Читать книгу Im Westen gegen den Strom - Natascha N. Hoefer - Страница 14

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8. Daten sind Gold

Der schöne Nachmittag war wie im Fluge vergangen; dann war Yohann zu seinem Cousin Philippe und dessen Frau Florence gefahren. Er kam immer bei seinen Verwandten unter, wenn er in Paris übernachten musste. Früher schlief er auf der Couch im Wohnzimmer; jetzt, wo sein Neffe und seine Nichte ausgezogen waren, hatte er die Wahl zwischen zwei Schlafzimmern.

Bis eben hatten sie gemeinsam zu Abend gegessen; auf den entspannten Moment danach hatte Yohann gewartet.

»Zigarillo?« Philippe beugte sich vor und hielt ihm die Schachtel hin.

Er hob abwehrend die Hand.

»Auf dem Balkon«, rief Florence mahnend aus der Küche.

Philippe zog eine unglückliche Grimasse. »Gelobt sei der Tag, an dem hohes Alter und Schwerhörigkeit meine werte Gattin einholen werden«, brummte er. Dennoch stand er auf und ging mit Zigarillo und Weinglas brav Richtung Balkontür. »Kommst du mit, Cousin?«

Auf dem Balkon erwartete Yohann die überwältigende Aussicht auf die Dächer und Lichter von Paris. Wenn er sich über die rechte Ecke des verschnörkelten Metallgeländers beugte, konnte er in einiger Entfernung den Eiffelturm sehen. Heutzutage hätte selbst ein Philippe de Kervigné sich eine solche Wohnlage nicht mehr leisten können. In den benachbarten Gebäuden dieses Viertels zogen, für wenige Wochen oder Monate im Jahr, mehr und mehr saudiarabische Familien ein, die zum Shoppen nach Paris kamen.

Im Dunkeln leuchtete Philippes Zigarillospitze orangefarben auf. »Wann ist morgen deine Eigentümerversammlung?«, fragte er.

»Um zehn.«

»Meinst du, sie wird lange dauern?«

»Ich glaube nicht, alles Routine.«

»Dann kannst du mit uns zu Mittag essen?«

»Ich denke schon.«

»Gut«, Philippe stieß genüsslich den Rauch aus.

Die Cousins schwiegen, während Philippe seinen Zigarillo fertigrauchte und Yohann sich in den Anblick der spätabendlichen Großstadt versenkte. Erst als sie wieder zurück in das Wohnzimmer gingen, bat er Philippe, den mitgebrachten Artikel zu lesen. Philippe ließ sich in seinen Ohrensessel sinken, setzte die Lesebrille auf und überflog den Text. »Soso«, sagte er dann nur und gab ihm die Zeitung zurück.

Yohann kannte seinen Cousin: Der hörte sich allzu gerne selbst reden, wollte aber darum gebeten werden. »Was denkst du über die Sache?«, fragte er daher.

Philippe schlug ein langes Bein über das andere. »Nun«, hob er an, »in einem Haus in - wie heißt der Ort? Spézet? - in diesem Haus, bewohnt von einem älteren Ehepaar, bricht Feuer aus, ausgehend von einem Kurzschluss in der Waschmaschine. Das Haus ist stark beschädigt, nicht mehr bewohnbar. Nach Löschung des Feuers meldet das Ehepaar, wenige Stunden vor Beginn des Brandes einen Linky bekommen zu haben. Die Enedis kommt, holt und untersucht die Reste des Zählers. Das Resultat: Der Linky sei nicht die Brandursache gewesen. Akte geschlossen. So steht es da, nicht wahr?«

»Ich wollte keine Textzusammenfassung, ich wollte wissen, was du über die Sache denkst«, erinnerte Yohann, doch etwas ungeduldig. Es war nicht umsonst, dass er seinen Cousin danach fragte: Als Ex- Manager, Politiker und nicht zuletzt als Abgänger der Eliteschule ENA, der Ränkeschmiede par excellence, war Philippe extrem gut vernetzt und entsprechend informiert.

Nun lächelte er ironisch. »Meinst du, es ist das erste Mal, dass so etwas passiert?«

Yohann seufzte. »Nein. Ich habe gelesen, dass die Enedis nach jedem ähnlichen Brandfall den Linky untersucht und als Brandursache ausgeschlossen hat. Aber gerade das ist doch suspekt, und es macht mich fassungslos! Wenn du die alten Leute gesehen hättest - ihr Häuschen war alles, was sie hatten. Ihr ganzes Leben steckte darin und ging in Flammen auf.«

Philippe hob abwehrend die Hand. »Erspare mir bitte die Details, ich kann es mir vorstellen.« Er legte den Kopf schief und ein sarkastischer Ausdruck trat in seine Augen. »Aber was erwartest du? Was soll die Enedis denn tun? Die Enedis ist die Kleine-Schwester-Gesellschaft der EDF - der staatlich dominierten Elektrizitätsgesellschaft Frankreichs. Und sie hat den Auftrag erhalten - und zwar vom Staat -, in ganz Frankreich die mechanischen durch >intelligente<, soll heißen digitale Stromzähler zu ersetzen. Damit der Rezipient diese mag, haben sie einen lustigen Namen: die Linkys. Im pseudo-englischen Namen >Linky< steckt auch das, was das Gerät de facto kann: Es ist verlinkt. Es ist nämlich in Wahrheit nicht intelligent, sondern lediglich kommunikativ: Es empfängt und sendet Daten.«

Yohann verschränkte die Arme. Er hatte ja gewusst, dass es ein abendfüllender Vortrag werden würde.

Philippe schlürfte an seinem Wein und fuhr fort: »Zugegeben, der Linky ist sogar ausnehmend kommunikativ. Er gibt nicht nur den aktuellen Energieverbrauch eines Haushaltes an die Enedis durch - er kann dabei sogar auswerten, welches Gerät soeben wieviel Energie konsumiert. Er erkennt den Kühlschrank, die Lampe, den Toaster, den Fön . Wann und wie oft pflegt Yohann Kervigné, seinen Fön zu benutzen? Hat er etwa keinen? Wenn doch, weiß Enedis, wie oft Yohann Kervigné sich die Haare wäscht.«

Yohann schüttelte sich. »Das weiß Enedis nicht, denn Yohann Kervigné hat keinen Linky.«

»Noch nicht.«

»Ich werde nein sagen.«

Philippe lächelte mitleidig. »Daten sind das Gold des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Um Gold wurde stets skrupellos gekämpft. Es wurde gestritten, geraubt, gemordet.«

»Soweit wird Enedis kaum gehen.«

»Nein; aber doch so weit, nach Hausbränden geschwind die verkohlten Linkys abzuholen und zuverlässig zu versichern, dass diese nicht als Brandursache in Frage kommen. Nicht wahr?«

Yohann schüttelte den Kopf, noch immer fassungslos, noch immer skeptisch.

Philippe beugte sich vor. »Zugegeben, nach außen hin geht es beim Linky um etwas anderes: um die Einhaltung des EU-Abkommens von 2015, die erstrebte Senkung des Energieverbrauches betreffend. Damit die Franzosen weniger Energie konsumieren, erhalten sie einen Linky. Aber was kann der für sie tun? Wie gesagt, er sendet Enedis live die Energieverbrauchsdaten - und dafür kann der Verbraucher sich bei Enedis über diese Daten informieren. Das geht ganz leicht, du loggst dich auf deiner Kundenseite ein, und voilà. Aber was dann, wirst du vielleicht fragen?«

Yohann fragte nicht, sondern nahm einen Schluck Wein.

»Blicken wir einmal nach Australien, zum Beispiel. Da gibt es, unter dem Namen Smart Meter, den digitalen Stromzähler schon so lange, dass Studien dazu vorliegen. Denen zufolge erschreckte es die Australier zunächst tatsächlich zu sehen, wie viel Strom sie konsumierten, und sie senkten ihren Verbrauch; aber: Nach vier Monaten war der Effekt schon wieder vorbei! Es war zu mühselig, sich ständig über den aktuellen Stromverbrauch zu informieren; manche Dinge wie Kochen oder Wäschewaschen ließen sich sowieso nicht vermeiden, und so kehrten die Australier zu ihren alten Angewohnheiten zurück.«

»Das konnte auch gar nicht funktionieren! Man müsste die Menschen besser aufklären und dazu erziehen, weniger Strom zu verbrauchen«, warf Yohann ein.

»Du willst den heutigen Menschen, der von klein auf zum Konsumenten erzogen wird, dazu erziehen, weniger Strom zu verbrauchen? Und das in unserer immer digitalisierteren Welt? Kein Handy, kein Computer, keine Spiele mehr? Weg mit dem Riesen- Flachbildfernseher und zurück - etwa zum Buch?«

»Keine Frage, ich persönlich fände das nicht schlecht«, lächelte Yohann. »Aber - du meinst also, als bloßes Messgerät für den Stromverbrauch sorgt der Linky nicht dafür, dass die Menschen weniger Energie konsumieren; folglich ist er kein Energiespargerät - und kann deshalb auch nicht das richtige Mittel sein, um dem EU- Abkommen Folge zu leisten und den französischen Stromverbrauch zu senken?«

Philippe nickte bedeutsam. »Wohl auch aus dem Grund haben sich erst gar nicht alle EU-Mitgliedstaaten zum Einsatz digitaler Zählern verpflichtet. Belgien zum Beispiel hat sich gegen die Einführung des Linkys entschieden; Portugal hat angedeutet, vielleicht in fünfzig Jahren darüber nachzudenken.«

»Interessant! - Und du meinst wirklich, die andere, tiefere Absicht hinter dem Linky hat mit unseren Daten zu tun?«

»Yohann, Enedis ist ein Unternehmen! Sagen wir, der Linky rüttelt uns Franzosen auf und wir reduzieren freiwillig unseren Energiekonsum. Dann kaufen wir weniger Strom - und Enedis verdient weniger an uns. Nennen wir das Option eins. Nun zu Option zwei. Wir senken unseren Stromverbrauch nicht; dann bleibt Enedis der Trost, weiterhin gut an uns zu verdienen - und jede Menge Daten von uns zu sammeln! Solche Informationen zu den Geräten, die jemand verwendet, sowie zur Häufigkeit ihrer Verwendung liefern ein präzises Bild vom Lebensstandard und vom Budget eines Haushalts. Diese Daten lassen sich doch hervorragend für die Art von Werbung verwenden, die es mehr und mehr geben wird - die personalisierte! Wie praktisch, wenn jemand genau weiß, dass dein Kühlschrank sieben Jahre alt ist, nicht mehr aktuellen Energiestandards entspricht und dass dein Budget den Kauf eines neuen Kühlschranks im Wert von, sagen wir mal, vierhundert Euro ermöglichen würde. Dann erhältst du ein entsprechendes verführerisches Werbeangebot und brauchst nur noch zuzugreifen. Die Sache mit dem selber Denken ist ja auch zu anstrengend, und kaufen macht so viel Spaß .«

»Ach komm, Philipp, das hört sich zu schrecklich an! Nicht alle Menschen wollen verdummen! Außerdem - gibt es Beweise, konkrete Beweise dafür, dass es Enedis um unsere Daten geht?«

»Philippe Montloubou, Präsident der Enedis, hat sich öffentlich als >Operator für Big Data< bezeichnet. Zugegeben, er hat nicht direkt angekündigt, mit unseren Daten Handel betreiben zu wollen. Aber sagt Facebook das von sich?«

»Aber das darf doch nicht sein!«, rief Yohann aus. »Wie du vorhin gesagt hast, Enedis ist die Schwester der EDF, und die EDF ist staatlich.«

»Mein lieber moralischer Cousin, wenn alle so wären wie du, wäre die Welt wohl besser«, spöttelte Philippe.

Yohann wurde rot. Zu gut, zu blöd, so hatte diese unberechenbare Lina ihn genannt. Dachten alle so von ihm? Hatten sie Recht? Unmerklich schüttelte er den Kopf. Er konnte nicht so werden wie sie, so bitter, so sarkastisch! Er ging in die Gegenoffensive: »Philippe, du erzählst mir das alles so unbeteiligt, als ob es dich nichts angehen würde. Habt ihr denn schon einen Linky?«

»Nein; und so ein Ding kommt mir nicht in die Wohnung!«

Die Männer wandten sich um. Florence hatte das Wohnzimmer betreten und setzte sich mit einem Glas Wein zu ihnen.

Yohann lächelte. Er hatte Verstärkung bekommen. »Du glaubst also an das Neinsagen, Florence?«, fragte er.

»Natürlich werden wir nein sagen«, stellte Florence klar.

Philippe verdrehte die Augen. »Es wird nicht helfen«, maulte er.

»Man muss es versuchen!«, protestierte Florence.

»Sie kennt diese Stop Linky-Leute«, bemerkte Philippe süffisant. »Hätte sie mich nicht unterbrochen, ich hätte dir von dem Verein erzählt.«

Yohann war ganz Ohr. Darüber hatte er mehr wissen wollen!

Florence protestierte: »Stop Linky ist kein Verein, und ich muss gestehen, auch nicht aktiv bei dieser Bewegung dabei zu sein. In Paris tut sich diesbezüglich nicht viel; Stop Linky geht von der Provinz aus.«

Yohann beugte sich aufgeregt vor. »Erzähl bitte mehr, Florence.«

»Ich kenne niemanden von Stop Linky - aber ich kenne Annie Lobé! Sie ist freie Wissenschaftsjournalistin und hat einen richtig guten, kritischen Artikel zum Linky verfasst.«

»Wo finde ich sie? Meinst du, sie würde mir einige Fragen beantworten?«

»Ich hole mein Telefon.« Florence sprang auf.

Philippe trank pikiert seinen Wein aus. Er mochte es gar nicht, in den Hintergrund gedrängt zu werden; schon gar nicht von seiner Frau.

Doch Yohann war Feuer und Flamme, als er zehn Minuten später mit Annie Lobé ein Treffen ausgemacht hatte, für den kommenden Nachmittag um halb drei Uhr in einem Bistrot des Quartier latin.

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