Читать книгу Im Westen gegen den Strom - Natascha N. Hoefer - Страница 10
Оглавление4. Ziemlich beste Freunde
»Salut! Was gibt es Neues?« Pierric trat an den Schreibtisch seines sécrétaire adjoint, seines Stellvertreters, und griff nach der Post.
Yohann blickte von seiner Arbeit auf und erklärte: »Das sind die Kostenvoranschläge von drei Unternehmen für die Gestaltung des Gartens hinter der Mairie. - Hast du einen Moment Zeit?«
»Danke. Hast du reingesehen?«
»Ich würde Le Gall nehmen. Hast du Zeit? Wir müssen über den Brand in Spézet...«
Aber Pierric fiel ihm ins Wort: »Ich weiß über die Sache Bescheid. Jetzt sehe ich mir erst einmal diese Unterlagen an.« Er verschwand im Nebenzimmer, seinem Bürgermeisterbüro.
Yohann ließ die Finger nervös über die Schreibtischplatte trommeln. Sollte er ihm folgen? Aber dann wandte er sich doch vorerst wieder seiner Arbeit zu.
Die Dorfbibliothek war seine Idee gewesen. Sie nahm einen großen Teil des kleinen Rathausvorzimmers ein, das nicht viel Platz für Bücher und Filme bot. So hatte er mit dem bretonischen Bibliotheksverband die Lösung gefunden, den kleinen Bestand alle vier Monate zur Hälfte durch Leihgaben aus anderen Bibliotheken zu ersetzen. Die nächste Leihe bereitete er eben vor. Doch war er heute nur halb bei der Sache; er hatte einen großen Teil des Morgens an Recherchen zum Linky gesessen.
Hinter der offenen Tür des Bürgermeisterbüros hörte er Papierrascheln, ein Hüsteln, dann erschien Pierric im Türrahmen und fragte: »Sag mal, wie kam es gestern zu deiner Begegnung mit Lina?«
Pierric und seine Freundinnen. Yohann zuckte mit den Achseln und antwortete: »Sie ging im Regen spazieren, ich habe sie ins Dorf zurückgefahren.«
»Ja, aber was für einen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«
»Einen durchnässten.«
»Scherzkeks. Du weißt schon, was ich meine.«
Er hatte durchaus eine Ahnung davon, worauf sein Freund und Vorgesetzter hinaus wollte, wollte darauf jedoch nicht eingehen. Er setzte die Brille ab, die er zum Arbeiten am Rechner trug, und lehnte sich zurück. »Sie war wirklich durchnässt. Und sie wirkte orientierungslos, ein wenig verloren .«
»Hm.« Pierric steckte die Hände in die Hosentasche und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich war schockiert, als ich sie sah.«
Yohann hob fragend eine Augenbraue, doch widerwillig neugierig gemacht.
Durch Pierric ging ein Ruck und er begann, gleichzeitig zu gestikulieren und zu reden: »Das war nicht Lina! Wenn du sie gesehen hättest, vor zehn Jahren, du hättest sie jetzt nicht wiedererkannt! Ich habe sie nicht wiedererkannt! Sie war damals - unglaublich!« Er rang mit den Händen. »Sie war nicht nur schön, Lina hatte eine Aura! Einen Charme - sie war so mitreißend energiegeladen; sie war kreativ, intelligent, ja, und witzig: Sie hatte so einen eigenen, scharfsinnigen Humor.«
»Wo habt ihr euch kennengelernt?«, unterbrach Yohann Pierrics Redefluss.
»Wir waren in derselben Clique, an der Sorbonne .«
Yohann verdrehte die Augen. Er kannte diese Art, in der Pierric Sorbonne sagte, wie beiläufig und doch immer betont. Er selbst hatte nicht an der Pariser Elite-Universität studiert, und Pierric erinnerte ihn hin und wieder subtil daran.
»Sie war ein paar Jahre jünger als ich«, sinnierte der jetzt, »ich schon in der Abschlussphase und sie noch am Beginn ihres Studiums; aber der Kontakt hat noch gehalten, als ich mit dem Examen fertig war .« Er verstummte und schien ganz in seinen nostalgischen Träumereien zu versinken; dann setzte er abrupt nach: »Wir waren nie zusammen.«
»Nein?«, rutschte es Yohann heraus.
»Sie war zu gut für mich - zu gut für uns alle. Und ich verstehe immer noch nicht, wie sie ihr Leben dermaßen verpfuschen konnte! Erst ist sie Sozialarbeiterin geworden, obwohl ihr Soziologieprofessor sie dazu aufgefordert hatte, an der Uni zu bleiben, Professorin zu werden - sie war sein Shooting Star, weißt du; und dann, ein paar Jahre später, hat sie diesen unsäglichen, arroganten Typ geheiratet, diesen Schwätzer und Besserwisser - er war zu alt für sie, hatte ein Kind aus erster Ehe ...«
Yohann hatte genug gehört. Er zog die Brille auf und begann zu tippen.
»Was?«, protestierte Pierric, »ich erzähle von einem tragischen Menschenschicksal und dich berührt das nicht? Hörst du mir zu?«
Er sah lächelnd auf. »Fragst du mich als Chef oder als Freund?«
Pierric stützte sich mit den Ellenbogen auf den Schreibtisch auf und sah Yohann tief in die Augen. Schöne Augen hatte Pierric, groß, tiefblau mit schwarzen Wimpern, und das wusste er. Er zwinkerte leicht, als er sagte: »Jetzt lass mal deine Feinheiten und sage mir lieber, wo ich ein Fahrzeug für sie auftreiben kann. Lina ist das Dorfleben nicht gewohnt, sie muss mal wegfahren können.«
»Aha, das hört sich gleich vernünftiger an«, lachte Yohann. »Ich werde mich umhören. - Übrigens, egal ob deine Freundin Eheprobleme oder andere Schwierigkeiten hat, sie wirkte auf mich so, als bräuchte sie Ruhe .« Er sah Pierric vielsagend an.
Der richtete sich auf und stützte die Hände in die Hüften. »Sehe ich da einen moralischen Zeigefinger, mein pragmatischer und diskreter Freund? Aber mach dir keine Sorgen. Sie hat mich seit Jahren das erste Mal kontaktiert, über Facebook, und gefragt, ob ich eine günstige Unterkunft für sie auftreiben könnte, bei uns in der tiefsten Bretagne. Das habe ich gemacht und keine Fragen gestellt. Jetzt ist sie hier, in dem Zustand . Also, ich verspreche dir, ich lasse die Finger von ihr. Sowieso, ich bin viel zu gestresst mit Nelly, um ...«
»Ich dachte, mit Nelly wäre es aus?«
»Das dachte ich auch, aber es ist kompliziert.«
»Wie immer«, murmelte Yohann.
Achselzuckend wandte Pierric sich ab und seinem Büro zu. »Irgendein Fahrzeug für Lina, ja? Das braucht sie ganz sicher«, sagte er, schon über die Schulter hinweg.
»Warte! - Wir haben noch nicht über den Brand gestern gesprochen und über ...«, begann Yohann hastig, aber Pierric sagte laut und plötzlich im Chef-Tonfall: »Später! Ich habe doch gesagt, ich weiß über den Brand Bescheid, ich habe längst mit meinem Kollegen Leroux telefoniert! Und jetzt habe ich weitere wichtige Telefonate zu erledigen, die ich auf keinen Fall bis nach Ostern verschieben kann«, und er zog die Tür hinter sich zu.
Yohann sah die geschlossene Tür vorwurfsvoll an. Dann murmelte er für sich: »Nein, Pierric, ich denke nicht, dass du über alles Bescheid weist. Aber gut; wer nicht hören will, lässt die anderen machen. Dann kümmere ich mich eben darum. Ist ja nicht das erste Mal. Und um ein Fahrzeug für diese Lina ...« Er sah sie vor sich, grazil und zerbrechlich in ihrer zu weiten Kleidung, ihren ausdrucksstarken dunklen Blick. Dieses ganze Gefasel eben von ihrer einstigen Schönheit - Pierric war blind, um nicht die weit anrührendere, innere Schönheit seiner geheimnisvollen Freundin zu sehen. Sie wirkte nur, ja, gefangen in sich; wie geknebelt durch etwas - Trauer? Wut? Und dann, ihre abrupten Stimmungsschwankungen . Sie wirkte angegriffen, ziemlich labil. Was hatte sie wohl durchgemacht?
Er schüttelte den Kopf, fuhr sich durch das Haar und machte sich wieder an die Arbeit. Das alles ging ihn im Grunde nichts an.