Читать книгу Im Westen gegen den Strom - Natascha N. Hoefer - Страница 9

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3. Singing in the rain

Sie saß etwas bequemer, als sie es befürchtet hatte. Auch wenn es ihr höchst unangenehm war, sich an diesem seltsamen alten Mann festzuhalten, der sie so unpassend und hartnäckig duzte. Und der sie ohne Mütze gesehen hatte. Warum hatte Pierre gerade so einen geschickt? Und wohin fuhren sie überhaupt? Pierre hatte behauptet, das Haus läge nur wenige Kilometer entfernt von der Achttausend- Seelen-Stadt Carhaix-Plouguer; aber aus dem Nest waren sie gefühlt ewig heraus! Nun tuckerten sie eine Steigung hinauf, auf einer engen Landstraße zwischen Wällen, die nach oben hin von den Ästen hoher Bäume umschlossen wurden. Jetzt öffnete sich die Aussicht auf rundliche Hügel, gelb blühenden Stechginster und frischgrüne Felder; aber keine Häuser zu sehen. Was war das? Sie waren schon wieder daran vorbei, ein alter Kalvarienstein? Nun doch ein einsames Haus am Rande der Landstraße - aber hier, in dieser Einöde, hielt der alte Mann nicht, zum Glück! Sie hatte wirklich keine Ahnung, was sie erwartete, und kämpfte gegen ein Gefühl der Hilflosigkeit und Beklemmung.

So schlängelte sich das Mini-Quad immer weiter hoch, auf die Hügel der Montagnes Noires, der Schwarzen Berge, bis sie endlich an einem Ortsschild mit zwei Aufschriften vorbeiknatterten. Saint-Hernin - Sant-Hern; das Zweite war wohl der Ortsname auf Bretonisch, begriff Lina - und es kam ihr komplett unwirklich vor, so weit weg von der Zivilisation zu sein. Aber sie hatte es so gewollt. Genau das hatte sie so gewollt.

Langsam kurvten sie eine Häuserzeile entlang; ein winziges Nest, das war wohl schon das Zentrum, rechts die Bar neben dem Laden mit der Osterdekoration im Schaufenster, links die Kirche, natürlich aus Bruchstein und mit Schieferdach und ziemlich groß für so ein Minidörfchen - aber nun fuhr Jean-Yves daran vorbei und - wieder dorfauswärts? Das konnte nicht sein, nicht noch weiter in die Provinz? Doch da schwenkte das Quad schwungvoll über die Gegenfahrbahn, hielt auf dem breiten Gehweg und der Motor verstummte.

Lina stieg vorsichtig ab, zog den Helm vom Kopf, griff automatisch in die Hosentasche und streifte die Mütze über. Sie zeigte auf die Reihe der drei kleinen Bruchsteinhäuser und fragte unsicher: »Hier?«

»Das linke.«

Aha. Pierre hatte zwar gesagt, es sei klein, aber doch nicht bloß für einen Hobbit?

»Klein, aber fein, nicht wahr?«, strahlte Jean-Yves. »Und hier«, er griff in die Jackentasche - dann in die andere; in die Hosentaschen, eine nach der anderen, immer hastiger. »Wo ist er, der verflixte Schlüssel?«, fragte er Lina, als ob sie das wissen könnte!

»Es sieht aus, als würde es gleich regnen«, bemerkte sie scharf und wies nach oben. Wie aus dem nichts hatten sich dicke Wolken vor die Sonne geschoben. Typisch Bretagne! Wobei eine Wolke am Horizont merkwürdig war; sie hing so tief und sah geradezu schwarz aus.

»Wo habe ich den Schlüssel nur hingetan«, murmelte Jean-Yves unterdessen, »oder hat Pierric vergessen, ihn mir zu geben?«

»Und jetzt?«, Lina fuhr auf, »ich habe den ersten Tropfen abgekriegt. Ich bin müde, wirklich kaputt - nicht nur von der Reise. « Sie biss sich auf die Lippen.

Jean-Yves sah bestürzt, dass die Pariserin plötzlich mit den Tränen kämpfte.

»Warum rufen Sie ihn nicht an? Ich würde Pierre ja selber anrufen, aber ich - ich habe kein Handy«, erklärte die junge Frau nun beschämt und rang sichtlich um Fassung.

»Ein Handy? Habe ich nicht. Aber ich fahre sofort los. Ich habe den Schlüssel wahrscheinlich zuhause liegen gelassen; und wenn er da nicht ist, rufe ich Pierric an - Festnetz hab ich! Und - wir kriegen das schon hin!« Jean-Yves stieg schnell auf das Mini-Quad, brauste los und ließ Lina buchstäblich im Regen stehen.

Sprachlos sah sie ihm nach. Dann wischte sie sich einen Regentropfen aus dem Gesicht und sah mutlos auf das Häuschen, das sie nicht einlassen wollte. Niedlich, irgendwie, und rustikal; es schien gar keinen ordentlichen Neunzig-Grad-Winkel zu haben! Trotz seiner Miniaturgröße wirkte es andererseits wie der Turm eines Ritterschlösschens, mit seinen dicken bruchsteinernen Mauern; und das gefiel ihr. Sie sah auf die zwei Fenster, eines neben der Haustür und eines im ersten Stock, zur Hälfte mit bretonischen Spitzengardinen verhängt. Türen gab es, bemerkte sie jetzt, auch zwei; nebst der Haustür im Erdgeschoss führte an der Seite des Häuschens eine schmale Holzstiege hoch, anscheinend zu einer zweiten Eingangstür direkt zur Etage. Wie das Gebäude im Ganzen, so waren allerdings auch die Fensterchen und Türchen ihrer Kleinheit nach für Menschen der Größe von Hobbits gemacht, dachte sie kopfschüttelnd und musste doch lächeln.

Sie sog tief die Luft ein, in der, vielleicht getragen durch die Feuchtigkeit, ein süßlich-herber Duft lag. Das waren nicht die Forsythien, die hellgelb und fast schon verblüht aus dem Vorgärtchen hervorleuchteten; nein, der an Kokos erinnernde Duft kam von dem kräftigen gelben Stechginster . Sie trat näher an den Busch heran und schloss kurz die Augen. Roch gut. Als sie den Miniaturgarten abschritt, entdeckte sie im Gras grüne Primeln, Gänseblümchen, Vergissmeinnicht, gelbe und blaue Wildblumen, die sie nicht kannte, und dann, zu ihrem Erstaunen, an dem Rosenstrauch neben der Gartenbank eine erste, wunderbar erblühte Rose.

Okay, der Garten war hübsch, fast bezaubernd, aber Regen und Wind verstärkten sich und ihr wurde kalt. Wie lange konnte es dauern, bis dieser Jean-Yves mit dem Schlüssel zurück war? - Bestimmt ewig! Nein, hier warten wollte sie nicht. Sie musste sich bewegen. Sie stellte ihren Rucksack vor der verschlossenen Haustür ab (in dieser menschenleeren Provinz würde wohl kaum jemand ihn stehlen?) und ging los. Zurück Richtung »Zentrum«, wenn man den Kirchplatz so nennen wollte.

Hier hatte sie sich schnell umgesehen. Dem großen Kirchportal gegenüber sah sie sogleich Pierres Arbeitsplatz, ein langgezogenes Bruchsteinhaus mit dem Schild »Mairie« über dem Eingang. Aber da Pierre nicht da war, nützte ihr das nichts; so schlenderte sie unschlüssig an der Kapelle, dem Kalvarienstein, dem Beinhaus, den drei Keltengräbern und dem alten Waschbrunnen vorbei, die allesamt bestimmt wahnsinnig bretonisch und sehenswert waren; nur war sie zum Sightseeing nicht in Stimmung! Es regnete immer stärker, von Jean-Yves oder seinem Mini-Quad keine Spur, und so folgte sie schließlich, um sich durch die Bewegung aufzuwärmen, dem Wegweiser zu einem Wanderpfad, den sie am Ende der Kirchgasse entdeckte.

Und nach wenigen Metern war sie in der Wildnis! Sie schritt über weichen Erdboden, durch einen Hohlweg; rechts von ihr gluckste ein Bachlauf hinter noch braunem Farn und hellgrünen Büschen den Abhang hinab, links erhoben sich mächtige Eichen. Seltsam war, dass der Regen die Vögel nicht störte - sie jubilierten fröhlich und gaben ein Konzert, wie Lina lange keines gehört hatte; wobei manche der Vogelstimmen ihr ganz fremd erschienen und sie sich fragte, was das wohl für Vögel waren? Wo war sie hier hingeraten? Es kam ihr alles mal märchen-, mal alptraumhaft vor; allein die Einsamkeit war ihr bald unheimlich, bald unglaublich beruhigend, und sie bremste ihren eiligen Schritt: Hier würde, hier konnte sie niemand mehr verfolgen!

Und dann schreckte sie plötzlich zusammen. Sie war doch nicht allein. Da war eine Stimme. Eine Männerstimme. Der Mann sang ... und zwar ... ja, sie kannte dieses alte Lied. Sie blieb stehen. Eben hatte ihr enger Pfad sie auf einen breiteren, besser befestigten Weg geführt. Durch die tropfnassen Zweige hoher Bäume erblickte sie ein steiles Gefälle und unten im Tal einen kleinen Fluss. Das Singen wurde lauter, kam von hinter der nächsten Kurve; Rückzug oder Stehenbleiben und Mr. Singing in the rain begegnen? Da schoss etwas auf sie zu und an ihr hoch, ein Hund! Erschrocken schrie Lina auf und fing gleichzeitig die nassen Pfoten auf. Sie starrte dem Tier, das allerdings weder riesig, noch besonders schwer war, in die neugierigen Kulleraugen zwischen den Hängeohren. »Babou, hier!«, rief der Regensänger, und da stand er: Eng anliegende Gummistiefel bis zu den Knien, ein wasserabweisender Trenchcoat, eine Art irische Zwanziger-Jahre - Mütze unter großem Regenschirm.

Yohann kniff die Augen zusammen. Durch den Regen, der jetzt wie in Bindfäden vom Himmel fiel, konnte er nicht sofort erkennen, wen er da vor sich hatte. So oder so, die Person hatte sich erschreckt, und er beeilte sich zu versichern: »Verzeihen Sie, Babou ist aufdringlich in ihrem Überschwang, aber nicht böse. Ich hoffe, sie hat Sie nicht verdreckt?«

Welchem Jahrhundert war der denn entsprungen, fragte sich Lina? »Mir ist nichts passiert, danke«, murmelte sie undeutlich unter ihrer Kapuze hervor.

Der Stimme nach eine Frau, begriff Yohann, und er fragte höflich: »Haben Sie sich verlaufen?« Er hatte nicht erwartet, bei dem schlagartig schlecht gewordenen Wetter jemandem zu begegnen, und wäre gerade jetzt, gerade heute gerne mit seinen Gedanken alleine gewesen; aber die Gestalt vor ihm sah so durchnässt und unglücklich aus ...

»Alles gut, ich weiß genau, wo ich bin«, log Lina und machte Anstalten, ihren Pfad schnell zurückzugehen.

Er hätte sie ihrem Schicksal überlassen können. Aber irgendwie konnte er es nicht. Er rief ihr hinterher: »Entschuldigen Sie, ich will nicht aufdringlich sein wie mein Hund, aber - wenn Sie zurück zum Dorf wollen, ist dieser Weg hier bequemer. Der Pfad da wird schnell zum Morast.«

Sie blieb stehen, wandte sich langsam um. »Warum meinen Sie eigentlich, dass ich Hilfe brauche?«, fragte sie irritiert zurück.

»Sie tragen keine Gummistiefel.«

In diesem Moment war lautes Donnergrollen zu hören.

Sie schloss kurz die Augen. »Na gut.«

Ihre Anspannung wuchs aber, als der Fremde sie ungefragt zu begleiten begann. »Wollten Sie nicht in die andere Richtung?«, protestierte sie ruppig, aber so leise, dass er es gerade so hören konnte.

Gleichmütig gab er zurück: »Angesichts der Wetterlage ziehe ich es doch vor, zurückzugehen. Mein Schirm ist übrigens groß«, und er hielt das gute Stück einladend ein wenig höher.

Sie wäre gerne auf Abstand geblieben. Aber die Nässe wollte durch jede Naht ihrer Kleidung kriechen. Sie würde sich eine Grippe holen, und wer wusste schon, wie die medizinische Versorgung in der Provinz war . Sie näherte sich dem Schirm und spähte verstohlen zu dessen Träger. Er war nicht viel größer als sie, schmal und mit einem länglichen, feinen Gesicht, das zu seiner sanften Stimme passte; er hatte nichts Furchterregendes an sich. Sie machte noch einen Schritt zur Seite, unter den Regenschutz. Und da sie den Fremden, durch die Kapuze bedingt, nicht mehr misstrauisch aus den Augenwinkeln beobachten konnte, zog sie die lieber ab - vorsichtig, damit die Mütze nicht verrutschte. »Was haben Sie da vorhin gesungen?«, fragte sie, nur um das verlegene Schweigen zu brechen. Irrte sie sich oder sah er scheel auf ihren Beanie?

»Ach das«, winkte er schnell ab und wurde etwas rot, »das passiert mir manchmal so, beim Nachdenken zu singen.«

»Das alte Partisanenlied der Résistance? Das hört sich nach rebellischen Gedanken an«, bemerkte sie nun doch und unterdrückte ein Grinsen.

Yohann räusperte sich und schwieg. Als sie ihn aber weiterhin groß und fragend aus dunklen Augen ansah (ausdrucksstarke Augen hatte sie), zuckte er zuletzt mit den Achseln und sagte wahrheitsgemäß: »Das Lied passte zu meiner Stimmung. Ich war etwas aufgebracht, weil - vielleicht habe ich heute etwas erlebt, was das Ergebnis einer großen Ungerechtigkeit war; oder mehr, einer großen Sauerei. Vielleicht war es aber auch nur ein schrecklicher Unfall. - Aber hören Sie bitte nicht auf mich, Sie merken schon, ich bin zu verwirrt und aufgewühlt, um mich besser zu erklären.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. Was stammelte er hier vor dieser Fremden herum, die garantiert eigene Schwierigkeiten hatte?

Lina runzelte die Stirn. Sie hätte ihren rätselhaften Begleiter gerne gefragt, was er gemeint und was er erlebt hatte, doch das war ihr zu persönlich. Also fragte sie nur: »Wo sind wir hier eigentlich, was ist das für ein Fluss?«

Erleichtert darüber, dass sie nicht nachhakte, hielt er ihr einen kleinen Vortrag über den Nantes-Brest-Kanal. Idee Napoleons - natürliche Flussläufe - von Häftlingen ausgegrabene Verbindungen - Transport des bretonischen Schiefers - Konkurrenz durch innerbretonische Eisenbahn - diese stillgelegt in den sechziger Jahren - an Lina rauschten seine Erläuterungen halbwegs vorbei. Sie fragte sich ständig: Was soll ich tun, wenn Jean-Yves gleich mit dem Schlüssel noch nicht zurück ist?

»Aber Sie interessieren sich nicht für Geschichte?«, fragte er sie unversehens.

»Oh - doch, doch. Was ist ein Treidelweg?«, fragte sie, aufs Geratewohl eines der von ihm zuletzt benutzten Wörter aufgreifend.

»Der Weg, auf dem die Pferde früher die Lastkähne zogen - der Weg auf der anderen Kanalseite! Wir gehen eben über die einstige Eisenbahntrasse. - Geht es Ihnen gut?«

Da erklärte sie ihm in ihrer Ratlosigkeit und Verzweiflung ihr Problem; natürlich nur ihr akutes, das Schlüsselproblem, und das auch lediglich in den gröbsten Zügen.

Eine Freundin von Pierric war sie also? Verstohlen warf Yohann ihr einen Seitenblick zu. Warum war Pierric immer zufällig gerade nicht da, wenn man ihn brauchte? Er seufzte und hob an: »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Yohann Kervigné.«

Yohann; ein Name aus einer anderen Zeit, das passte, fand sie. »Lina Vincenti«, stellte sie sich ihrerseits vor.

»Sie sind Italienerin?«, fragte er interessiert.

»Meine Mutter«, gab sie knapp zurück. »Ich bin Französin.«

Er nickte. »Da vorne steht mein Auto. Ich fahre Sie nach Saint- Hernin und dann sehen wir weiter, ja?«

Sie zuckte ergeben mit den Achseln.

Sein Auto war ein hellblauer Renault vier, wie sie ewig keinen mehr gesehen hatte. Yohann hielt ihr die Beifahrertür auf, blieb selbst aber noch minutenlang ohne Schirm im Regen stehen, während er die auf der Rückbank sitzende Babou mit einem großen Tuch abrieb. Im Rückspiegel sah Lina, wie das Tier ihm brav eine Pfote nach der anderen reichte und sich dann wie ein Mensch direkt auf den Po setzte, den Rücken an die Rückenlehne gelegt, um ihrem Herrn Brust und Bauch zu präsentieren. Während er rubbelte, gab sie ihm Nasenküsse. Eine hübsche Szene, und auch beruhigend. In Paris wäre sie niemals mit dem erstbesten Fremden in die Karre gestiegen; aber etwas sagte ihr, dass das hier kein perverser Verbrecher war.

Das Einzige, was sie dann doch unangenehm fand, war der Geruch nach nassem Hund. Nur schwerlich überdeckte er noch etwas anderes: Irgendwie roch das Autoinnere - angeräuchert? Aber zum Glück war die Fahrt ins Dorf überraschend kurz. Der Renault vier kurvte schwungvoll ein enges Landsträßchen hoch, dann kam schon nach wenigen Minuten ein Ortsschild, Saint-Hernin, und die Landstraße mündete in eine Kreuzung. Yohann wollte eben fragen, wo sie nun hinmüssten, als Lina überrascht ausrief: »Ich glaube, das ist es schon. Genau vor uns. «

»Welches, das Linke der drei? Dann ist Jeanne Ihre Vermieterin?«, begriff Yohann.

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Pierre hat sich um alles gekümmert. Ich weiß nur, wie viel, oder besser, wie wenig Miete ich zahlen soll, wochenweise. « Sie verstummte. Das war schon mehr als sie hatte preisgeben wollen. Sie wollte doch nichts über sich erzählen.

Während er parkte, erklärte Yohann munter, dass die Dorfbewohner die drei Reihenhäuschen immer nur »die drei« nannten, seitdem sie 1898 von drei Geschwistern erbaut worden waren. Jeanne sei die letzte Nachfahrin dieser Geschwister, eine sehr kleine, sehr alte Dame, die zu ihren Enkeln in den Süden gezogen sei. Das mittlere Haus gehöre inzwischen Engländern, die seit Jahren nicht mehr kämen, und das rechte einer sehr sympathischen Autorin mit Hund, die drei- bis viermal im Jahr in Saint-Hernin sei, derzeit aber nicht.

Lina deutete ein Nicken an. Das klang eher gut, fand sie. Das klang nach Ruhe. Wenn sie nur erst den Stress mit dem Reinkommen hinter sich hatte.

Sie gingen zur Haustür; da lag ihr durchnässter Rucksack - aber die Tür war nach wie vor verschlossen.

Yohann meinte, in den Augen seiner Begleiterin einen Anflug von Panik zu lesen. Ruhig fragte er: »Und oben? Haben Sie bei der oberen Tür nachgeschaut?«

Lina schüttelte den Kopf. Warum sollte die obere Tür offen sein? Aber Yohann forderte sie mit einer Geste auf voranzugehen, und so stiegen sie hintereinander die enge Holztreppe zur Tür im ersten Stock hoch. Lina drückte die Klinke - abgeschlossen, natürlich. Doch Yohann rief aus: »Hat sie sich nicht bewegt? Vielleicht klemmt sie nur bei Feuchtigkeit.« Er drängte sich an Lina vorbei, drückte seinerseits die Klinke und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, die ruckartig nachgab.»Voilà«, sagte er und machte eine einladende Geste.

Verblüfft trat Lina über die Schwelle.

Ein ganz kleines Zimmerchen mit übergroßem Kamin - der war allerdings mit breiten Bohlen verschlossen. Ein schön geschnitztes Bett, ein passender Nachttisch und ein Kleiderschrank mit Spiegeltüren; ein altes Schreibpult mit Stuhl. Das war sie, die Einrichtung. »Und wie soll man hier heizen?«, fragte Lina. Sie fand es hier drinnen fast kälter als draußen.

»Unten ist noch ein Kamin; vermutlich mit eingebautem Holzofen. Die heizen sehr gut, die Wärme steigt bis hier oben. Wollen wir nachsehen?« Yohann wies auf die Treppe zum Erdgeschoss.

Vorsichtig tastete Lina sich nach unten. Wie er gesagt hatte - im Erdgeschoss nahm der Kamin fast eine ganze Wandbreite ein; ein schwarzer Holzofen stand darin. Vor dem Kamin standen eine kurze Couch und ein kleiner Sessel; ansonsten blieb in dem Zimmerchen gerade mal Platz für eine Küchenzeile an der Rückwand, der Haustür gegenüber, und für ein Esstischchen mit zwei Stühlen.

»Für Hobbits. Sagte ichs doch«, murmelte Lina für sich.

»Wie bitte?«, fragte Yohann.

»Ach, nichts. Ich habe noch nie mit Holz geheizt. Und viel Brennholz sehe ich hier auch nicht.«

»Hinter dem Haus ist ein Schuppen, da könnte noch mehr Holz zu finden sein. Soll ich Ihnen ein Feuer machen?«

Überrascht hob Lina die Brauen. »Das kriege ich schon hin«, wehrte sie dann ab; in ihren eigenen Ohren klang es zu schroff. »Und was ist in dem geheimnisvollen Kasten da, in der Ecke neben der Haustür«, setzte sie daher in gespielt heiterem Tonfall nach.

»Vermutlich der Stromzähler«, antwortete er, ohne nachzudenken - und sah plötzlich wieder das brennende Haus der Meuniers vor sich, roch den beißenden Qualm. Es fröstelte ihn; er nahm sich zusammen und ging zu dem Kasten. Der war nur mit einem Häkchen verschlossen, er öffnete es, zog die Tür auf - und da war er, der alte Zähler.

Es war so dämmrig, so merkwürdig intim in diesem winzigen Zimmer, dass Lina eine gewisse Verlegenheit verspürte und das Bedürfnis, sie mit einer belanglosen Bemerkung zu überspielen; so sagte sie: »Bei uns in Paris ist letzte Woche der Stromzähler ausgetauscht worden, gegen einen digitalen.« Prompt biss sie sich auf die Lippen. Warum sprach sie von Paris?! - Falsches Thema!

»Ach ja?«, fragte Yohann sofort, und es lag ihm auf der Zunge, nun doch von dem Vorfall in Spézet zu erzählen; aber dann riss er sich zusammen. Sicherlich wollte die Durchnässte sich aufwärmen, ausruhen und allein sein, statt mit seinen persönlichen Sorgen belästigt zu werden! Er schaltete den Strom an. »Jetzt können Sie Licht machen. Bei dem Unwetter ist es dunkel wie am Abend, nicht?«

Sie fand den Lichtschalter. Im diffusen Licht der Deckenlampe sahen sich die beiden das erste Mal richtig an, in die Augen. Seine waren hellbraun, fast caramelfarben, mit durchdringendem und doch gütigem Blick. Sie hielten einen Moment Blickkontakt, dann lösten sie ihn und jeder tat so, als würde er das Zimmer genauer betrachten.

»So, ich sollte jetzt gehen«, kündigte er an, und als sie ihn nicht aufhielt, ging er zurück in den ersten Stock. Lina sah sich noch einmal kurz um, dann folgte sie ihm.

Er hatte den Schlafzimmerschrank geöffnet und zog eine Decke hervor. »Hier. Sie sind ganz durchgefroren. - Ah, ich meine, ein Auto gehört zu haben! Waren Sie mit Pierric verabredet? Das wird er sein. Also dann - willkommen in Saint-Hernin!« Er machte eine kleine Verbeugung und verließ hastig das Zimmer.

»Danke!«, rief Lina ihm hinterher, die Treppe hinunter, wobei sie bemerkte, dass der Regen aufgehört hatte.

Unten auf dem Bürgersteig kreuzten sich die Wege der beiden Männer.

»Yohann?«, rief der Ankömmling überrascht aus.

»Salut Pierric! Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast, aber heute brannte es in Spézet...«

»Ach ja?« Pierric sah zum Linken der drei und war sichtlich mit den Gedanken bei einer anderen Sache.

»Reden wir morgen darüber? Deine Freundin ist oben«, informierte Yohann lakonisch, »schönen Abend noch.«

Pierric, den Haustürschlüssel in der Hand, sah ihm nach, wie er im Auto verschwand. »Und was machst du überhaupt hier? - Der ewige Helfer, hat doch wieder zugeschlagen«, murmelte er kopfschüttelnd. Dann blickte er auf. Im Rahmen der oberen Haustür stand eine vermummte Silhouette. Er atmete auf, freute sich auf die Begegnung. Lina!

Im Westen gegen den Strom

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