Читать книгу Im Westen gegen den Strom - Natascha N. Hoefer - Страница 15
Оглавление9. Enthüllungen
Lina zog die Decke fester um sich. Im Schneidersitz saß sie auf dem Bürostuhl vor Estelles Rechner. Die hätte sich über die Sitzposition ihrer gelenkigen Freundin lustig gemacht, wäre sie bereits wach gewesen. Aber Estelle schlief tief und fest zu dieser frühmorgendlichen Stunde. In Sidney war der Tag jedoch achteinhalb Stunden älter als in Paris, und um halb vier Uhr nachmittags konnte sie ihre Tochter wohl erreichen?
Diesmal klappte es mit dem Skypen; Sarah erschien auf dem Bildschirm, stutzte und begrüßte sie mit den Worten: »Hey Lina! Schön, dich auch mal wiederzusehen! Wie siehst du denn aus?« Sie grinste matt und machte eine vage Geste Richtung Kopf.
Aber Lina konnte nicht sofort und ohne Vorbereitung erklären, warum sie den Beanie trug, was geschehen war. Deshalb fragte sie ausweichend zurück: »Und du, deine rosa-gelben Haare? Ist das in in Australien?«
Sarah strich sich langsam eine rosa Strähne ihres ungewohnt glatten Haars hinter das Ohr und versuchte zu lächeln. Doch eine erneute Schmerzwelle durch ihren Kopf ließ ihre Mimik zu einer Grimasse werden.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Lina sofort.
Sarah zuckte leicht mit den Achseln. »Kopfschmerzen. Echt krasse. Ich werde nicht lange reden können; wenn ich sitze, ist es noch schlimmer und mir wird erst recht schlecht.«
Lina sah sie groß an. Hatte Sarah zu lange gefeiert, zu viel getrunken? Sie wollte nicht direkt danach fragen, da fuhr die junge Frau fort: »Ich habe diese Kopfschmerzen öfter in letzter Zeit, und die sind so schlimm, da kann ich nicht arbeiten. Kellnern geht einfach nicht. Ich hab’s neulich versucht, aber Joey, mein Chef, hat gesagt, ich sähe aus wie ein Zombie und würde mich wie eine Schnecke mit Zahnweh bewegen; da hat er mich wieder nach Hause geschickt.«
Wider Willen musste Lina über die Schnecke mit Zahnweh lachen, doch im Grunde war die Situation nicht witzig. Work and travel funktionierte nur, wenn man auch arbeitete - war Sarah dabei, wegen ihrer Party-Kopfschmerzen ihren Job zu verspielen? Besorgt sah sie ihre Tochter an, die wirklich ausnehmend elend aussah: Wie schmerzgekrümmt sie da saß, und diese tiefen Ringe unter ihren Augen.
»Lina, echt jetzt, was hast du mit deinen Haaren gemacht?«, fragte Sarah da, erneut mit kritischem Blick auf den Beanie.
Unwillkürlich fuhr sie sich an ihre Mütze. »Nichts. Das heißt - die Haare sind weg.«
»Oh! - Das ist ja schrecklich! - Und was sagt er dazu?«
Sie räusperte sich hart. »Nichts.«
Sarah sah sie voller Unglaube an. Dann schien es ihr zu dämmern: »Wo bist du gerade - bei Estelle? Seit wann?«
Sie schluckte. »Ich bin nur für ein paar Tage bei Estelle. An sich wohne ich seit zweieinhalb Wochen am Ende der Welt. Im Finistère, in der Bretagne.«
Sarah riss die Augen auf. »Nein! Du hast es gemacht? Du hast es wirklich gemacht, du bist weg? - Das ist mega, das ist - wow, das hätte ich nie gedacht, dass du das schaffen würdest!«
»Ich habe es getan, ja«, bestätigte sie und verspürte selbst etwas zwischen Erstaunen und Stolz, zugleich aber Scham, abgrundtiefe Scham für die Jahre der Schwäche, der Ohnmacht, der Unfähigkeit. »Vielleicht hätte ich es nicht geschafft, wenn du nicht zuerst gegangen wärest«, gestand sie ihrer Tochter leise.
Die zeigte sich trotz der niederdrückenden Kopfschmerzen ganz aufgeregt und fragte eifrig: »Aber warum die Bretagne? - Weiß er, wo du bist?«
»Ein Studienfreund hat mir ein Quartier vermittelt - und nein. Dein Vater hat keine Ahnung. Das ist ja das Gute. «
Sarah griff sich an die Stirn, hinter der der Schmerz plötzlich noch heftiger pochte. »Er wird dich suchen. Der macht dir das Leben zur Hölle, wenn er dich findet.«
»Die Hölle war es doch schon«, versuchte sie zu scherzen, aber der Tonfall gelang nicht. Sie zog die Decke fester um sich und versicherte: »Da, wo ich mich begraben habe, wird er mich nicht finden. Ich habe kein Handy mehr, orten kann er mich nicht. Mach dir keine Sorgen um mich.«
»Mensch, deshalb hast du dich nicht mehr gemeldet? Kein Handy? Krass!! Aber wenn er käme, wie würdest du Hilfe rufen?«
»Er wird nicht kommen. Wie gesagt - er hat keine Ahnung davon, wo ich bin.«
Sarah biss sich auf die Lippen. »Pass bloß auf dich auf.«
Sie versprach es.
Nach dem Skypen ging Lina wieder ins warme Bett, konnte aber nicht wieder einschlafen. »Pass auf dich auf« - »der macht dir das Leben zur Hölle, wenn er dich findet«, hörte sie wieder und wieder Sarahs Stimme. Aber es waren ihre eigenen Gedanken, die Sarah laut ausgesprochen hatte. Die Gedanken, die sie jeden Tag zu verdrängen suchte. Trotzdem musste sie, Stunden später, beim Brunch mit ihrer Freundin endlich fragen: »Hat er nach mir gesucht?«
»He! Wir wollten nicht über ihn reden!«
»Ich muss es aber wissen! Hat er?«
Estelle seufzte. »Ich habe ihm gesagt, ich weiß nichts.«
»Er ist keiner, der locker lässt.«
»Stimmt; er hat es ein paar Mal versucht.«
»Er hat Psychoterror gemacht.« Es war keine Frage.
»Ich habe die Lage im Griff, das kannst du glauben«, grinste Estelle. Von dem Theater, das der Kotzbrocken bei ihr auf der Arbeit gemacht hatte, und von seinen Versuchen, ihr an der Haustür aufzulauern, sagte sie nichts.
Lina mochte sich ihren Teil denken, wagte es aber nicht, nachzuhaken. Nur wünschte sie sich - obwohl sie so froh darüber war, bei ihrer besten Freundin zu sein -, sie könnte sofort aus Paris abreisen und nicht erst am späten Nachmittag.
Yohann kam sich vor wie bei einem Rendezvous mit einer Kontaktanzeigen-Bekanntschaft. Er trug zwar keine rote Rose im Knopfloch, aber Annie Lobé hatte ankündigt, eine rote Bluse als Erkennungszeichen zu tragen. Tatsächlich erspähte er sofort den roten Fleck im Bistrot und ging schüchtern auf die fremde Frau zu.
Die erhob sich und streckte ihm, ganz maskulin, die Hand entgegen. »Monsieur de Kervigné?«
»Yohann Kervigné. Bonjour, Madame Lobé. Danke, dass Sie für mich Zeit haben.«
Sie setzten und beäugten sich. Lobé mochte Anfang vierzig sein. Sie war eine ganz attraktive Frau mit leicht zusammenwachsenden Augenbrauen, die Yohann an Frida Kahlo erinnerten.
Nun lehnte sie sich entspannt zurück und fragte: »Warum nennen Sie sich Kervigné, ohne >de<? Aus Bescheidenheit? Ich bin Journalistin und wissensdurstig; ich hoffe, Sie entschuldigen meine indiskrete Frage.«
»Mein Vater verzichtete auf seinen Titel; er hat ihn verkauft.«
»Verkauft?« Die Journalistin lachte ungläubig auf. »Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist! - Aber wir treffen uns ja aus einem anderen Grund. Der Linky. - Einen Kaffee?«
Sie bestellten Getränke und Yohann holte Kladde und Stift aus der Tasche, um sich Notizen zu machen.
»Eins vorneweg«, sagte Annie Lobé bedeutsam. »Ich arbeite als freie Wissenschaftsjournalistin und habe meinen Artikel zum Linky nicht im Auftrag von Stop Linky geschrieben. Er beruht auf intensiven Recherchen. Aber einzelne Stop Linky-Vereinigungen sind nach der Veröffentlichung auf mich zugekommen, und ich habe ihnen erlaubt, meinen Text als Info-Material zu verwenden. Hier sind ein paar ihrer Adressen; und hier ist der Artikel selbst.« Sie schob Yohann die Dokumente zu.
»Vielen Dank! Wie ist das mit Stop Linky, gibt es eine zentrale, landesweite Organisation?«
»Nein.«
Sie nahmen vom Kellner ihre Kaffees entgegen und Lobé wartete, bis der Mann sich wieder entfernt hatte. Dann fuhr sie fort: »Zumindest bisher gibt es nur regionale Einzelgruppen, die aber gut vernetzt sind. Sobald der Linky an einem Ort neu eingeführt wird, findet sich in der Regel bald jemand, der im Netz auf eine Stop Linky- Homepage stößt und Kontakt sucht.«
Yohann nickte. »Beim Recherchieren gewann ich den Eindruck, dass vorzugsweise kleine Kommunen mit dem Linky bedacht wurden, kaum große Städte, und das in ganz unterschiedlichen Regionen Frankreichs. Steckt dahinter ein Konzept?«
Die Journalistin nahm einen Schluck Kaffee und beugte sich verschwörerisch vor. »Das Leopardenfell-Prinzip. Stellen Sie sich die Landkarte Frankreichs vor und darauf möglichst gleichmäßig weit auseinanderliegende Punkte. Die Punkte stehen für die Orte, in denen der Linky installiert wurde, ohne große Erklärungen, möglichst ohne Wirbel.«
»Aber es hat doch Wirbel gegeben, wenn es Probleme mit dem Linky gab?«
»Ja; aber wer führt sofort den Brand eines Elektrogeräts auf den neuen Stromzähler zurück? Oder eine höhere Stromrechnung? Oder den Umstand, dass die Sicherung oft herausspringt? Oder Kopfschmerzen und Übelkeit? Und wenn jemand die Verbindung zwischen solchen Vorfällen und dem Linky doch herstellte und es kam in die Presse, dann war das die Regionalpresse. Bis zu den großen, landesweiten Medien drangen solche Fälle nicht vor. Als Einzelfälle und Unfälle eingestuft, kamen sie oft nicht einmal ausführlich in die Lokalmedien.«
»Und Sie meinen, das war Absicht - von Enedis - oder letztlich von der Regierung?«, fragte Yohann gespannt.
»Es sieht danach aus. Sonst hätte der Linky auf einen Schlag landesweit installiert werden können. Aber vor einem Frontmachen der Bevölkerung, einem Widerstand hatte man wohl Angst, und so entschied man sich für das Unterschieben - die allmähliche Einführung des Linkys nach dem Leopardenfell-Prinzip. Dessen Hintergedanke ist, dass die Punkte oder mit Linkys versorgten Orte sich nach und nach zu Landstrichen ausweiten, bis sie zuletzt zu ganz Frankreich zusammenwachsen.«
»Ich verstehe, bin aber doch erschüttert«, bekannte Yohann. »Dieses Verstohlene des Verfahrens, das hört sich geradezu unlauter an.«
»Man wünschte es sich anders«, stimmte die Journalistin zu.
»Aber es erklärt, warum nicht Paris die erste Stadt war, den Linky zu erhalten. Das ist in unserem zentralistischen Land geradezu unerhört«, spöttelte er.
»Das ist richtig. Die erste Großstadt, die in Sachen Linky >privilegiert< wurde, war Lyon. Dort wurde der Linky schon ab 2011 testweise eingeführt.«
»Aber niemand erfuhr etwas davon. Wir, die Franzosen, hatten keine Ahnung!«
»Nein; doch mittlerweile gibt es klare, und zwar negative Erfahrungswerte. Und eine Lücke im Plan der Linky-Verfechter: Auch wenn Enedis den staatlichen Auftrag erhalten hat, die alten Zähler durch Linkys zu ersetzen, gibt es kein Gesetz, das uns, die Verbraucher, dazu verpflichten würde, den Linky anzunehmen! Entgegen dem, was von den Firmen behauptet wird, die wiederum von Enedis mit der Installation der Linkys beauftragt werden, existiert kein staatliches und auch kein europäisches Zwangsinstrument, das einen zum Jasagen zwingen könnte.«
»Davon bin ich ausgegangen; aber ist das wirklich sicher?«, musste Yohann sich vergewissern.
»Absolut.«
»Und wenn sie das Gesetz ändern?«
»Möglich. Aber noch ist es nicht der Fall.«
»Ich glaube, auch wenn es ein neues Gesetz gäbe, könnte ich das nicht stillschweigend hinnehmen«, sagte Yohann langsam.
Sie sahen sich einvernehmlich in die Augen.
»Gut«, er beugte sich über sein Notizblatt. »Bevor ich Sie speziell zu Stop Linky ausfrage, verraten Sie mir bitte eines: Denken auch Sie, dass mit einem Datenmissbrauch zu rechnen ist?«
»Hinter dem Linky stehen sicherlich mehr wirtschaftliche als umweltfreundliche Interessen«, nickte die Journalistin finster.
Zur gleichen Zeit, über fünfhundert Kilometer westlich von Paris, in Châteauneuf-du-Faou. Eben war Julien mit einem Auftrag erfolgreich fertig geworden und schloss seine Werkzeugtasche. Dabei versuchte er, die unglücklichen Blicke der alten Leute zu ignorieren. Warum musste er immer zu den Alten, die sich am schlechtesten wehren konnten? Das war gut für den Geldbeutel, aber schlecht für das Gewissen. Er biss die Zähne zusammen. Bezahlt wurde für jeden ausgewechselten Zähler. Er brauchte das Geld.
»So, jetzt besteht kein Risiko mehr, dass man Ihnen den Strom abdrehen kann«, versicherte er. In Wahrheit zweifelte er ohnehin daran, dass man Leuten den Strom abdrehen konnte, nur weil sie nein zum Linky sagten. Er war jedoch dazu angeleitet worden, diese Drohung zu verwenden.
»Junger Mann, seit drei Wochen sind wir durch Anrufe Ihrer Firma belästigt worden und haben uns nur deshalb dazu breitschlagen lassen, dieses Gerät anzunehmen, weil wir diese Telefonate nicht mehr ertragen konnten; und jetzt können wir nicht einmal mehr den Zählerstand ablesen?«, rebellierte der alte Monsieur Chevance nun doch.
»Das geht schon; man muss sich den Zählerstand anzeigen lassen«, erklärte Julien.
»Ja, wie denn?«
Er klappte die Front des Linkys auf. »Sehen Sie diese Tasten? Hier haben Sie den Punkt Menü; hier können Sie sich mit Links- oder Rechtsdruck durchklicken.«
Die Chevances sahen sich erschrocken an.
»Wir kennen uns mit so etwas nicht aus«, sagte die alte Dame entschuldigend.
»Es ist etwas kompliziert, aber Sie erhalten in ein paar Tagen per Post eine Gebrauchsanleitung.«
»Warum in ein paar Tagen, warum haben Sie keine mitgebracht?«, fragte Monsieur Chevance misstrauisch, und seine Frau piepte: »Der alte Zähler war gar nicht kaputt und ganz leicht zu verstehen!«
»Ist das Ding hier defekt? Da fehlt ein Teil«, entrüstete sich nun der Alte.
Julien zwang sich zur Geduld. Er musste es möglichst einfach erklären. »Diese Aussparung im Inneren des Linkys ist normal. In einiger Zeit werden Sie ein Gerät erhalten, das genau da reinpasst.«
»Noch ein Gerät? Wozu denn?«
Langsam nervte der alte Mann. Andererseits - was wunderte er sich? Julien antwortete: »Das Gerät verbindet sich mit Ihrem Smartphone, und dann können Sie, zum Beispiel wenn Sie auf Reisen sind, die Temperatur Ihrer Heizung oder Ihres Kühlschranks verändern. Sie können abends Ihre Fensterläden schließen und sie morgens wieder aufmachen, alles aus der Entfernung. Oder Sie finden raus, was Sie noch im Kühlschrank haben und was Sie sich bestellen müssen, über Internet, dann wird es sofort geliefert.«
»Aber das brauchen wir nicht«, sagte die alte Frau zaghaft.
»Das ist die Technologie von morgen«, Julien zuckte mit den Achseln. »Sie müssen sie nicht benutzen.« Er zwang sich zu einem Lächeln und ging. Aber er hasste es, Leuten etwas anzudrehen oder eher aufzuzwingen, das sie nicht wollten. Und die Sache mit dem Hausbrand bei dem alten Ehepaar in Spézet bereitete ihm noch immer schlaflose Nächte. Nur, daran durfte er nicht denken. Sonst würde er alles hinschmeißen - und was dann?