Читать книгу Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten - Nancy Taylor Rosenberg - Страница 25
Kapitel 19
ОглавлениеEhe sich die beiden Familien am Freitagabend zu Tisch setzten, redete John mit Professor Leighton über seinen Wunsch am MIT zu studieren. Währenddessen zeigte Lucy Carolyn das Haus und Rebecca humpelte auf ihren Krücken hinterher.
Lucy war ein hoch aufgeschossenes blondes Mädchen mit schulterlangem, glattem Haar und einer Zahnspange. Sie hatte tiefe Grübchen in beiden Wangen.
Weil Paul das Esszimmer in sein mit Büchern voll gestopftes Arbeitszimmer verwandelt hatte, war der an die Küche angrenzende Raum zum Esszimmer geworden, mit einem großen Tisch, Stühlen und einer antiken Vitrine mit Porzellan und Silbergeschirr möbliert. Von der Decke hing ein schöner alter Kronleuchter.
»Die meisten Antiquitäten haben meiner Mutter gehört«, erzählte Paul, als alle bei Tisch saßen. »Ich kann das moderne Zeug nicht leiden. Als eine Innenarchitektin mir riet, mich zwischen Altem und Neuem zu entscheiden, habe ich sie zum Teufel geschickt.«
Liebevoll strich er über die Mahagonioberfläche des Esstischs. »Von diesem Tisch habe ich schon als Kind gegessen. Es gibt Gegenstände, die man ein Leben lang behalten möchte.«
»So redet meine Mom auch immer über ihre Manschettenknöpfe«, sagte Rebecca, die neben Lucy saß. »Sie gehörten meinem Urgroßvater.«
Isobel Montgomery, die Haushälterin, war eine drahtige, attraktive Schwarze mit kurz geschnittenem Haar, Ende fünfzig. Sie trug Lasagne, Salat und mit Knoblauch bestrichenes selbst gebackenes Brot auf.
»Isst du denn nicht mit uns?«, fragte Lucy verwundert.
»Nein, Liebes«, antwortete Isobel und band ihre Schürze ab. »Ich esse heute mit einer Freundin. Vergiss nicht den Schokoladenkuchen, den wir heute Nachmittag gebacken haben.«
»Isobel ist schon seit achtzehn Jahren bei uns«, erklärte Paul, nachdem die Haushälterin gegangen war. »Auch ihretwegen hat sich Lucy dafür entschieden, bei mir anstatt bei ihrer Mutter zu bleiben.«
»Meine Mom kann nämlich nicht kochen«, sagte Lucy und reichte John die Salatschüssel. »Sie hat auch eine Haushälterin, aber die mag ich nicht. Sie kann kein Amerikanisch und sie ist nicht Isobel. Außerdem sind meine Mutter und mein Stiefvater nie zu Hause.«
John schaufelte inzwischen Lasagne in sich hinein. »Schmeckt toll«, sagte er.
»Ich wünschte, wir hätten auch jemanden, der für uns kocht und sich um uns kümmert«, sagte Rebecca und biss ein Stück Brot ab.
»Mom und ich kümmern uns um dich«, wies John seine Schwester zurecht, weil er wusste, dass sie ihre Mutter verletzt hatte. »Du redest wie eine Waise oder so was.«
»Das tue ich nicht!«, blaffte Rebecca. »Und das Essen, das du kochst, schmeckt wie Hundefraß.«
»Ach ja?«, gab er zurück. »Du bist fast dreizehn. Warum kochst du dann nicht selber?«
Paul stand auf und rieb sich die Hände. Dann nahm er eine Flasche aus dem Eiskübel und sagte beschwichtigend: »Wenn eure Mutter nichts dagegen hat, trinken wir jetzt ein Gläschen Wein. In Europa dürfen Kinder ein kleines Glas zum Essen trinken.«
»Das hast du mir früher nie erlaubt«, klagte Lucy.
»Heute ist ein besonderer Abend«, entgegnete ihr Vater. »Wir trinken auf unser neues Haus und wir wollen einen Toast auf unsere wundervollen neuen Freunde ausbringen. Was halten Sie davon, Carolyn?«
»Das ist in Ordnung«, antwortete sie und bewunderte Pauls geschickte Taktik. »Aber nur ein halbes Glas.«
Nach dem Essen gingen Lucy und Rebecca in die Küche, um das Dessert vorzubereiten. Paul wollte die Teller wegtragen, doch John nahm ihm diese Arbeit ab.
»Du solltest deinen Fuß hochlegen«, riet Carolyn ihrer Tochter.
»Ach, ich habe doch den ganzen Tag geschlafen«, protestierte Rebecca, auf ihre Krücken gestützt. »Mein Knöchel schmerzt nicht mehr. Und die Schwellung ist auch zurückgegangen.«
»Darf Rebecca heute Nacht hier schlafen?«, fragte Lucy und stellte den Schokoladenkuchen vor ihren Vater hin. »Wir möchten uns gern Die Rückkehr der Mumie anschauen. Dann könnten wir mit Isobel morgen Früh in die Kirche gehen und hinterher auf den Friedhof zu Otis’ Grab. Zum Lunch könntest du uns zu Dave and Busters ausführen.«
»Da musst du schon Mrs. Sullivan fragen«, sagte Paul und seufzte.
»Nicht heute«, antwortete Carolyn. »Vielleicht nächstes Wochenende. Dann kannst du bei uns übernachten. Dein Vater braucht Ruhe, damit er weiter an seinem Buch schreiben kann. Wir haben uns schon genug aufgedrängt.«
Die Mädchen verschwanden im Wohnzimmer und John fragte seine Mutter, ob er nach Hause gehen dürfe. »Paul hat mir erklärt, wie ich die Mathe-Aufgabe lösen kann. Die ganze Klasse meint, dass Mr. Chang gerade diese Aufgabe in unserem nächsten Examen stellt.«
»Mir wäre lieber, du bleibst noch«, sagte Carolyn. »Wir gehen sowieso bald.«
Alle hörten, wie die beiden Mädchen im Wohnzimmer kicherten.
»Sie kommen wirklich gut miteinander aus«, meinte Paul. »Darf ich Ihnen noch ein Glas Wein einschenken? Oder möchten Sie lieber Kaffee? John, wir haben auch Saft oder Sodawasser.«
»Nein, danke«, antwortete John schmollend.
»Lieber Kaffee«, sagte Carolyn, denn sie wusste, dass sie wieder eine schlaflose Nacht vor sich hatte. Tagsüber konnte John dann aufpassen.
»Solltest du irgendwas vergessen haben«, sagte der Professor zu John, »kannst du morgen Früh noch mal vorbeikommen.«
»Wirklich?«, fragte John, sichtlich erfreut. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich beim Dinner mit meiner Schwester gestritten habe. Ich hatte schon Angst, dass Sie mich vielleicht nie wieder sehen wollten.«
»Kommt mit«, sagte Paul und ging voraus ins Wohnzimmer.
Die Mädchen saßen auf dem Boden vor dem Kamin und Lucy zeigte ihrer Freundin Fotos von ihrem Ferienlager im vergangenen Sommer. John setzte sich aufs Sofa neben seine Mutter.
Der Professor hatte inzwischen aus dem Wandschrank im Flur mehrere Papierrollen geholt.
»Schon seit meiner Jugend haben mich Achterbahnen fasziniert«, sagte er, als er wieder ins Wohnzimmer kam. »Einer meiner Freunde arbeitet für Arrow Dynamics. Und die Firma hat ›X‹ für Six Flags entwickelt. Ich habe um fünfzig Dollar mit ihm gewettet, dass ich eine bessere Anlage zeichnen kann.«
»Und wer hat gewonnen?«, fragte Carolyn.
»Sie haben die Achterbahn gebaut. Aber wer gewonnen hat, weiß ich noch nicht, weil sie erst in drei Wochen eingeweiht wird. Da müssen wir noch die Kritiken abwarten«, sagte Paul mit vor Begeisterung gerötetem Gesicht. »Wollt ihr meine Pläne mal sehen?«
»Ich liebe Achterbahnen«, sagte John und ging zu dem Professor, der seine Zeichnungen auf dem Tisch ausbreitete. »Das ist die coolste Achterbahn, die ich je gesehen habe. Eine Vierdimensionale.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte Rebecca.
»Man sitzt nicht nur in einem Wagen, der auf Schienen läuft«, erklärte Paul, »sondern in Wagen, die sich auf getrennten Achsen um dreihundertsechzig Grad drehen können.«
»Wow! Sieh dir das mal an!«, sagte John und deutete auf eine Zeichnung. »Dieses riesige Flügelauto. Mit dem Kopf nach unten saust man in die Tiefe. Und da ist ein Vertical Sky Dive. Und noch ein Twisting-Front-Flip, drei Back-Flips und vier Raven-Turns.«
»Ich bin beeindruckt, mein Junge«, sagte Paul. »Du scheinst dich auszukennen.«
»Und ob«, entgegnete John geschmeichelt. »Damals habe ich mich zum ersten Mal gefragt, was es mit der Schwerkraft auf sich hat. Wie alt war ich da, Mom?«
»Ich glaube, du warst acht«, sagte Carolyn und sah den Professor an. »John war damals zu klein, um damit zu fahren, und ich wollte kein Geld für den Vergnügungspark ausgeben. Deshalb saßen wir stundenlang außerhalb des Zauns und schauten zu.«
»Wie wollen Sie Ihre Achterbahn nennen?«, fragte John.
»Die guten Namen sind leider schon alle vergeben. Du kennst sie ja: Colossus, Medusa, Talon, Twister, Vortex. Außerdem betrachte ich das Ganze nur als Hobby. Sie wollen die Bahn ›Super X‹ nennen. Mir hätte ›Ultimate X‹ besser gefallen. Aber ich glaube, sie wollen den Schweizern Bolliger und Mabillard Konkurrenz machen. Die Jungs sollen ja die Besten auf diesem Gebiet sein.«
»Soll das heißen, dass Sie nicht einmal dafür bezahlt werden? Es muss doch Jahre gedauert haben, bis Sie das alles ausgetüftelt haben.«
John sah seine Schwester an und sagte: »Siehst du, dazu braucht man Physik. Ich habe dir ja schon erklärt, dass das Fach nicht langweilig ist.«
»O doch. Die Firma hat mich bezahlt«, sagte der Professor. »Das heißt aber nicht, dass man auch den Namen bestimmen darf.«
»Es gibt ein Computerspiel«, fuhr John fort. »Das heißt World’s Greatest Roller Coasters in 3D. Und noch ein anderes, Roller Coaster Tycoon. Aber das Erste ist besser. Da muss man die Achterbahn bauen, den ganzen Vergnügungspark und sich sogar um die Konzessionen kümmern.«
»Das zweite Spiel kenne ich«, sagte Paul. »Es ist sehr interessant. Als ich jung war, gab es so etwas noch nicht.«
Die Mädchen und Carolyn starrten über Johns und Pauls Schultern.
»Ich fahre nie wieder mit diesem blöden Ding«, sagte Lucy und boxte ihren Vater in die Seite. »Dad behauptet, ich sei ein Angsthase, weil ich einmal in einer Achterbahn so viel Angst hatte, dass ich fast gestorben wäre. Ihr Jungs behauptet immer, ich würde übertreiben. Aber das tue ich nicht. Sie haben mich mit dem Notarzt ins Krankenhaus gebracht.«
»Du wärst nicht gestorben«, sagte ihr Vater, »du bist nur ohnmächtig geworden. Und ich habe dir versprochen, dass du nie wieder damit fahren musst. Die meisten Erwachsenen möchten mit den modernen Achterbahnen nicht fahren.«
»Ich schon«, sagte Rebecca. »Ich habe keine Angst. Ich kann es gar nicht erwarten.«
»Prima«, sagte Paul. »Dann lade ich dich zur Eröffnung ein. Du bist mein Gast. Der Vergnügungspark ist dann noch fürs Publikum geschlossen. Das ist so etwas wie eine Privatveranstaltung. Und du kannst auch mit allen anderen Fahrgeschäften fahren.«
In diesem Augenblick läutete Carolyns Handy.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und ging in die Küche.
»Kannst du eine Überraschung vertragen?«, fragte Brad Preston. »Hank soll sie dir selber erzählen. Ich habe ihn hier in einer Konferenzschaltung an der Strippe. Wo steckst du im Moment?«
»Bei meinem Nachbarn. Was ist denn los?«
Jetzt redete Hank. »Der Angestellte des Seagull Motels ist wahrscheinlich Eddie Downly gewesen.«
»Sagen Sie das noch einmal!«, bat Carolyn, weil sie glaubte, sich verhört zu haben. Sie schloss die Küchentür. Und als Hank ihrer Bitte nachkam, lehnte sie die Stirn gegen die Wand.
»Wenn Downly der Angestellte war, hat er für Harrison gearbeitet«, mischte sich Brad ein. »Denn nur ein Deputy Chief kann die Daten so manipulieren, dass ein Schwerverbrecher wie Downly angeblich versehentlich aus der Haft entlassen wurde. Und das bedeutet: Es war ein Insider-Job. Ihr müsst versuchen, diesen Downly mit den nicht bezahlten Strafzetteln zu finden. Wir sind nach Strich und Faden verarscht worden.«
»Nun kommen Sie mal wieder auf den Teppich«, sagte Hank. »Metroix war mit Morphium voll gepumpt, als er Downly auf dem Foto wieder erkannte. Wie viele Typen kennen Sie, die Tätowierungen auf den Knöcheln haben?«
»Du hast den Mann betreut, Carolyn«, sagte Brad. »Was sind das für Tätowierungen?«
»Auf der linken Hand stand ›Liebe‹ und auf der rechten ›Hass‹«, erklärte Carolyn den beiden. »Die Buchstaben waren kaum zu lesen, entweder weil die Tätowierung schlecht war oder Eddie versucht hat, sie entfernen zu lassen. Was sie bedeuten, weiß ich nur, weil er es mir gesagt hat.«
Als das Gespräch beendet war, kehrte Carolyn gedankenverloren ins Wohnzimmer zurück.
»Gibt’s neue Probleme?«, fragte Paul. »Ich wollte mir gerade einen Brandy genehmigen. Möchten Sie auch einen?«
»Nein, danke«, lehnte Carolyn ab. »Sie waren ein wundervoller Gastgeber und ich möchte Ihnen besonders herzlich für die Einladung zur Eröffnung der von Ihnen konzipierten Achterbahn danken. Rebecca und John werden die Tage zählen, bis es so weit ist. Aber jetzt müssen wir nach Hause. Es hat sich etwas Neues in einem meiner Fälle ergeben.«
»Du gehst doch heute Abend nicht noch mal weg?«, fragte John, der nur den letzten Satz mitbekommen hatte. »Du willst doch nicht, dass wir alleine sind, oder?«
»Ich gehe nirgendwohin«, beruhigte seine Mutter ihn. »Ich muss nur etwas überprüfen«, fügte sie hinzu und fragte den Professor, weil sie plötzlich an Daniel dachte: »Hatten Sie schon Zeit, einen Blick auf die Papiere zu werfen, die ich Ihnen heute Morgen gegeben habe?«
»Eine sehr interessante Arbeit«, antwortete Paul, »sowohl in praktischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht, wie ich bei flüchtiger Überprüfung feststellen konnte. Deshalb habe ich sie einem Kollegen von der Technischen Universität in Kalifornien gefaxt. Er rief mich vor dem Essen an und fragte, welche Referenzen der Autor habe. Denn sie suchen einen Professor für Physik. Die Stelle wird im nächsten Jahr frei.«
»Er hat keine Referenzen«, sagte Carolyn.
»Vielleicht ist ein Doktorat gar nicht nötig.«
»Der Mann hat nicht mal einen High-School-Abschluss.«
»Sie machen wohl Witze«, entgegnete Paul mit großen Augen. »Das ist unmöglich.«
»Nein«, sagte Carolyn, noch immer erschüttert über das, was sie gerade von Eddie Downly gehört hatte. Deshalb fügte sie ungehalten hinzu: »Ich habe Ihnen nicht die Erlaubnis gegeben, diese Papiere in irgendeiner Weise weiterzuverbreiten. Rufen Sie bitte diesen Kollegen an und sagen Sie ihm, dass er sie vernichten soll. Ich gab Ihnen die Originale. Kann ich sie bitte zurückhaben?«
»Gewiss«, sagte Paul und holte das Gewünschte. Er gab die Unterlagen Carolyn.
Als sie dann vor der Haustür standen, sah Carolyn ihre Kinder über den Rasen schlendern. Lucy war nirgends zu gehen. Wahrscheinlich ist sie schon in ihr Zimmer gegangen, dachte Carolyn.
Sie beugte sich vor und küsste Paul flüchtig auf die Wange. »Entschuldigen Sie meinen Ton«, sagte sie. »Aber diese Papiere sind Beweismaterial in einer polizeilichen Untersuchung. Eigentlich hätte ich sie Ihnen gar nicht geben dürfen. Ich wollte nur wissen, ob sie von Wert sind.«
»Oh, sie sind sehr wertvoll«, antwortete Paul »Und der Mann, dem ich sie gefaxt habe, ist nicht nur ein Freund, dem ich absolut vertraue, sondern auch ein brillanter Physiker. Natürlich komme ich Ihrem Wunsch nach, aber wenn Sie wollen, können Sie persönlich mit ihm sprechen. Ich könnte ein Treffen mit ihm in der Uni arrangieren.«
Carolyn antwortete nicht sofort. Weil die Nacht kühl war, hatte sie ihre Arme vor der Brust verschränkt und rief ihren Kindern, die gerade an der Garage des Professors vorbeigingen, zu: »Bleibt da, wo ihr seid. Ich komme gleich.«
»Die Probleme mit Erfindungen wie einem Exoskelett sind komplexer Natur«, erklärte Paul. »Deshalb braucht man zur Begutachtung sowohl einen Ingenieur als auch einen Physiker. Denn erst in der Praxis erweist sich, ob es funktioniert und welche die eventuellen Fehlerquellen sind.«
»Vielen Dank noch einmal für alles«, sagte Carolyn. »Nächste Woche werde ich Sie diesbezüglich sicher noch einmal um Rat fragen.«
Sie klemmte sich die Papiere unter den Arm und lief über den Rasen zu ihren Kindern.
»Da ist jemand in unserem Haus!«, sagte Rebecca. Ihre Stimme zitterte. »Schau mal durchs Fenster. Du kannst seinen Rücken im Spiegel sehen.«
»Leg dich hin!«, befahl Carolyn und nahm die Ruger aus ihrer Handtasche. Sie packte die Waffe mit ihrer linken Hand, mit der Rechten drückte sie auf die automatische Wähltaste ihres Handys für 911. Doch ehe sie sprach, erkannte sie ihren Exmann, Frank, der über den Flur in die Küche ging. Sie sagte dem Dienst habenden Beamten, sie habe sich geirrt, und schaltete ihr Handy aus.
Wie war Frank ins Haus gelangt? Schon vor Jahren hatte sie die Schlösser auswechseln lassen.
»Der Mann da drin ist Dad«, sagte John und marschierte im Kreis. »Ich gehe da nicht rein, Mom. Er ist wahrscheinlich betrunken oder sonst was und will nur Geld.«
»Vielleicht möchte er uns nur sehen«, gab Rebecca zu bedenken. »Er ist doch kein Monster.«
Als die drei ins Haus gingen, lag Frank auf dem Sofa im Wohnzimmer und starrte in den Fernseher. Er rappelte sich hoch.
»Da ist ja mein Mädchen«, sagte er lächelnd und breitete seine Arme aus. »Komm her, meine Schöne. Gib deinem Daddy einen dicken Kuss.«
Nach der Umarmung stellte sich Rebecca demonstrativ neben ihren Vater und starrte ihren Bruder böse an.
»Willst du mich nicht einmal begrüßen, Faulpelz?«
»Hallo«, sagte John mit tonloser Stimme. »Geh jetzt wieder. Das ist unser Haus. Mom bezahlt die Rechnungen. Wie kannst du es wagen, dich hier niederzulassen, als wärst du zu Hause?«
Carolyn setzte sich. Sie wollte nicht, dass die Situation vor ihren Kindern eskalierte. Frank sah schrecklich aus, die Wangen waren eingefallen und unrasiert, die Augen dunkel umringt. Seine Hosen waren ihm ein paar Nummern zu groß. Seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, musste er mindestens zehn Kilo abgenommen haben. Er stand unter Drogen, dessen war sie sich sicher.
»Wie ist es dir ergangen, Frank?«
»Na ja. Die Dinge laufen nicht so, wie sie sollten. Ich dachte, ich könnte hier auf dem Sofa pennen, wenn du nichts dagegen hast.«
Er deutete auf das Handy, das auf dem Couchtisch lag. »Ich erwarte einen wichtigen Anruf. Von jemandem, der einen Job für mich hat.«
Carolyn wusste, dass er log. Er wartete auf einen Anruf von seinem Dealer. Die Situation wurde kompliziert, denn jetzt hatte Rebecca ihre Hand auf die Schulter ihres Vaters gelegt.
Trotzdem sagte sie: »Mir wäre es lieber, wenn du jetzt gehen würdest, Frank. Ruf mich nächste Woche an. Dann können wir eine Zeit vereinbaren, wann du Rebecca sehen kannst.«
»Ich habe ein neues Foto von der Schule von mir und habe Mom gebeten, es dir zu schicken«, sagte Rebecca. »Aber sie hatte deine Adresse nicht. Soll ich das Foto holen?«
Rebecca humpelte in ihr Zimmer. John stand noch immer in der Tür.
»Mom hat dich gebeten zu gehen«, sagte er mit finsterem Gesicht.
»Hey«, sagte Frank. »Warum regst du dich so auf? Ich will euch doch nicht ausrauben oder so was. Der Himmel weiß, was für Lügengeschichten eure Mutter euch über mich erzählt.«
Danach herrschte gespanntes Schweigen im Raum, bis Rebecca mit dem Foto und einem Stapel Briefe zurückkam.
»Sind die alle für mich, mein Engel?«
»Sie wurden zurückgeschickt, weil deine alte Adresse nicht gestimmt hat«, sagte Rebecca und warf ihrer Mutter einen ängstlichen Blick zu.
Als ihr Vater nach seinem Handy auf dem Couchtisch griff, sagte sie: »Ich dachte, du hättest kein Handy mehr, weil du es dir nicht leisten kannst.«
»Ich meinte damals ein normales Telefon«, erklärte Frank, fummelte in seinen Taschen herum, bis er einen Stift fand und riss dann einen Fetzen Papier von einer herumliegenden Zeitung, auf die er eine Nummer kritzelte. »Jetzt kannst du deinen Daddy jederzeit anrufen.«
John ging in sein Zimmer. Wütend schlug er die Tür hinter sich zu.
Carolyn tat so, als interessiere sie das Fernsehprogramm, bis Rebecca ins Badezimmer ging.
»Was du tust, ist grausam«, flüsterte sie. »Rebecca liebt dich. Und John auch. Selbst wenn es nicht so aussieht. Er ist wütend, weil du es vorgezogen hast, sie nicht mehr zu besuchen, anstatt Unterhalt zu bezahlen.«
»Scheiße!«, schimpfte Frank. »Wenn du die Hunde hinter mir herhetzt, wie soll ich da einen Job kriegen und Unterhalt bezahlen? Ich kann nicht arbeiten, wenn ich im Knast sitze, oder?«
»Wie bist du ins Haus gekommen?«
»Durch ein Fenster. Ich konnte mich noch an den Code für die Alarmanlage erinnern.«
Rebecca kam mit einem Kopfkissen und einer Decke ins Wohnzimmer zurück.
»Er schläft heute Nacht nicht hier«, sagte ihre Mutter. »Du hast ja seine Telefonnummer und kannst ihn morgen anrufen.«
»Na ja. Dann will ich mal gehen«, sagte Frank wütend. »Was bist du doch für eine kaltherzige Frau, Carolyn. Ist es denn so schlimm, wenn ich auf dem Sofa schlafe? Nur die eine Nacht. Ich habe kaum noch Benzin im Tank und bin fast pleite. Aber meine Tochter möchte gern, dass ich bleibe!«, trumpfte er auf, schwankte im Stehen und musste sich am Sofa festhalten.
Jetzt roch Carolyn auch den Alkohol. Wenn Frank vom Koks high war, trank er, um wieder runterzukommen.
Er ging unsicher zur Tür.
Rebecca fing an zu weinen. »Daddy sollte nicht fahren«, schluchzte sie. »Er könnte einen Unfall bauen.«
Carolyn nahm einen Zwanzig-Dollar-Schein aus ihrer Geldbörse, ging zu ihrem Ex und drückte ihm ihn in die Hand. Frank versuchte, sie zu küssen. Sie stieß ihn sanft von sich. Hätte sie sich energischer gewehrt, er wäre hingefallen.
»Das Geld ist für ein Taxi«, sagte sie, »Deine zwölfjährige Tochter ist klüger als du. Sie weiß, dass ihr Vater zu betrunken ist, um noch zu fahren. Ich rufe dir jetzt ein Taxi. Es sollte in ein paar Minuten da sein.«
»Danke, Baby«, sagte Frank und stopfte den Geldschein in seine Tasche.
Tief in Carolyns Innerem verborgen leuchtete manchmal noch das Bild des gut aussehenden, netten und begabten jungen Schriftstellers auf, den sie geheiratet hatte. Damals war er voller Hoffnungen gewesen. Er war noch immer jung, er konnte wieder unterrichten, wenn er sich zusammenriss. Er hatte seinen Hochschulabschluss. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
»Werd nüchtern und such dir Arbeit«, sagte sie so leise, dass Rebecca sie nicht hören konnte. »Ich ziehe den Strafantrag wegen fehlender Unterhaltszahlungen für ein paar Monate zurück, dann kriegst du keine Vorstrafe. Du warst ein guter Lehrer, Frank. Und du hast im Leben noch viel Zeit für deine schriftstellerische Arbeit. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, einen Verleger zu finden. Zumal für das erste Buch. Sogar Hemingway und Scott Fitzgerald hatten ihre liebe Not damit.«
Zu spät merkte Carolyn, dass ihr ausgerechnet zwei Alkoholiker als Paradebeispiel eingefallen waren.
»Mit deiner Sucht zerstörst du nur dich selbst und du tust den Kindern weh. Wenn du weiter Drogen nimmst, ist das dein Tod.«
Carolyn beobachtete ihn, wie er schwankend zu seinem alten Mustang Cabrio ging und nach seinen Autoschlüsseln suchte. Das Verdeck war so zerschlissen, dass es immer heruntergeklappt war. Vor zwölf Jahren hatte sie ihm den Wagen zu Weihnachten geschenkt und mühsam die monatlichen Raten abgestottert. Er war so glücklich über das schicke neue Auto gewesen und hatte es jeden Samstag poliert, bis es glänzte und funkelte. Damals hatte er wie John ausgesehen: groß, schlank, muskulös und sonnengebräunt. Und damals hatte sie immer Angst gehabt, ihn an eine andere Frau zu verlieren. Doch sie hatte ihn nicht an eine andere verloren – seine Affären waren ihr egal gewesen –, sondern an die Drogen.
Carolyn ging in die Küche, um ein Taxi zu rufen. Sie musste Schlösser an den Fenstern anbringen lassen und fragte sich jetzt, ob Frank ihren Wagen demoliert hatte. Vielleicht aus Wut, weil sie ihn wegen der nicht geleisteten Unterhaltszahlungen angezeigt hatte. Jetzt merkte sie, dass diese Anzeige zu nichts führen würde, denn Frank brauchte erst einen monatelangen Entzug in einer Klinik, ehe er arbeiten konnte.
Als sie wieder vor die Tür ging, war er bereits davongefahren. Traurig stand sie eine Weile da und dachte über ihr für immer verlorenes ehemaliges Glück nach. Da sah sie auf dem Weg etwas Helles. Sie bückte sich. Es war Rebeccas Foto. Schockiert steckte sie das Bild schnell in ein Nebenfach ihrer Handtasche.
Als sie über den Flur ging, traf sie auf ihre Tochter, die das für Frank vorgesehene Kopfkissen und die Decke wegräumte.
»Wein nicht, Liebling«, sagte sie zu Rebecca. »Ich habe deinem Vater Geld gegeben. Es wird ihm gut gehen.«
»Nein, das wird es nicht«, sagte Rebecca und ließ sich schluchzend zu Boden fallen. »Ich bin zwar nicht so klug wie John, aber ich bin nicht blöde. Ich habe von meinem Fenster aus gesehen, wie er davongefahren ist.«
Sie warf ihrer Mutter eine zerknüllte Papierkugel zu. »Ich habe versucht, ihn anzurufen. Unter dieser Nummer gibt es keinen Teilnehmer. Er hat mich angelogen. Er will uns überhaupt nicht wieder sehen. John hatte Recht. Er wollte nur Geld.«
Carolyn setzte sich auf den Boden und wiegte ihre Tochter in ihren Armen. Wie konnte sie sie trösten? Ihr Vater könnte einen Unfall haben und innerhalb der nächsten Stunde tot sein. Ich müsste die Polizei anrufen und sie warnen, denn Frank ist auch eine Gefahr für andere Menschen, dachte sie.
Doch sie sagte: »Komm, schlaf heute Nacht in meinem Bett. Vielleicht bleiben wir noch etwas auf und schauen uns einen Film an. Ich koche uns einen heißen Kakao.«
Als Carolyn in die Küche ging, saß John am Tisch über seinen Büchern.
»Er hat ein Fenster im Esszimmer eingeschlagen«, sagte er. »Ich habe es notdürftig repariert, bis der Glaser kommt. Warum ist die Alarmanlage eigentlich nicht losgegangen?«
Carolyn stand am Spülbecken und starrte gedankenverloren in den Garten. Inzwischen war zu viel Zeit vergangen, um die Polizei noch zu benachrichtigen. Sie hoffte, dass Frank das Benzin ausgegangen war und morgen Früh würde sie sich nach Unfällen erkundigen.
»Ich habe zwar die Schlösser austauschen lassen, aber den Alarmcode zu wechseln habe ich vergessen«, antwortete sie schließlich.
»Dad hat sich doch längst um den Verstand gebracht«, sagte John. »Wie konnte er sich nur daran erinnern?«
Carolyn drehte sich seufzend um und sah ihren Sohn an. »Ich habe unser Hochzeitsdatum dafür genommen. Deiner Schwester hat er angeblich seine Handynummer gegeben. Aber die stimmt nicht. Es gibt diese Nummer gar nicht.«
»Dieser Bastard«, sagte John und packte seine Bücher zusammen. »Tust du mir einen Gefallen, Mom?«
»Ja. Welchen?«, fragte Carolyn, rührte Kakao in die Milch und schob den Krug in die Mikrowelle.
John ging zur Tür und sagte: »Vergiss dieses Datum ein für alle Mal. Ich wünschte, du hättest ihn nie geheiratet. Und was mich angeht, ich habe keinen Vater mehr.«