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III.

Mathilda hatte Stress: Sie hatte immer Stress, was sie jedes Mal, wenn man ihr begegnete, lautstark kundtat: „Wenn ihr wüsstet, was ich gestern alles getan habe, dann würdet ihr mit den Ohren schlackern. Ihr könnt mir glauben, dass ihr froh sein könnt, dass ich das alles mache, und heute erst wieder…! Gleich habe ich noch ein Gespräch und dann… – Ach, ich muss weiter.“

So war sie eigentlich immer: laut, nervend und nach Aufmerksamkeit heischend. Und je nachdem, in welcher Verfassung sie gerade war, gab es entweder einen kurzen Hinweis, wie viel sie wieder zu tun habe, oder ihr Vortrag dauerte bedeutend länger; war sie besonders durcheinander, dann konnte ihr Bericht auch zehn Minuten in Anspruch nehmen. Verwunderlich war, dass sie überhaupt Zeit hatte für ihren Stressbericht. Sich als unheimlich wichtiges Element der OGS darzustellen, gehörte aber zum Programm ihrer Selbstdarstellung. Diese kam zwar bei Außenstehenden nicht besonders gut an, was sie jedoch nicht bemerkte und sich auch nicht vorstellen konnte.

Es kam gar nicht so selten vor, dass Eltern Gregor vorsichtig ansprachen, was denn mit Mathilda sei. Sie könnten sich vorstellen, dass der Gedanke ihn erleichtere, sie nach einem Jahr wieder los zu sein.

Gregor war zwar Diplomat, musste hier aber dennoch jeweils zustimmen.

Mathildas Übereifer und ihr unangemessenes Repräsentationsverhalten in Verbindung mit Revierverteidigung, „Hier bestimme ich!“, wurde also durchaus registriert, aber richtigen Schaden richtete sie nicht an. Sie war für die Eltern lediglich eine aufdringliche Person. Diejenigen allerdings, die täglich mit ihr umgehen mussten, hatten schnell von ihr genug, ausgenommen natürlich das ihr ergebene Mitarbeiterinnenteam, das dem Stockholm-Syndrom erlegen war – das Team war von der Chefin sorgfältig zusammengestellt worden.

Gregor war mittlerweile zur Auffassung gelangt, dass Mathildas Pädagogik mindestens vom Üblichen abwich. Ihr ständiges Geschwätz von ihrer Einrichtung, in der die Kinder gefördert würden, in der alle an einem Strang zögen, weil es nur gemeinsam ginge, da niemand ohne die anderen könne und so weiter, sorgte dann beim Zuhörer, der aufgrund ihres umfangreichen Geschwurbels viel Zeit hatte, sich Dinge vorzustellen, für schlimme Gedanken: So zogen schnell Bilder auf, wie alle Kinder gemeinsam an dem Strang zogen, der dafür sorgte, dass Mathilda verstummte.

Wahrscheinlich meinte sie einen solchen Strang jedoch nicht. Assoziationen dieser Art waren aber unvermeidlich, wenn jemand dermaßen schwurbelte und nicht aufhörte.

Ein Beispiel dafür, dass Mathildas Pädagogik anders war, waren die bereits erwähnten Arbeitsgemeinschaften. Da es sehr viele von ihnen gab, waren viele Schüler unzufrieden, weil sie kaum noch Zeit hatten, alleine zu spielen. Diese Unzufriedenheit drückte sich so aus, dass Kinder sich versteckten, wurden sie zu ihrer Arbeitsgemeinschaft gerufen. Diese Frevler mussten dann durch autoritären Auftritt gezwungen werden, ihren Termin wahrzunehmen – die Chefin war hier jeweils ganz besonders eifrig bei der Sache, verließ tatsächlich ihr Büro.

Das ungebührliche Verhalten der Kinder war aber auch eine Frechheit!

Es stand in Bezug auf Mathildas Lernumgebung schon die Frage im Raum, weshalb sie die Kinder, die kein Interesse an organisiertem Programm hatten, nicht einfach spielen ließ, weshalb sie ihnen in ihrer Freizeit beständig Dinge aufzwang, die ihnen ganz offensichtlich gegen den Strich gingen, bedachte man, dass sie sich versteckten!, stand der nächste Programmpunkt auf der Tagesordnung. Warum ließ die Erste Pädagogin sie nicht einfach das tun, was sie wollten? Warum ließ sie sie nicht einfach spielen? Wurde hier nicht bereits durch beständig erzeugten überflüssigen Druck früh der Keim gelegt für Burnout und Depression?

Gregor begleitete neuerdings die Handball-Arbeitsgemeinschaft, die von Johannes, einem 20-Jährigen vom örtlichen Handballverein, durchgeführt wurde. An dieser nahmen (genauer, mussten) Kinder teil(nehmen), die an keiner AG hatten teilnehmen wollen und sich daher auch für keine entschieden hatten, als es darum gegangen war, Angebote auszuwählen. Da aufgrund dessen irgendwann alle anderen Arbeitsgemeinschaften voll gewesen waren – Handball schien nicht so attraktiv zu sein – hatte Mathilda die Nachzügler in der Handball-AG untergebracht, damit ihnen wenigstens etwas Programm zuteilwurde.

Gregor hatte nun die unangenehme Aufgabe, die Teilnehmer zur Sporthalle zu zwingen, stand das Sportereignis an. Da nur wenige Kinder freiwillig teilnahmen, versteckten sich jeweils viele, sollte es losgehen. Es war Gregor sehr unangenehm, sah er Kinder vertieft in ihr Spiel sitzen, sie aus ihrer behaglichen Konzentration zu reißen, indem er ankündigte, dass es Zeit sei, zum Handball zu gehen. Deshalb ließ er die daraufhin einsetzende Flucht zu, beließ diejenigen, die sich bereits vorsorglich versteckt hatten, in ihren Verstecken und ging mit denjenigen zum Handball, die Lust hatten.

Mathilda allerdings war mit diesem Vorgehen in keinster Weise einverstanden: Bekam sie mit, dass der unverschämte Auszubildende nicht alle Kinder mitgenommen hatte, schickte sie Anja los, die dann die Fahnenflüchtigen einsammelte und zur Sporthalle beförderte, wo sie sie wutschnaubend ablieferte.

Gregor wurde selbstverständlich im Anschluss jeweils von Mathilda durchaus heftig angegangen, was er aber gerne in Kauf nahm und schulterzuckend abtat: Mathilda war auf ihrem Holzweg festgenagelt.

Die Handball-AG, die jeweils bis zu Anjas Ankunft als solche bezeichnet werden konnte, wurde durch die lustlosen Neuankömmlinge erheblich gestört: Es gab Rangeleien, Kinder weinten und alle liefen mehr oder weniger durcheinander – der Frust über den Zwang machte sich Luft.

Der junge Handballlehrer suchte die Schuld für das Chaos bei sich und machte oftmals einen geknickten Eindruck. Er verstand nicht, weshalb die Gruppe, die er im regulären Handballverein betreute, gut funktionierte und seine OGS-Gruppe nicht: Er kannte die Lernumgebung nicht.

Gregor baute ihn wieder auf und verdeutlichte ihm, dass das Chaos nicht auf ihn zurückzuführen war, sondern auf Mathildas Pädagogik, bei der die Realität einer erdachten Wirklichkeit hatte weichen müssen.

Kinder, die freiwillig in einen Handballverein eintraten, hatten Interesse an diesem Sport. Kinder, die zum Handball gezwungen wurden, konnten sich mit ihm nicht anfreunden

Die Pädagogik der Lernumgebung ließ keinen Raum für Eigenes und Kreativität. Kinder, die nicht für geregelte Aktivität außerhalb der Schule zu begeistern waren, wurden in ihr gegängelt, ihr Wollen wurde beschnitten; Mathilda machte diesen Kindern deutlich, dass ihre Bedürfnisse nicht erwünscht waren und steuerte sie fern. Auf diese Weise erreichte sie das Gegenteil von Selbstständigkeit, die ihr eigentlich ein Anliegen war: Statt die Kinder spielen zu lassen, wobei sie mit Sicherheit mehr gelernt hätten, selbstständiger geworden wären, als durch Zwangsaktionen, wurde verquere Pädagogik ausgelebt – und das auch bei Folgendem: Neben dem Schulgelände befand sich ein Bolzplatz, auf dem vor allem viele Jungen sehr gerne spielen wollten – Gregor wurde täglich fast bekniet, sie doch dorthin zu lassen. Er konnte diesem verständlichen Wunsch aber leider nicht nachkommen, da Mathilda verboten hatte, den Platz zu benutzen – sie hätte die Kinder unmittelbar zurückbeordert, so das ziviler Ungehorsam hier zwecklos gewesen wäre.

Das Verbot hatte den Hintergrund, dass die Chefin einen Raum für Bewegung im Innenbereich der Lernumgebung eingerichtet hatte, den sie als Raum für Lernen und Bewegung – Bewegungslandschaft im Profil der OGS anpries. In diesem Raum sollten die Kinder ihren Bewegungsdrang ausleben – weshalb Mathilda zwischen Lernen und Bewegung unterschied, wurde allerdings nicht deutlich – vermutlich meinte sie jedoch Lernen durch Bewegung.

Statt die Jungen Fußball spielen zu lassen, zwang sie sie in die Bewegungslandschaft, in der meistens ein Lärmpegel herrschte, der im Grunde unerträglich war.

In dieser Landschaft gab es eine ein Meter breite Sprossenwand, Schaumstoffbausteine, ein kleines Trampolin und einen Kickertisch, der möglicherweise als Ersatz für den Bolzplatz diente. Aus den Schaumstoffbausteinen konnten die Kinder Buden bauen – Bewegung durch Arbeit war hier vielleicht das Konzept. Außerdem konnten die Bausteine auch prima geworfen werden. Unglückliche Treffer hatten weinende Kinder zur Folge – verständlich, dass niemand auf den Bolzplatz durfte.

Es zeigte sich, dass Bewegung in einem Zimmer mit circa fünfunddreißig Quadratmetern nicht die beste Idee war. Aber die Bewegungslandschaft war eben Teil der modernen Pädagogik der Lernumgebung; wer Fortschritt suchte, fand ihn hier.

Es war nun einmal so, dass ein Bolzplatz ein Relikt aus vergangenen Tagen war, auf dem Verrohung der Sitten stattgefunden hatte, weil hier Kinder ohne Anleitung durch echte Pädagogen alleine hatten zurechtkommen müssen. Sicherlich gab es auch noch die Ansicht, dass Kinder durch selbstständiges Spielen durchaus eine Menge lernten, aber diese Fehleinschätzung war in der Lernumgebung längst korrigiert worden. Daher verzichtete man auch selbstlos auf die Ruhe, die innerhalb der Einrichtung eingetreten wäre, hätte man die Kinder auf den Bolzplatz gelassen. Lediglich auf dem asphaltierten Schulhof, also auf der äußeren Lernumgebung, war es gestattet, mit einem leichten Plastikball Fußball zu spielen, weil ein richtiger Fußball die Fensterscheiben von OGS und Schule gefährdet hätte.

So war die Lernumgebung.

Wie es schon Nietzsche ausgedrückt hatte, war die Unvernünftigkeit einer Sache kein Argument gegen ihre Existenz, sondern eher die Voraussetzung dafür.

Es ließ sich nicht vermeiden, dass Gregor mehr und mehr eine latente oppositionelle Haltung gegenüber der Pädagogik der Lernumgebung entwickelte, was Mathilda spürte. Daher traute sie ihm immer weniger über den Weg und versuchte seine Aufgabenbereiche zu beschneiden, um eine verbesserte Kontrolle über die Gesamtsituation zu erhalten: Die Chefin wollte Gregor seines Amtes der Leitung seiner Hausaufgabengruppe entheben, die er seit Kurzem betreute. Ihr Vorhaben stieß allerdings bei Anna, der Klassenlehrerin der Kinder seiner Hausaufgabengruppe, auf wenig Gegenliebe: Sie war zufrieden mit Gregors Arbeit und der Ansicht, ihre Kinder bräuchten Kontinuität und nicht ständigen Personalwechsel. Anna lobte die gute Kommunikation mit Gregor in allen Bereichen. Vor diesem Hintergrund geriet Mathilda in Erklärungsnot, und so schwurbelte sie, dass sie vorgehabt habe, einer jüngeren Kollegin die Möglichkeit zu geben, Erfahrungen zu sammeln; Gregor jedenfalls durfte seine Hausaufgabengruppe behalten.

Für Mathilda war es schwer verständlich, dass Anna mit Gregors Arbeit einverstanden war. Alles das, was zwischen Gregor und ihr nicht funktionierte, vernünftige Kommunikation, Absprachen, die auch eingehalten wurden, funktionierte zwischen Gregor und Anna. Woran das wohl liegen konnte? Gregor half Mathilda nicht auf die Sprünge.

Der Auszubildende

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