Читать книгу Im Westen gegen den Strom - Natascha N. Hoefer - Страница 13

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7. Zwei Reisende

Zwei Wochen waren seit Ostern vergangen - er wusste nicht, wo die Zeit geblieben war! Nachdenklich stieg Yohann in den Zug nach Guingamp, setzte sich ganz nach hinten und sah gedankenverloren durch das Fenster. Ja, er hatte zu wenig getan, die Sache schleifen gelassen. Recherchieren im Internet, das genügte nicht. In dieser Linky- Geschichte war wirklich der Wurm drin; der Zeitungsartikel, den er dabei hatte, bewies es. Nur gut, dass er nach Paris fuhr. Er würde die Gelegenheit nutzen und seinen Cousin Philippe ausfragen; vielleicht wusste der auch mehr über diese interessante Protestbewegung mit dem treffenden Namen: Stop Linky. Er schlug die Zeitung auf und begann, den Artikel, der ihn hartnäckig beschäftigte, noch einmal zu lesen.

Unterdessen, auf dem Bahnhofsvorplatz, sprang Lina vom Mini- Quad. »Danke, Jean-Yves«, rief sie und rannte schon los, um den Zug nach Guingamp noch zu erwischen. In ihrer Hektik hätte sie fast das Entwerten des Tickets vergessen; eben noch steckte sie es in den gelben Automaten und sprang dann in das nächstbeste Zugabteil. Dass ganz hinten im Zug Yohann saß, sah sie nicht; und er blickte nicht auf von seiner Zeitung.

In Guingamp hastete Lina aus dem Waggon, um den TGV nach Paris nicht zu verpassen. Ihr Zeitplan war eng getaktet, und sie würde sich, in Paris angekommen, fast unverzüglich auf den Weg zu ihrem Termin machen müssen.


Yohann verließ seinerseits die Regionalbahn und schlenderte durch die kleine Unterführung zum Gleis, an dem der TGV nach Paris-Montparnasse in sieben Minuten halten würde. Dass unter den Wartenden in einiger Entfernung von ihm Lina auf und ab tigerte, sah er nicht; und sie blickte angespannt auf ihr Bahnticket, um sich die Sitzplatznummer zu merken.


Im TGV ging Yohann in den Waggon mit der Cafeteria, um einen Cappuccino zu trinken und einen Brownie zu essen.

Kurz nachdem er an der Tür zur Toilette vorbeigegangen war, öffnet die sich und heraus kam Lina. Sollte sie einen Kaffee trinken gehen, überlegte sie kurz? Aber dann ging sie doch zurück zu ihrem Sitzplatz, wo sie, an ihrem Daumennagel kauend, an den Termin dachte, der ihr nun so bald bevorstand. Sie mochte sich kaum ausdenken, was wäre, sollte es das schon gewesen sein, mit ihrer bretonischen Auszeit! Zwei, drei Wochen - das genügte einfach nicht, das musste ihr Arzt doch auch so sehen? Ihr wurde vor Nervosität geradezu schlecht.


In Paris wartete an Gleis dreizehn eine große stattliche Frau mit auffallend roter Haarmähne, die, als sie Lina unter den anderen Fahrgästen aus dem Waggon steigen sah, auf sie zuschoss und fest in die Arme nahm. Lina verschwand buchstäblich in der Umarmung, schloss die Augen und sah nicht, dass Yohann haarscharf hinter ihnen vorbeiging.

Die große Frau trat einen Schritt zurück, beäugte sie intensiv und fragte eindringlich: »Und? Wie geht’s?«

»Ach Estelle - bin ich froh, dich zu sehen!«

»Dito«, rief Estelle aus und lachte. »Gehen wir?«

Es war unwirklich, wieder hier zu sein. Die sich drängenden Menschen, die Geräuschkulisse, die schlechte Luft in den langen unterirdischen Gängen vom Bahnhof zur Metro, in denen Lina froh war, nicht mehr als ihren leichten Rucksack zu tragen. Die Metro war dann überfüllt und stickig, und sie bemerkte überrascht, dass sie das nicht mehr gewohnt war. Alles erschien ihr zugleich von fern her vertraut und doch völlig entfremdet.

Eingequetscht zwischen den anderen Fahrgästen, sah Estelle auf ihrem Handy nach der Uhrzeit und fragte: »Haben wir Zeit für ein Mittagessen?«

»Leider nicht. Ich muss direkt zum Ärztehaus.«

Estelle machte eine Schnute. Sie liebte essen und hasste es, wenn eine Mahlzeit ausfiel.

»Fahr schon heim und iss etwas, es könnte länger werden; zum goûter kaufe ich uns Gebäck aus deiner Lieblingsbäckerei, und heute Abend gehen wir ins Restaurant«, vertröstete Lina ihre Freundin und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen: Als ob sie das Geld für einen Restaurantbesuch hätte! So atmete sie auf, als Estelle protestierte: »Ach was, heute Abend koche ich! Gegen ein Stück Mohnkuchen zum goûter hätte ich allerdings nichts einzuwenden. Hey Lina, du bist ja ganz verkrampft. Mach dir mal keine Sorgen, das wird schon gutgehen, beim Arzt! Ach Kleine - du hast mir gefehlt. «

»Du hast mir auch gefehlt, Große«, seufzte Lina und fühlte sich etwas besser. Wenn sie bei ihrer besten Freundin war, ihrer Freundin seit Kindertagen, fühlte sie sich stärker.


Yohann nahm in einer engen, nichtssagenden Straße im Bereich zwischen Gare de l’Est und Sacré-Coeur in einem kleinen und unscheinbaren Restaurant sein Mittagsmenü ein. Das Essen war hervorragend, das Restaurant ein echter Geheimtipp. Die Kellner kannten ihn; jedes Mal, wenn er in Paris war, kam er her. Er probierte seinen Wein. Gut. Er lächelte versonnen, freute sich auf den Nachmittag im Marais-Viertel. Dort wollten sie sich treffen. Mehr als diesen Nachmittag würden sie dieses Mal leider nicht füreinander haben; schon zum Abendessen wurde er bei Philippe und Florence erwartet. Aber immerhin. Ein Grund mehr, die kurze gemeinsame Zeit zu genießen.


Unendlich erleichtert, aber ganz schwach vor Hunger trat Lina aus dem Ärztehaus: Sie brauchte Nahrung, ihre Nerven auch. Und sie hatte Estelle ihr Lieblingsstückchen versprochen. Also machte sie sich auf den Weg zum jüdischen Viertel.

Dort angekommen, war sie bald vor der Bäckerei, die sie suchte, und sah im Schaufenster auf die verlockenden Auslagen. Sie hob den Blick - und erstarrte. Sie blinzelte, aber die Erscheinung blieb. Unmöglich. Sie trat näher an die Scheibe heran. War ihr müdes Gehirn verwirrt? Aber nein - diese Ähnlichkeit war ungeheuerlich. Ein echter Doppelgänger. Man könnte wirklich meinen ... Sie sprang vom Schaufenster zurück, machte hastig jeweils einen Schritt nach links, nach rechts, dann wieder nach links, wo sie endlich hinter Passanten in Deckung ging.

Jetzt verließen die beiden Männer die Bäckerei. Aber - es war auch seine Stimme. Nein, sie irrte sich nicht; aber dann - was machte er in Paris? Ihm in dieser Millionenstadt zu begegnen, musste den Zufallsfaktor eines Lottogewinns haben. Da wäre ihr der Lottogewinn aber lieber gewesen. Sie duckte sich tiefer, als er und sein Begleiter nahe an ihr vorbeigingen. Schockiert und betroffen sah sie ihnen nach. Sie plauderten, lachten. Und Yohann hatte dem allerdings sehr hübschen, sehr jungen Mann den Arm um die Schultern gelegt; jetzt zog er ihn an sich . Schockiert wandte sie sich ab.


Später saß sie gedankenverloren in ihrem Kaffee rührend an Estelles winzigem Wohnzimmertisch. Ihre Tasse und die Teller mit den beiden Riesen-Mohnstücken passten kaum darauf; dennoch liebte Estelle es, Kuchen am Wohnzimmertisch zu essen. Nun kam sie mit ihrer Tasse, die auch noch ihren Platz finden musste. Estelle schob sie auf den äußersten Rand der Tischplatte und ließ sich Lina gegenüber auf einen marokkanischen Pouf fallen. »Jetzt ist Erholung angesagt«, seufzte sie. »Also, alles glatt gegangen, ja?«

Lina nickte und sah zu Boden. »Ich bin weiter krankgeschrieben.«

»Du bist nicht krankgeschrieben, du bist attestiert arbeitsunfähig«, korrigierte Estelle streng. »Gut. Für wie lange?«

»Ich soll in vier Wochen wiederkommen.«

Estelle nickte und sah ihre Freundin prüfend an. Vier Wochen, das hörte sich viel an. Aber Linas Probleme würden nicht in vier Wochen gelöst sein.

»Ich verstehe einfach nicht«, brach es aus der heraus. »Ich bin unsagbar froh darüber, noch Schonzeit zu haben; nur, warum kann ich nicht arbeiten? Wo ich es doch muss! Ich kann doch nicht ewig so weitermachen wie jetzt; alles ist im Argen, alles ist in der Schwebe, und darunter lauert der Abgrund, so kommt es mir vor. «

Estelle beugte sich über das Tischchen und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Lass es. Nimm die Situation an. Schritt eins. Nur so kannst du sie ändern.«

Lina biss sich auf die Lippen. Sie sah einfach nicht, wie sie aus der Sackgasse herauskommen sollte!

»Und jetzt, erzähle mir endlich vom Ende der Welt. Wie sieht er aus, dein alter Freund Pierre? Noch immer der Apollo von früher?« Estelle grinste und nahm einen Bissen Kuchen.

Lina strich sich über Augen und Stirn. »Oh ja«, sie lächelte müde. »Keine Geheimratsecken, kein Bauchansatz. Sie nennen ihn alle >Pierric<. Ein Kosename.« Auch sie probierte einen Happen.

»Wahnsinn«, ließ Estelle so andächtig fallen, dass die Freundinnen beide mit vollem Mund lachen mussten. Estelle war seinerzeit total in Pierre verschossen gewesen; wie so viele. »Und wie er dir jetzt hilft«, setzte sie träumerisch hinzu, als sie ihren Kuchen heruntergeschluckt hatte.

Lina zuckte amüsiert mit den Achseln. »Stimmt, er hat mir mein Quartier verschafft; aber er ist nicht Supermann. Niemand ist perfekt, jeder hat seine Fehler.« Unwirsch dachte sie an den anderen - die Lottogewinnbegegnung von vorhin.

»Hast du ihn oft gesehen?«, wollte Estelle wissen.

Für einen Moment wusste Lina wirklich nicht, wen ihre Freundin meinte; dann antwortete sie schnell: »Pierre? - Nein. Ich habe ihn abgewimmelt. Ich habe alle abgewimmelt, ich musste einfach mal für mich sein.«

»Jetzt sage nicht, du warst die letzten zweieinhalb Wochen immer allein?«, fragte Estelle alarmiert.

Lina schluckte und sah weg. »Doch. - Ich gebe zu, das Handy hat mir sowas von gefehlt! In den ersten Tagen bin ich fast wahnsinnig geworden. Da habe ich kapiert, wie abhängig ich von dem Ding war, und dass das, was ich durchmachte, ein regelrechter Entzug war. Naja, ich habe es durchgezogen .«

»Immer allein mit deinen Gedanken«, Estelle schüttelte bestürzt den Kopf. »Ich dachte, du hast in Pierre einen Freund da! Und was hast du gemacht, die ganze Zeit?«

Lina machte eine hilflose Geste, begann aber zu lächeln. Und sie erzählte. Von den Rad- und von den Wandertouren, vom Nantes- Brest-Kanal und von den Schwarzen Bergen. Sehr weit war sie zwar weder zu Fuß, noch mit dem alten Rad herumgekommen, aber was sie gesehen hatte, hatte ihr gefallen; und geholfen hatte es ihr auch. Sie erklärte: »Immer, wenn ich es mit mir und meinen Erinnerungen nicht mehr aushielt, ging ich raus in die Natur. Und ich bemühte mich, nicht wieder in meinem inneren Morast zu versinken, sondern die Augen aufzutun, und auch die Ohren und die Nase! Die Natur dort ist nämlich wunderschön - üppig, grün, blühend, friedvoll und idyllisch, und trotzdem zugleich wild. Weißt du, diese Natur dort wirkt so stark und unbändig, als könnte ihr der Mensch auf Dauer nichts anhaben. Klingt irre, nicht? Aber ich habe das so empfunden, und daher - in diese Natur zu gehen, das war für mich ein Tanken reiner Energie!«

»Bist du unter die Esoteriker gegangen?«, spöttelte Estelle und schob sich das letzte Stück Kuchen in den Mund.

Lina verschränkte die Arme. Auch der zuweilen spöttische Ton ihrer Freundin war ihr wohl, wie so vieles in Paris, etwas fremd geworden.

Doch Estelle merkte, dass sie Lina gekränkt hatte, und sie versicherte schnell: »Verstehe, deshalb trägst du diese - das sind doch Wanderklamotten? Sind die nicht etwas groß für dich? Wo hast du die her?«

Gespielt gleichmütig zuckte Lina mit den Achseln. »Habe ich im Angebot gekauft. In Carhaix gibt es einen Décathlon. Es gab nur noch diese Größe. Immerhin habe ich zwei Sets, die ich abwechselnd wasche. Ich sage nicht, dass meine neue Garderobe schön ist, aber sie ist praktisch, und von schön habe ich die Nase gestrichen voll, also ...« Sie grinste schief, doch sie hätte heulen mögen. Sie wusste nur zu gut, dass sie in dieser grauen Verhüllung nicht sie selbst war - aber das war es ja, sie wusste nicht mehr, wer sie selbst war. Es war so hart, mit nichts bei null anzufangen! Anzufangen? Konnte das überhaupt ein Anfang sein, steckte sie nicht vielmehr fest, auf dem Tiefpunkt? Sie ballte die Fäuste, Tränen traten ihr in die Augen, da ließ Estelle sich neben sie auf die Couch plumpsen und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie riss sich zusammen, unterdrückte das Weinen. Stattdessen begann sie erneut zu reden, erst stockend, dann immer hastiger - über das andere, das, was ihr durch Kopf und Gemüt gegangen war, wenn sie es nicht hatte verdrängen können: die ohnmächtige Wut, die quälende Scham, die sie zerreißende Trauer, und die Angst - Angst vor der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Und dann die Schuldgefühle.

Doch da schüttelte Estelle sie ein wenig. »Rede nie wieder von Schuldgefühlen! Du weißt, was ich davon halte! Wenn du das Wort >Schuldgefühle< nur aussprichst, werde ich aggressiv . Willst du eine Zigarette? Ich brauche jetzt eine.« Und sie stand auf, die Schachtel und das Feuerzeug holen.

Lina schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich nicht mehr rauche.«

Estelle zündete sich eine Zigarette an. »Weiß ich, aber vielleicht gehst du doch ein bisschen hart mit dir ins Gericht. Kein Handy mehr, keine Zigaretten mehr, und dann diese Zwangsmärsche und Radtouren. Für mich wären es ja Rad-Tortouren, aber gut. Isst du zumindest regelmäßig?«

Lina winkte ab. »Ich komme klar. Ich weiß, was ich tue. - Verdammt, gib mir eine.«

»Sicher?«

»Gib mir eine Zigarette, los!«

Erstaunt über den scharfen Tonfall, hielt Estelle der Freundin die Schachtel hin. »Sieh an; hast du in der Bretagne wieder gelernt zu sagen, was du willst?«

Lina sog hastig an der entzündeten Zigarette und schloss die Augen, als sie den Rauch ausstieß. »Das ist die letzte«, murmelte sie, und dann lauter: »Ich übe. Ich übe vor allem das Neinsagen«, sie grinste schief, wedelte den Rauch weg und es lag ihr auf der Zunge hinzuzusetzen, dass das Neinsagen schließlich eine bretonische Spezialität sei. Aber dann hütete sie sich doch davor, ihrer Freundin auch nur ein Wort über Bretonen wie Yohann mit seinem Linky- Problem zu sagen. Dann müsste sie ihr alles erzählen, die ganze Geschichte, wie sie ihn kennengelernt, wie er ihr geholfen und wie sie ihn dafür letztlich brutal abgewimmelt hatte; Estelle würde Frage über Frage stellen und am Ende doch nur irgendwelchen Unsinn vermuten. Dass ein Mann ohne Hintergedanken einer Frau helfen könnte, passte nämlich nicht in ihr Weltbild. So bat Lina die Freundin nur, den Rechner benutzen zu dürfen; sie müsse sich bei Sarah melden.

Als Estelle etwas später nach Lina schaute, sah sie in ein entgeistertes Gesicht. »Alles klar?«, fragte sie.

»Sie hat blonde, ganz glatte Haare, gibt auf einem Foto einem Mädchen einen Zungenkuss und ist auf den meisten Bildern sehr leicht bekleidet zu sehen. Jetzt gerade ist sie schon wieder am Feiern und will nicht skypen.«

Estelle zuckte die Achseln. »Deine Tochter genießt ihre Freiheit! Meinst du nicht, es ist an der Zeit? - Los, iss deinen köstlichen Kuchen.« Sie hielt Lina den Teller hin.

Die schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich mag nicht mehr.« Ihre Stimme hatte fast tonlos geklungen und Estelle kannte diesen Gesichtsausdruck.

»Vergiss es. Frag nicht nach ihm«, knurrte sie.

Lina senkte den Blick.

Im Westen gegen den Strom

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