Читать книгу Im Westen gegen den Strom - Natascha N. Hoefer - Страница 11

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5. Auf dem Mond

Um zwölf Uhr verließ Yohann die Mairie; am Nachmittag würde Lucie, die Sekretärin, ihn ablösen. Pierric war schon vor ihm in die Mittagspause gegangen, er hatte noch Unterricht am Lycée Paul Sérusier in Carhaix. Er hatte sich heftig darüber aufgeregt, dass die Schüler am Karfreitag sowieso keine Lust mehr auf Schule hätten; und wenn Pierric sich aufregte ... Schmunzelnd bei dem Gedanken an die kleine Abschiedsszene schlenderte Yohann die Hauptstraße herunter. Er pflegte jeden Mittag seine Baguette in Elaines Laden zu holen. In Saint-Hernin gab es keine Bäckerei, aber die kleine Épicerie diente als Brot-Depot. So konnte man ziemlich sicher sein, vor einer der drei Mahlzeiten jemand anderem aus dem Dorf beim Brotkauf zu begegnen.

»Ah, da kommt er«, sagte im Ladeninneren Elaine, die Yohann durch das Schaufenster hindurch erspäht hatte.

Lina sah ihn auch. Sie tauschte mit der alten Dame, die ihr vorhin stolz unterbreitet hatte, seit sechsundfünfzig Jahren die Épicerie zu führen, einen verschwörerischen Blick; noch eben hatten sie über ihn gesprochen. Das Glöckchen an der Tür klingelte; Yohann sah Lina, blieb verblüfft stehen, lächelte, ging aber nicht auf sie zu, sondern zu den Brotregalen.

»Sehen Sie? Er ist schüchtern, wie ich gesagt habe«, flüsterte Elaine.

Lina sah zu Boden. Sie wollte nicht, dass Yohann mitbekam, dass sie über ihn tuschelten.

Nun kam er und machte eine kleine, höfliche Verbeugung. »Guten Tag«, grüßte er, »haben Sie gut schlafen können in der ungewohnten Umgebung?«

»So ist er, immer besorgt um die anderen«, nickte Elaine, als stünde Yohann nicht direkt vor ihr.

Er wurde rot. »Elaine, jetzt ist es aber gut! Lina, Sie dürfen nicht auf alles hören, was man Ihnen hier so erzählt.«

»Er meint, über sich, weil es nur Gutes ist«, erklärte Elaine unbeirrt.

»Gut, ich gehe«, entschied Yohann und legte das Geld für seine Baguette auf den Tresen.

»Ich wollte auch gerade gehen«, beeilte Lina sich zu sagen und hob ihre große Tüte auf. Sie hatte sich etwas Gutes für das lange Wochenende kaufen wollen und war immer noch erschrocken darüber, wie viel Geld sie ausgegeben hatte. In diesem kleinen Laden gab es lauter feine, qualitativ hochwertige Sachen, viele Bioprodukte. Das war schön; nur würde sie es sich auf Dauer nicht leisten können, davon zu leben. Im nahen Carhaix würde es natürlich Supermärkte geben - aber ohne Fahrzeug war Carhaix gar nicht so nah. Sie traten auf den sonnigen Bürgersteig, und Lina fragte Yohann schnell, bevor er davoneilen würde: »Pardon, aber - gibt es Busse von hier nach Carhaix?«

Er blieb stehen. »Aber ja. Allerdings fahren sie nicht sehr häufig, daher ...« Er verstummte; er sollte ihr lieber kein Fahrzeug versprechen, bevor er es nicht gefunden hatte.

Hm. Besonders hilfreich war das nicht. »Ich habe gehört, dass Sie in der Mairie arbeiten, mit Pierre«, sagte sie, als sie die Verlegenheit ihres Gegenübers bemerkte, jedoch nicht recht begriff.

Yohann sah sie kurz an. Sie hatte »mit Pierre« gesagt, nicht »für Pierre«. Er lächelte und antwortete: »Ja, dort arbeite ich. In der Mairie finden Sie übrigens alles Mögliche - von Busfahrplänen bis zu gelben Säcken und von Wanderkarten der Gegend bis hin zu Büchern und Filmen, die Sie ausleihen können. Heute Nachmittag ist die Mairie ab zwei Uhr wieder geöffnet; ansonsten erst wieder Dienstag, nach Ostern. Kommen Sie ruhig vorbei, wenn Sie Fragen haben!« Er sah, wie schwer ihre Tüte war, und griff unversehens danach. Als ihre Finger sich flüchtig begegneten, ließ sie die Tüte schnell los.

Auch er war leicht zusammen- und von ihr weggezuckt. »Ich begleite Sie die paar Schritte, wenn Sie wollen«, schlug er dann vor, als ob nichts wäre.

»Sie müssen meine Tüte nicht tragen«, protestierte sie.

»Ich tue es gerne«, gab er zurück.

Das passte ja so sehr zu allem, was sie von ihm gehört hatte! Als er sich zu ihr umwandte und ihren Blick fragend erwiderte, hob sie schnell an: »Warum nennen alle hier Pierre >Pierric<? Ist das ein Spitzname?«

»Pierric ist die bretonische Verkleinerungsform. Sie wird als Kosename benutzt, oder in diesem Fall als Freundschaftsname.«

»Dann ist Pierre wohl sehr beliebt?«

»Oh ja. Jeder kennt Pierric, und er kennt Gott und die Welt.«

Sie widersprach nicht. Dabei hatte die alte Dame in der Épicerie gesagt, dass eigentlich Yohann alle Welt kenne und dass ohne ihn gar nichts laufen würde im Dorf.

Schnell waren sie am Gartentor des Häuschens angelangt. »Wollen Sie reinkommen, etwas trinken?«, lud Lina ihren Begleiter zögernd ein.

»Aber nein, ich habe gar keine Zeit. Das heißt -« Sollte er sie doch noch auf den Linky ansprechen? Er ließ sich von ihr die Tüte abnehmen, und als sie ihn abermals einlud, begleitete er sie in den Garten, wo er auf sie warten wolle, sagte er. Die Sonne sei so schön.

Während sie also mit ihren Lebensmitteln im Haus verschwand, schlenderte er in die anheimelnde Ecke mit der Gartenbank und roch an der einen, schon voll erblühen Rose, die einen zarten Duft verströmte, der sich mit dem herberen des üppig blühenden Stechginsters daneben vermischte. Er setzte sich auf die Bank, lehnte sich zurück und lauschte dem Frühlingsgezwitscher der Vögel. Laut gurrten zwei Tauben vom Dach. Er schloss die Augen und wandte das Gesicht der warmen Sonne zu.

So fand ihn Lina, als sie mit zwei Gläsern zurückkam. »Es ist nur Orangensaft, ich habe keinen anderen Aperitif anzubieten«, entschuldigte sie sich.

»Orangensaft ist gerade richtig, danke!« Er nahm das Glas entgegen, darauf bedacht, sie nicht noch einmal versehentlich zu berühren wie vorhin.

Sie setzte sich und sah ihn aufmerksam an. Unwillkürlich rückte er ein kleines Stück weg von ihr, wobei er so tat, als wolle er mehr in den Schatten. »Blendet ganz schön«, murmelte er, ehe er etwas abrupt fragte: »Sie haben mir gestern erzählt, in Paris sei Ihr Stromzähler ausgetauscht worden?«

Sie verschluckte sich fast und sah auf ihre Knie. Warum musste er damit anfangen? Sie wollte nicht über Paris sprechen!

»Und - wie war das mit dem Linky? Nachdem er installiert worden war, gab es da Auffälligkeiten? Schwierigkeiten?«, hakte er jetzt auch noch nach.

»Aber nein, wieso denn?«, fragte sie abweisend.

Was hatte sie plötzlich, fragte er sich, erklärte ihr aber: »Vorgestern war ein alter Herr bei mir in der Mairie; Simon hatte die Benachrichtigung erhalten, sein Stromzähler solle gegen einen digitalen Linky ausgetauscht werden.«

Entnervt fragte sie: »Und der Linky ist ein Problem für den alten Herrn?«

Er sah sie ernst an. Dann betonte er: »Es könnte sein, der Linky ist ein Problem für uns alle.«


Zu dieser Zeit in Edern, vierzig Kilometer von Saint-Hernin entfernt, stiegen zwei Männer in gelben Overalls in einen Lieferwagen.

»Hast du gesehen, wie einfach es war?«, fragte der Ältere, der sich ans Steuer setzte.

»Es war okay«, nickte der Jüngere, der mit den Dreadlocks.

»Die haben doch nur Panik gemacht in der Firma«, meinte der Ältere verächtlich, »und dafür dieser ganze Kursus von wegen was ihr machen müsst, wenn die nicht wollen, und so weiter .«

Der jüngere Mann sah nicht überzeugt aus. »Das waren Engländer«, gab er zu bedenken, »und es war nur ihr Ferienhaus.«

»Die vorher waren alle von hier, und gab es Probleme?« Der Ältere startete.

Der Jüngere sah beim Vorbeifahren auf das Haus, in dem sie eben den Zähler ausgetauscht hatten. Ihm war nicht wohl bei der Sache; vor allem nicht seit dem, was am Vortag passiert war. Das bereitete ihm echte Bauchschmerzen. »Hör mal, Michel, hast du etwas von dem Feuer gehört, gestern in Spézet?«

Michel schüttelte den Kopf.

»Echt nicht? Ich - ich fürchte, das war das Haus, in dem wir am Morgen einen Linky installiert hatten. Weißt du noch? Das Stromnetz war weit entfernt von den neuen Standards.«

Michel starrte ihn an. Dann zog er mit geübter Geste seinen silbernen Taschenkamm aus der Hemdtasche und sich damit zweimal durch das schütter werdende Haar, an jeder Schläfe vom Haaransatz nach hinten zurück.

»Wie kannst du dich ruhig frisieren, nach dem, was ich dir eben gesagt habe?«, platzte es aus dem jungen Mann heraus.

»Kämmen täte dir auch mal gut, Julien, weißt du«, grinste Michel. »Aber was Leute mit veralteten Stromleitungen betrifft - selbst schuld. Wo müssen wir als nächstes hin?«

»Selbst schuld? Hast du nicht gehört? Das Haus von den alten Leuten ist abgebrannt!«

»Hatte mit uns nichts zu tun.« Michel schüttelte entschieden den Kopf.

»Der neue Linky und das alte Stromnetz - Mensch, Michel, was ist, wenn es doch an uns lag?«

»Unmöglich. Die Dinger sind sicher.«

»Was, wenn nicht?«

»Julien. Wer ist hier der echte Elektriker, he?«

Julien rollte die Augen.

»Sag schon, wer ist hier der echte Elektriker?«

»Du bist Elektriker, Michel, okay, aber ...«

»Und wer hat nur den Schnellkurs zum Austauschmonteur gemacht, he, wer?«

»Ach, halt doch den Rand«, Julien schaute weg.

Michel lachte. »Nichts für Ungut, Kleiner. Du denkst zu viel. Kann ja sein, dass es in Spézet gebrannt hat. Das hat aber garantiert nichts mit uns zu tun.«

Julien gab keine Antwort.

»Hey«, Michel boxte ihn gegen die Schulter. »Siehs mal so. Das hier ist ein Start für dich. Auf jeden Fall gibts Knete.«

Julien antwortete noch immer nicht und starrte aus dem Wagenfenster.

»Also, wo müssen wir hin?«, wiederholte Michel seine Frage.

Widerwillig und langsam zog Julien seine Liste hervor.


»Und diese Meuniers meinten, der Linky wäre die Brandursache gewesen?«, wiederholte Lina zweifelnd.

Yohann versicherte: »Ja! Und wissen Sie, in anderen Regionen Frankreichs erschienen in verschiedenen Zeitungen auch schon Berichte zu Brandfällen in Häusern, in denen ein Linky installiert worden war. Kann das Zufall sein? Und das ist nicht das einzige, das mir Sorgen bereitet. Es könnte sein, dass der Linky weitere Nebenwirkung hat, wie höhere Kosten, den Verlust unserer Intimsphäre, Krebsrisiko.«

Lina starrte ihn von der Seite an. »Glauben Sie das?« Sie kniff die Augen zusammen. »Davon müssten wir längst etwas wissen.«

»Man kann es ja erfahren, via Internet.«

»Aber Sie wissen doch, wie das ist, jeder Idiot kann irgendwelchen Quatsch ins Netz setzen .«

»Es wären immerhin Idioten aus den USA, Großbritannien, Österreich, Italien und Frankreich - nur um einige Beispiele für Länder zu nennen, in denen digitale Stromzähler bereits laufen.«

Lina schüttelte den Kopf. Was er da sagte, regte sie auf, und sie hatte wirklich in der letzten Zeit, und genauer seit acht Jahren, genug Aufregung gehabt! Daher rief sie scharf abwehrend aus: »Das ist Panikmache, das ist ausgedacht!«

»Aber warum sollte jemand das tun?«, ereiferte auch er sich, verletzt durch ihren Tonfall.

»Um sich wichtig zu machen?« Sie sah ihn herausfordernd an.

»Warum damit?«

»Um Aufmerksamkeit zu bekommen?«

»Da gäbe es bessere Mittel!«

»So? So einfallsreich sind die Leute nicht! Lesen Sie keine Posts auf Facebook? Aber nein, Sie sind nicht auf Facebook, stimmt's?«

»Nein, kein Facebook.«

»Twitter?«

»Ich heiße nicht Trump.«

»Whats app?«

»Auch nicht, und?«

Sie sahen sich fest in die Augen. Ihre Gesichter waren sich beim Schlagabtausch unmerklich näher gekommen. Yohann war der erste, der sich zurückzog. »Ich lebe nicht auf dem Mond, wenn Sie das meinen. Zugegeben, Saint-Hernin ist manchmal wie der Mond, doch im positiven Sinne. Vermutlich verstehen Sie das nicht; aber sollten Sie länger hierbleiben«, er machte eine fragende Pause, die Lina nicht füllte, »sollten Sie länger hierbleiben, dann würden Sie erkennen, dass die Menschen hier durchaus mit der Zeit gehen, aber dass manches erfrischend langsamer oder provinzieller ist, wie Sie wohl sagen würden.«

Sie wurde rot. Das Wort »provinziell« hatte sie sich natürlich gedacht, ihm gegenüber aber nie fallen lassen. »Ich wollte Ihr Dorf und Ihre Lebensweise nicht angreifen«, versicherte sie, »aber wenn hier der Linky eingeführt werden soll, werden Sie das nicht aufhalten können.«

Etwas blitzte in seinen Augen. »Sie wissen nicht, wozu Bretonen fähig sind.« Er trank seinen Orangensaft auf einen Zug aus, reichte ihr das Glas, verbeugte sich und ging.

Amüsiert sah sie ihm nach. Amüsiert und nachdenklich. Sie hatte wieder Pierres Stimme im Ohr. Er hatte sie zu sich zum Essen eingeladen, gestern Abend; sie hatten einigen Rotwein getrunken und dabei ein langes Gespräch geführt. Es war ihr gelungen, seine Fragen nach den Gründen ihres Hierseins weitgehend abzublocken; dafür hatten sie viel von der gemeinsamen Vergangenheit gesprochen, ehe er ausführlich sein jetziges Leben und seine Tätigkeiten als Bürgermeister von Saint-Hernin beschrieben hatte. So waren sie auch auf seinen Stellvertreter gekommen - den »ewigen Helfer«, den »letzten der drei Musketiere«, den »hochintelligenten, sensiblen, einfallsreichen« und »übrigens stockschwulen« Yohann. - Es hatte ihr nicht gefallen, wie abfällig Pierre das Letzte gesagt hatte.

»Lina?«

Sie schreckte zusammen. Da war er schon wieder!

Vom Gartentörchen rief er ihr zu: »Ich habe vergessen zu sagen, dass Pierric ein Fahrzeug für Sie auftreiben wird. Damit Sie hier nicht festhängen.«

Ein Fahrzeug? »Ich - wieso - danke; aber ich habe um kein Fahrzeug gebeten«, wehrte sie erschrocken ab. Was sollte das jetzt? Über die Miete für das Häuschen hinaus konnte sie sich keinesfalls eine Mietgebühr für ein Fahrzeug leisten!

»Es wird allerdings nichts Grandioses sein«, meinte Yohann, um keine falschen Erwartungen zu wecken, »die Leute hier sind sehr hilfsbereit, aber nicht unbedingt wohlhabend; dementsprechend wird sich vielleicht ein klappriges Auto oder ein altersschwacher Roller auftreiben lassen. Und das sicherlich erst nach den Feiertagen. - Sind Sie versorgt über Ostern? Möchten Sie an einem der Feiertage irgendwo hin?«

»Nein - nein, danke«, stammelte sie.

»Dann bis bald«, er lächelte und ging diesmal wirklich.

Bis bald! - Nein danke!! Er hatte es sicherlich gut gemeint, aber ... Es war schon unangenehm, überaus unangenehm, Pierre ihre Unterkunft zu verdanken; sie hatte eben keinen anderen Ausweg gesehen. Doch darüber hinaus wollte sie weder Pierre, noch Yohann, noch sonst jemandem irgendetwas schuldig sein - und erst recht nicht über ihren Kopf hinweg zu Ausgaben gezwungen werden, die schlichtweg unmöglich für sie waren! Sie wollte keine aufgedrängte Hilfe, und diese Art von Hilfe, die in Wahrheit keine war, schon gar nicht!

Den ganzen Tag über verfolgte sie dieser Gedanke - wie sie nicht die Ruhe finden würde, die sie so dringend brauchte; wie sich andere anmaßen würden, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Sie versuchte, sich nicht in diese Befürchtungen hineinzusteigern, doch sie ließen sie nicht los; auch in den nächsten Tagen nicht. Nach Ostern wusste sie, sie musste etwas unternehmen.

Im Westen gegen den Strom

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