Читать книгу Im Westen gegen den Strom - Natascha N. Hoefer - Страница 8

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2. Der grüne Tunnel

Es war, als würde die Welt um sie herum grün werden und langsam. Genauer war es der Zug, der langsam war, diese Bummelbahn nach dem TGV; und genauer war es die Natur, die frisch ergrünte, eine Natur, die üppig war, dicht, geradezu aufdringlich. Der Zug fuhr durch einen grünen Tunnel; die Zweige des zart belaubten Buschwerks berührten fast die Panoramafenster des Waggons. Dann öffnete sich der Hohlweg, und der Wechsel von Schatten zu Licht - eine Lichtfülle, die ihr aus Paris her fremd war - ließ sie die Augen geblendet zusammenkneifen. Doch als sie sich an die strahlende Sonne gewöhnt hatte, sah sie erst recht auf Grün, Grün in verschiedenen Schattierungen: Da waren saftig-grasgrüne Wiesen, umwallt mit Bäumen, die erstes zartgrünes Laub zeigten und umrankt waren von dunkelgrünem Efeu; hier und da flimmerte ein Tupfen leuchtendes Gelb auf, das waren Stechginsterbüsche. Nur selten mal sah sie, in einer Talmulde oder auf einer Anhöhe, ein bräunlich-graues Feldsteinhaus, dessen schwarzes Schieferdach unter der Sonne nass glänzte; die Gegend schien unglaublich ruhig und friedlich - und weitgehend menschenleer.

Dieser letzte Gedanke wäre für Lina noch vor wenigen Wochen beunruhigend gewesen, für sie, die geborene Großstädterin. Doch nun ... Sie fühlte sich leer. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich nicht verzweifelt, wütend, in sich zerrissen, schuldbewusst und voller Scham, nicht einmal zweifelnd - sie fühlte sich einfach nur leer. Und das war, verglichen mit dem, was vorher gewesen war, eine relative Wohltat.

So saß sie da, die Arme verschränkt, den Rucksack zwischen den Beinen, den Kopf seitlich an die Fensterscheibe gelehnt, so dass sie in den Hohlwegen den Eindruck hatte, die grünen Zweige würden ihr gleich die Schläfe streicheln. Kein Zweifeln mehr - nicht im Augenblick. Sie atmete ruhig, wartete ab, schreckte nur manchmal zusammen, wenn der Zug plötzlich trompetete wie ein fröhlicher Elefant. Sie saß da und sah ruhig und leer der Zukunft entgegen, bis der Zug verlangsamend an mit Graffiti besprühten Mauern entlang strich; dann hielt er vor einem bescheidenen Bahnhofsgebäude: Carhaix-Plouguer.

Und es war vorbei mit Linas Ruhe. Jetzt musste sie wieder handeln. Musste aufstehen. Den Zug verlassen. Pierre wiedersehen, den sie seit über acht Jahren nicht mehr gesehen hatte. Würde er sie überhaupt noch erkennen? Sie atmetet tief durch und griff nach ihrem Gepäck.


Jean-Yves wartete nervös vor dem Bahnhof. Wie sollte er die Fremde erkennen? Pierric war gut! Jung und schön, das war keine Beschreibung, das war nur einer von seinen Sprüchen! So, jetzt hatte er sie auch noch verpasst, da kam niemand mehr aus dem Bahnhofsgebäude. Nur der Junge. Oder wartete Pierrics Freundin etwa am Bahnsteig? Jean-Yves ging nachsehen, aber vergeblich.

Als er wieder den Bahnhofsvorplatz betrat, stand nur noch der Junge da, der mit der weiten Hose, der Kapuzenjacke und der komischen Schlumpfmütze. Der sah irgendwie verloren aus. »Hallo, hat dich jemand versetzt?«, sprach Jean-Yves ihn an.

Der Junge wandte sich abrupt zu ihm und antwortete erst nach einem längeren Zögern: »Sieht so aus, ja.«

Jean-Yves stutzte; das war keine männliche Stimme gewesen. Er fuhr sich durch das spärliche Haar. Das konnte nicht sein, oder? Dennoch fragte er: »Verzeihung, aber - kennst du Pierric?«

Sein Gegenüber machte einen kleinen Schritt zurück und meinte unsicher: »Ich warte auf einen Pierre. Le Bihan. Kennen Sie den?«

Jung und schön! Da hatte Pierric ihm einen ganz schönen Bären aufgebunden! Dieses blasse, dünne, knabenhafte Wesen hier - aber etwas hatte das junge Ding an sich, das einem zu Herzen ging, mit seinen großen, dunklen, müden Augen. Er räusperte sich und sagte: »Wenn du Lina bist - ich bin Jean-Yves! Pierric hat mich geschickt, ich bringe dich nach Saint-Hernin«, stolz wies er auf sein Fahrzeug. Die Antwort war ein entgeisterter Blick. Naja, sie war Pariserin, hatte Pierric gesagt. Aber entweder das oder gar nichts. Jean-Yves ging zum Mini-Quad und reichte der Pariserin den Beifahrerhelm. Sie sollte sich nicht so anstellen; schließlich sah sie gar nicht nach einer richtigen Pariserin aus.

»Ich glaube - ich fürchte, es wird auf dem Sitz zu eng für Sie und mich mit dem Rucksack«, wehrte Lina rundweg ab und nahm den Helm nicht entgegen.

»Dafür ist ja der Anhänger da«, versicherte Jean-Yves und schob den Rucksack - wenig Gepäck für eine Pariserin, zugegeben - in die rollende Metallbox, die er selbst konstruiert hatte. Er schloss die Gittertür und erklärte: »Die Box ist super, ist viel Platz drin; normal fährt nämlich Dudu mit, mein Hund.«

»Warum ist Pierre nicht selber gekommen?«, fragte Lina nach einem langen Atemzug.

»Das hat er gewollt, aber man kann nicht immer, wie man möchte, was? Lehrer am Lycée und Bürgermeister - und heute macht er eine Fortbildung. Da hat er uns gefragt, Julien und mich. Julien ist mein Großneffe«, Jean-Yves lächelte stolz. »Der hätte dich mit dem Auto vom Bahnhof abgeholt; aber das ging dann doch nicht, weil er arbeiten musste. Erst vor kurzem hat er einen Job gefunden, zum Glück!«

Die Pariserin sah ihn stumm und merkwürdig an.

»Das ist hier nicht so einfach für junge Leute, weißt du? Hier ist nicht die Großstadt«, erklärte Jean-Yves ernst.

Sein Gegenüber hob ironisch die Augenbrauen und sah nochmals ängstlich zum Mini-Quad.

Jean-Yves verstand, dass er die Pariserin beruhigen musste. Er erklärte: »Pierric hat mich geschickt, weil er wusste, bei mir bist du in sicheren Händen.« Erneut streckte er ihr den Beifahrerhelm entgegen und versuchte es mit einem Scherz: »Die Mütze würde ich aber abziehen, sonst geht der Helm nicht drüber. Oder er geht drüber, aber nachher nicht mehr vom Kopf.«

Was sollte sie machen? Irgendwie musste sie in ihr Quartier. Mutlos und resigniert zog sie den Beanie ab.

Jean-Yves erschrak. »Bist du krank? Das wusste ich nicht«, entfuhr es ihm.

Mit einem schwer zu deutenden Lächeln streifte sich die junge Frau den Helm über die nur Millimeter langen dunklen Stoppeln.

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