zeug rede, nehmen Sie es mir bitte nicht übel.«

»Ich weiß, dass Holden Tracy Anderson irgendwo hier verscharrt hat«, sagte Carolyn, während sie sich umblickte. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es genau an dieser Stelle war. Hank müsste das besser wissen. Ich habe nur die Tatortfotos gesehen.« Erstaunlicherweise hatte sich hier nicht allzu viel verändert. Nur die Bäume entlang des Freeway waren gewachsen und das Gestrüpp war dichter. Außerdem stand hier jetzt ein Schild mit der Aufschrift »Alessandro Lagoon«, als wäre dieses Areal mehr als nur ein Sumpfgebiet. Die Naturschützer hatten es vermutlich zu einem Refugium für bestimmte Tierarten erklärt. Carolyn kam der Ort eher wie eine Brutstätte für krankheitserregende Parasiten vor.

Derart nah an einer viel befahrenen Schnellstraße gelegen, war das Gebiet nicht gerade der ideale Ort, um heimlich eine Leiche zu begraben. Wäre das Opfer aus einem Auto geworfen worden, würde das eher einen Sinn ergeben. Andererseits hatte Holden genau diese Gegend ausgewählt, um Tracy Anderson zu verscharren. Da es keine Straßenlaternen gab, war es nachts sicher stockdunkel.

Carolyn rückte ihre Sonnenbrille zurecht. Sie nahm an, dass das Team der Spurensicherung die sterblichen Überreste bereits fotografiert hatte, aber Dr. Ferguson stand im Grab und machte selbst auch noch Aufnahmen, für den Fall, dass die Polizeifotos falsch belichtet oder aus anderen Gründen unbrauchbar waren. Bei Fällen wie diesem war die Feststellung der Todesursache immer schwierig, und deshalb war es zwingend erforderlich, die exakte Position der skelettierten Leiche zu kennen. »Was meinen Sie, wie lange sie schon tot ist?«, fragte sie Mary und scheuchte eine Mücke weg.

Als Hank ihre Stimme hörte, drehte er sich um. Sein weißer Overall war schweißgetränkt und voller Schlammspritzer. »Schön, dass Sie kommen konnten«, sagte er, die in Plastikhandschuhe gehüllten Hände zum Gruß hebend. »Charley und Ferguson glauben, dass die Leiche schon einige Zeit hier liegt, aber sicher lässt sich das nicht sagen. Ferguson wird die Knochen bald einsammeln, also werden wir wohl noch vor Einbruch der Dunkelheit von hier abhauen können.«

»Ferguson zu holen, war eine gute Idee«, bemerkte Carolyn.

»Ich finde die Frau ziemlich nervig«, sagte Hank. »Bis vor wenigen Stunden hat sie nicht einmal mich in die Nähe der Leiche gelassen. Sie hat eigenhändig Proben von der Vegetation auf der Grabstelle genommen.« Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Wissen Sie, wie lange ich schon durch diese Scheiße wate? Seit gestern zwei Uhr. Ferguson hat Zahnstocher und Bambusstöckchen benutzt. Sie hat darauf bestanden, dass wir den Boden immer zehnzentimeterweise abtragen, statt wie sonst zwanzig, und ihn dann durch sechs oder sieben verschiedene Siebe schütteln. Ist mir unbegreiflich, warum Charley darauf gedrängt hat, dieses fanatische Weib hinzuzuziehen. Wir exhumieren hier schließlich keinen Pharao.«

Mary Stevens funkelte ihn wütend an. »Ich finde es unerhört, dass Sie Dr. Ferguson als fanatisches Weib bezeichnen. Sie wollen einfach nicht akzeptieren, dass man heutzutage andere Methoden anwendet. Bessere. Was erwarten Sie? Dass wir die Leiche mit einem Schaufelbagger ausgraben?«

Der Detective schäumte. »Ich bin müde und hungrig, und ich habe es satt, mich von Frauen schikanieren zu lassen. Noch so eine klugscheißerische Bemerkung, und es wird in Ihren nächsten Leistungsbericht einfließen.«

Mary zog eine Grimasse, suchte aber vorsichtshalber das Weite. Carolyn fragte: »Was soll ich hier überhaupt, Hank?«

Hank ignorierte die Frage. »Vielleicht war die Leiche vorher an einem anderen Ort verscharrt und wurde erst wieder ausgegraben, als sie verwest war. Die Zähne sind weg. Sieht aus, als habe der Täter dadurch eine schnelle Identifizierung verhindern wollen. Er wartete einfach, bis das Zahnfleisch verrottet genug war, um die Zähne dann, wie die Körner von einem Maiskolben, mühelos abzupicken. Fauler Hund, was?«

»Ihr schlauer Mörder würde doch nicht das Risiko eingehen, die Leiche wieder auszubuddeln und woanders zu vergraben«, wandte Carolyn ein. »Schließlich könnte er ja von jemandem gesehen werden. Abgesehen davon muss Holden nicht zwangsläufig der Täter sein. Vielleicht ist derselbe Fundort nichts weiter als ein Zufall.«

»Meine Fresse, Zufall!«, knurrte er. »Wir haben die Koordinaten überprüft, und der Leichenfundort ist etwa viereinhalb Meter von der Stelle entfernt, wo Holden Tracy Anderson verscharrt hatte.« Er streifte den Plastikhandschuh von der rechten Hand, zog einen Zahnstocher aus der Hosentasche und schob ihn zwischen die Zähne. »Bonbon gefällig?«, fragte er und hielt ihr eine kleine Plastikdose hin. »Ich tauche sie in Zimt ein. Als ich Kind war, wurden sie so verkauft. Jetzt muss man das selbst machen.«

Carolyn nahm einen Bonbon, in der Hoffnung, es würde gegen ihre Übelkeit helfen. Der Leichengestank verursachte bei den meisten Menschen Übelkeit. Der Gestank jedoch, den dieser Fall ausdünstete, hatte nichts mit verwesendem Fleisch zu tun. Sie hatte zwar ständig davor gewarnt, dass Holden wieder töten würde, doch die Realität war so grauenvoll, dass sie sich einzureden versuchte, es sei nicht wahr.

»Trotzdem glaube ich nicht, dass der Täter die Leiche an verschiedenen Orten vergraben hat«, sagte sie. »Er kann ihr doch die Zähne ausgeschlagen haben, als er sie umbrachte.«

»Es fehlen alle Zähne, nicht nur einer oder zwei. Und ihr Kiefer ist nicht angeknackst. Ihnen ist doch sicher schon einmal ein Zahn gezogen worden. Die verdammten Dinger gehen ziemlich schwer raus. Wenn er eine Zange oder ein anderes grobes Werkzeug verwendet hätte, hätte er eine Riesenschweinerei angerichtet. Nein, er hat gewartet, bis das Zahnfleisch vergammelt war und die Zähne dann herausgepickt.«

»Fallen die Zähne während des Verwesungsprozesses nicht von selbst aus?«

»Doch«, sagte Hank. »Aber hier sind keine Zähne. Wir dachten erst, sie seien vielleicht weggeschwemmt worden, aber wir haben jeden Millimeter abgesucht und nicht einen Zahn gefunden. Sie könnten im ersten Grab liegen, obwohl dieser Perversling die Leiche wahrscheinlich im Keller oder sonst wo aufbewahrt hat, bis sie so weit war.«

Carolyns Handy klingelte; sie entschuldigte sich und entfernte sich ein paar Schritte. Seit sie Marcus kennen gelernt hatte, ging er ihr nicht mehr aus dem Sinn. Als sie heute früh in der Werkstatt angerufen und sich nach ihrem Wagen erkundigt hatte, hatte Emilio ihr mitgeteilt, der Wagen sei fertig und die Rechnung sei von Mr. Wright bereits beglichen worden. Carolyn hatte die großzügige Geste zum Anlass genommen, ihn anzurufen, um sich zu bedanken, hatte ihn aber nicht erreicht. »Bin ich hier richtig bei Carolyn Sullivan?«, fragte eine entfernt klingende männliche Stimme. »Du hast eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen. Irgendwas mit deinem Wagen.«

»Hi, Marcus«, sagte sie, erfreut über den raschen Rückruf. »Ich werde mein Auto nach der Arbeit abholen. Ich habe den Honda meines Sohnes. Ich würde dir die Reparaturkosten gern zurückerstatten. Wenn du das nicht möchtest, will ich dich wenigstens zum Essen einladen. Ich wollte dich ja schon gestern im Olive Garden einladen, habe es dann aber in der Aufregung völlig vergessen. Du weißt schon, diese frustrierende Begegnung mit Troy Anderson. Und jetzt eskalieren die Ereignisse. Die Polizei von Ventura hat gestern in der Alessandro-Lagune die Leiche einer Frau exhumiert, und zwar an fast genau derselben Stelle, wo Holden Tracy Anderson vergraben hatte. Ich bin gerade dort.«

Am anderen Ende der Leitung blieb es still, nur im Hintergrund waren Telefongeklingel und Stimmengewirr zu vernehmen. Wahrscheinlich war er im Büro, dachte sie. Er hatte ihr so viele Fragen über ihren Job gestellt, dass sie es versäumt hatte, ihn nach seinem Beruf zu fragen. Da er weiterhin schwieg, nahm sie an, er habe sie wegen der schlechten Verbindung nicht verstanden. »Ich kann dich nicht hören«, rief sie. »Hast du etwas gesagt?«

»Du erzählst, dass man eine Frauenleiche gefunden hat«, antwortete er nun. »Was ist mit ihr passiert?«

»Sie wurde ermordet, Marcus.« Sie wunderte sich über seine verlangsamte Reaktion. »Die Polizei hält Carl Holden für den Mörder.« Er muss viel zu tun haben, dachte sie. Oder vielleicht gehörte er zu jenen Menschen, die eigentlich gesprächig waren, am Telefon jedoch maulfaul wurden. Sie warf einen Blick auf das Handydisplay, doch seine Nummer war unterdrückt. »Ich dachte, wir könnten heute Abend vielleicht essen gehen. Vorausgesetzt natürlich, du hast nichts anderes vor.« Er schwieg schon wieder. Das lief nicht gut. Jetzt konnte sie nachvollziehen, wie sich Jungen fühlten, wenn sie ein Mädchen um eine Verabredung baten. »Du bist offenbar sehr beschäftigt. Wie auch immer, ich wollte nur anrufen und mich bedanken. Wenn du wieder in der Stadt bist, kannst du dich ja melden.«

»Warte«, sagte er. »Wo wollen wir uns heute Abend treffen?«

»Oh«, stieß Carolyn, glücklich über die unverhoffte Wendung, hervor. »Du kannst mich zu Hause abholen. Ist sechs Uhr zu früh?«

»Ja«, erwiderte Marcus. »Ich bin gerade in L.A.. Wo ist diese Lagune?«

»In Ventura«, sagte sie.

»Es kommt auf den Verkehr an«, sagte er, »aber ich denke, ich könnte es bis acht Uhr schaffen. Da ich mich vielleicht verspäten werde, schlage ich vor, wir treffen uns in der Bar des Holiday Inn, dem Hotel gleich neben der Mole. Habe ich dich auf deinem Handy angerufen?«

»Ja. Aber acht Uhr ist für ein Abendessen etwas zu spät, meinst du nicht?«, sagte Carolyn, da sie keine Lust hatte, in einer Bar herumzusitzen und auf einen Mann zu warten, der womöglich nicht kam. »Verschieben wir es lieber.«

»Dann um sieben«, sagte er. »Entschuldige, aber ich muss zu einer Besprechung. Ach, übrigens, was wirst du anziehen?«

»Überraschung!«, antwortete sie lachend. »Keine Ahnung, irgendetwas legeres.« Da sie hier knöcheltief im Schlamm stand, würde sie sich auf jeden Fall umziehen müssen. Wahrscheinlich wollte er herausfinden, ob er im Sakko oder im Anzug kommen sollte. »Ein Kleid«, sagte sie schließlich, »ein rotes Kleid.«

»Gut«, sagte er. »Also um sieben in der Bar des Holiday Inn.«

Als er aufgelegt hatte, fielen ihr wieder ihre Probleme mit Rebecca ein, und sie wünschte, sie wäre heute Abend nicht verabredet. Zu spät. Sie konnte ihn jetzt unmöglich anrufen und ihm absagen, nachdem sie ihn förmlich angefleht hatte, mit ihr auszugehen. Zum Glück arbeitete John montags nicht; er könnte Polizei spielen und darauf achten, dass ihre aufsässige Tochter keinen Joint rauchte.

Am Sonntag hatte sie Veronica angerufen und sie wegen Rebecca um Rat gefragt. Da Veronicas siebzehnjährige Tochter Jude ebenfalls sehr rebellisch war, hatte sich Veronica im Lauf der Zeit zu einer Expertin für innovative Erziehungsmethoden gemausert. Veronica wusste, wie eitel Rebecca war und heckte mit Carolyn einen Plan aus, der sich als ausgezeichnete Strafe entpuppte. Als Rebecca heute Morgen zur Schule ging, war sie in das altmodischste und unvorteilhafteste Outfit gekleidet gewesen, das Carolyn im hintersten Schrankwinkel hatte finden können: eine gestreifte Schlaghose und eine Bluse im Empirestil, die sie aussehen ließ, als sei sie schwanger. »Ich hasse dich«, hatte Rebecca geschrien. »Wenn du mich zwingst, das anzuziehen, werde ich die Schule hinschmeißen und abhauen, und du wirst mich nie wiedersehen.«

»Ich werde in ungefähr einer Stunde im Direktorat anrufen«, hatte Carolyn gelassen erwidert. »Wenn du nicht in deiner Klasse bist, habe ich für morgen noch ein anderes Outfit.«

Sich wieder auf die Gegenwart besinnend, drehte sie sich um und sah sich Hank gegenüber. »Das war meine Dienststelle. Die brauchten ein paar Infos über einen meiner Fälle«, log sie, während sie zusah, wie Dr. Ferguson jeden Knochen einzeln in einen Beutel gab, den Beutel etikettierte, zuklebte und an einen Kriminaltechniker weiterreichte, der ihn zu einem der Tische brachte und in der Kiste für Beweismaterial verstaute. »Glauben Sie, man kann die Todesart noch feststellen?«

»Keine Ahnung«, brummte Hank finster. »Charley meint, sie sei vielleicht erdrosselt worden. Der Mörder hat Abfall auf sie gekippt, um die Spurensicherung zu erschweren, vor allem in Hinblick auf DNA-Spuren.« Er warf einen Blick über die Lagune und fügte hinzu: »Als wäre das alles nicht schon schlimm genug. Wir haben hier keine guten Karten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Woher will Charley wissen, dass sie erdrosselt wurde?«

»Ah, genau die Frage, die ich jetzt brauche«, sagte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Diagnose durch Ausschlussverfahren. Es besteht eine winzige Chance auf einen gebrochenen Knochen im Nackenbereich oder in der Wirbelsäule. Werden wir erst wissen, wenn wir die Teile zusammengesetzt haben. Kein Anzeichen einer Schussverletzung. Sie könnte natürlich erstochen worden sein. Wenn diese Ferguson und Charley die Knochen unter einem Mikroskop untersuchen, finden sie vielleicht Spuren, die von einem Messer stammen. Allerdings müssen Messerstiche nicht bis zu den Knochen durchgehen.« Er schwieg einen Moment, ehe er hinzufügte: »Wissen Sie, wenn ich es mir recht überlege, hat Holden es genauso gemacht.«

»Er hat kein Messer benutzt, Hank.« Es würde ihm nicht schaden, dachte sie, wenn er etwas mehr Zeit mit dem Studium alter Mordakten verbringen würde. So gefährlich Holden auch sein mochte, man konnte ihn nicht als Sündenbock für jedes Verbrechen benutzen. Gleichwohl wollte sie Holden wieder hinter Schloss und Riegel bringen, und zwar für immer. »Tracy Anderson wurde erwürgt, nicht erstochen.«

»Das meinte ich nicht.« Er kratzte an einem frischen Mückenstich auf seinem Handgelenk. »Aber Holden hat auch Abfall über die Leiche gekippt, ehe er sie verscharrte.«

»Stimmt. Ich erinnere mich.« Damals war dieses Gebiet noch keine unter Naturschutz stehende Lagune gewesen, sondern Niemandsland, auf dem Obdachlose in Pappverschlägen kampiert hatten.

Plötzlich fiel ihr Blick auf einen weißen Gegenstand, der auf einem der Tische lag. Mary half den Leuten der Spurensicherung gerade beim Einpacken. Als Carolyn und Hank sich näherten, nickte sie Carolyn zu, würdigte Hank jedoch keines Blickes. »Was ist das? Ein Golfhandschuh?«

»Woher, zur Hölle, soll ich das wissen«, polterte Hank und schob seinen Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. »Wir haben jeden nur erdenklichen Müll gefunden. Es wird Wochen dauern, bis wir uns durch den ganzen Scheiß durchgearbeitet haben. Uns fehlt das Personal. In Oxnard herrscht eine Art Bandenkrieg, der nach Ventura rüberschwappt. Letztes Wochenende wurden im Westteil zwei Jugendliche erschossen. Dann habe ich auch noch einen maskierten Räuber, der Supermärkte überfällt. Wir können von Glück sagen, dass Abernathy nicht in Ventura ermordet wurde. Meine Männer arbeiten bereits sechs Tage die Woche. Wahrscheinlich werden es jetzt sieben sein. Toller Job, was?«

Carolyn dachte an die Tatortfotos im Mordfall Tracy Anderson. Sie erinnerte sich deutlich an einen weißen Golfhandschuh, der auf Tracys Bauch gelegen hatte. Die Polizei hatte keine Fingerabdrücke nehmen können, weil der Handschuh völlig ungetragen war. Man hatte angenommen, jemand habe ihn weggeworfen. Carolyn war der Handschuh dennoch in Erinnerung geblieben, da er nagelneu war und sie nicht verstand, warum jemand ihn hätte wegwerfen sollen. »Der Golfhandschuh«, rief sie aufgeregt. »Erinnern Sie sich nicht, Hank?«

Hank rieb sich die Stirn. »Richtig, da war so ein Golfhandschuh. Hatten wir uns nicht überlegt, dass jemand ihn weggeworfen hat, weil er den ersten Handschuh verloren hatte und ihm der andere deshalb nichts mehr nützte?«

»Golfhandschuhe gibt es nicht paarweise«, sagte Carolyn mit erhobener Stimme. »Ein Golfer trägt nur einen Handschuh. Mein Gott, Hank, das weiß doch jeder!«

Der Detective schob das Kinn nach vorn. »Ich bin kein Idiot, nur weil ich nicht weiß, dass Golfer nur einen Handschuh tragen. Und wenn ich an einem Mordfall arbeite, nehme ich auch keine privaten Anrufe entgegen.«

Carolyn war gekränkt. »Das war unfair, Hank. Warum haben Sie mich gebeten, hierher zu kommen, wenn Sie meine Meinung nicht hören wollen?« Sie hielt kurz inne und platzte dann heraus: »Holden muss der Mörder sein. Der Handschuh ist seine Visitenkarte. Das ist gleichbedeutend mit einem Geständnis. Er prahlt, merken Sie? Wir sollen wissen, dass er diese Frau umgebracht hat. Und gleichzeitig hat er sämtliche Spuren entweder beseitigt oder unbrauchbar gemacht.«

Hank warf ihr einen grimmigen Blick zu, spuckte seinen Zahnstocher aus und wandte sich zum Gehen. Ihr lauter Wortwechsel war nicht unbemerkt geblieben, und etliche Leute sahen neugierig zu ihnen herüber.

»Das Opfer wird vielleicht nie identifiziert werden«, schrie ihm Carolyn nach, ohne sich um ihre Umgebung zu scheren. »Wenn Sie keinen Augenzeugen finden, der gesehen hat, wie Holden die Leiche verscharrte, wird kein Gericht ihn je verurteilen können. Wenn Sie Holden nicht einsperren, werden Sie bald noch mehr Wasser, Schlamm und Blut an Ihren Händen haben. Das hier ist seine private Müllkippe.«

»Glauben Sie, wir hätten uns nicht den Arsch aufgerissen, um Holden zu fassen?«, brüllte Hank zurück. »Wenn Sie schon so superschlau sind, dann spüren Sie ihn doch auf. Oder schicken Sie Ihren neuen Freund Marcus auf Verbrecherjagd.«

Carolyn stemmte die Hände in die Hüften. »Ich fass es nicht! Sie haben mein Gespräch belauscht!«

»Wenn Sie ungestört telefonieren wollen«, knurrte Hank, »dann fuhren Sie Ihre gottverdammten Privatgespräche von zu Hause aus. Meinen Sie, die Polizisten, die seit gestern hier schuften, haben Lust, mit anzuhören, wie Sie Ihre Dinner-Verabredungen treffen?«

»Sie können mich mal!«, fauchte Carolyn. Wütend fuchtelte sie mit den Händen in der Luft herum und stapfte davon.

Dunkler Garten

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