Читать книгу Der Auszubildende - Neil Nilas Grün - Страница 7

Оглавление

Der Beginn

I.

Es begann an einem Wintertag. Der Wecker riss ihn aus dem Schlaf, und er wusste nicht, ob es ein Traum war oder doch Realität; er benötigte einen Moment, um sich zu orientieren. Es war früh am Morgen, und ohne Wecker hätte er gut und gerne noch drei Stunden geschlafen, wie er vermutete. Draußen war es dunkel. Es dämmerte ihm, dass er nicht geträumt hatte: Es war tatsächlich wahr, er, Gregor Burscheidt, war Auszubildender, es fiel ihm wieder ein. Er hatte sich für die Ausbildung entschieden, er wollte Fachkraft werden.

Seit mehr als zwei Jahren arbeitete Gregor mit Kindern in der Nachmittagsbetreuung der Büldendorfer Grundschule, genannt Ganztagsbetreuung beziehungsweise Offene Ganztagsschule, abgekürzt OGS genannt.

Die Bundesregierung war bestrebt, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen im arbeitsfähigen Alter, das ständig anstieg, die Gelegenheit erhielten, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Dies hatte dazu geführt, dass so viele Menschen in Deutschland arbeiteten wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Diese Menschen allerdings teilten ein seit langer Zeit gleichbleibendes Gehältervolumen unter sich auf, so dass der Einzelne in vielen Fällen weniger verdiente, als er dies in der Vergangenheit getan hätte: Das schien der Zeitgeist zu sein. Deshalb war es für Gregor ein Leichtes gewesen, die Stelle in der Ganztagsbetreuung zu erhalten, die ja notwendig war, da alle für halbes Geld arbeiteten und niemand mehr Zeit für die Kinder hatte.

Die DDR wurde zu Recht als Unrechtsstaat gegeißelt, das Prinzip der Erwerbstätigkeit aller Erwachsenen jedoch war so attraktiv, dass es übernommen worden war: Man musste sich nur vorstellen, was alles entstehen könnte, wenn das Volk Zeit zum Nachdenken und Zeit für Muße hätte. Insofern war es besser, dass das Volk beschäftigt war, egal womit. Daher war sozial, was Arbeit schaffte, auch wenn diese Arbeit sinnlos war, denn Hauptsache war, dass sie da war. Dies bedeutete allerdings, dass die Kinder nicht mehr zu Hause versorgt werden konnten. Daher war die Ganztagsbetreuung notwendig geworden, deren Sicherstellung von gutmeinenden Mitmenschen in der Politik als vorrangiges Ziel ausgegeben wurde. Wer sich für Ganztagsbetreuung einsetzte, war gerne gesehen: Alle sahen ein, dass Gott es so eingerichtet hatte, dass ausschließlich Erwerbsarbeit Arbeit war. Daher musste jeder Bereich menschlicher Aktivität ökonomisiert werden, um Gottes Wille zu entsprechen; denn war niemand da, der Lohn reichte, fand etwas wider die Gebote statt. Dabei war es völlig unbedeutend, ob der Lohn gering war, Hauptsache war, dass er da war.

Die Arbeit in der Kinderbetreuung lag Gregor, und die Kolleginnen sowie die Eltern und deren Kinder schätzten ihn. Jedoch fand die lange angekündigte Gehaltserhöhung nicht statt, so dass er die Entscheidung getroffen hatte, den Absprung in die Ausbildung zu wagen, um zukünftig als Fachkraft bezahlt zu werden. Diese Entscheidung schien vernünftig zu sein, war allerdings bedauerlich: Er musste sich eine neue Einrichtung suchen, weil in seiner aktuellen OGS nicht die Möglichkeit bestand, ihn Vollzeit zu beschäftigen, was Voraussetzung für die Ausbildung war.

Als seine Chefin von seinem Vorhaben erfahren hatte, hatte sie ihm gesagt, dass er sich diesen Schritt gut überlegen solle, denn die tägliche Arbeit habe so überhaupt nichts mit der Arbeit während einer Ausbildung zu tun. Sie glaubte für sich, eine solche Ausbildung nicht bestehen zu können – gerade wegen ihrer zwanzigjährigen Berufserfahrung.

Diese Einschätzung teilte Gregor durchaus, aber auf einen Versuch wollte er es ankommen lassen.

Die Ausbildungsentscheidung war Gregor – abgesehen vom notwendigen Einrichtungswechsel – leicht gefallen, da ihm die für gewöhnlich abzuleistende zweijährige Schulzeit an einem Berufskolleg erspart blieb aufgrund seiner OGS-Arbeit in den letzten zwei Jahren. Diese ermöglichte es, extern in die Ausbildung einzusteigen, wofür das Kolleg ihm am Vortag inoffiziell die Zusage erteilt hatte – er musste nur noch an den Abschlussprüfungen teilnehmen, die er noch als Mitarbeiter seiner jetzigen Einrichtung in Büldendorf absolvieren durfte. Anschließend konnte er, sofern die Prüfungen bestanden wurden, in das sogenannte Anerkennungsjahr in einer neuen Einrichtung starten. Beim Anerkennungsjahr handelte es sich um ein Praxisjahr, in welchem der Auszubildende in einer geeigneten Einrichtung, Kinderheim, Kindergarten, Ganztagsbetreuung und so weiter, arbeitete unter strenger Beobachtung der örtlichen Chefin und der zugeteilten Lehrerin vom Berufskolleg. Diese Lehrerin bemüßigte sich mehrfach während des Anerkennungsjahres, ihren Auszubildenden in einer von ihm geplanten und vorbereiteten Situation bei der Arbeit mit den Kindern zu besuchen und ihn streng zu bewerten unter Bezug auf höchste Qualitätskriterien. Diese Qualitätskriterien waren ausschließlich dieser Lehrerin bekannt und auch nur für einen solchen Profi überhaupt verständlich. Daher mussten die Kriterien nicht transparent gemacht werden – weil es nicht möglich war, die Materie als nicht voll ausgebildeter Profi zu verstehen. Aber Gregor sagte sich, dass Männer im Primarbereich Mangelware waren und dort gebraucht wurden, so stand es auch ständig in der Zeitung. Allerdings war ihm noch nicht bewusst, was innerhalb einer solchen Ausbildung unter Mann verstanden wurde, sonst hätte er es sich möglicherweise doch etwas intensiver überlegt, ob es Sinn machte, sich in eine solche Ausbildungssituation zu begeben – denn im Matriarchat galten andere Regeln. Wie er noch lernen sollte, gab es dort äußerst emanzipierte Frauen, die sich in einem Maße emanzipiert hatten, dass sie die Inhalte der Frauenbewegung verdrängt zu haben schienen. Das Phänomen war, dass sie sich genauso verhielten wie diejenigen Männer in ihren Männergesellschaften, die sie immerfort kritisiert hatten: Das andere Geschlecht durfte der eigenen Selbstdarstellung und dem eigenen Karriereweg nicht im Wege stehen. Somit gab es in diesem von Frauen dominierten Bereich Frauen, die sozusagen ihre eigene weibliche katholische Kirche gegründet hatten, und die schlimmsten von ihnen hatten es offensichtlich bis in die Chefpositionen geschafft, warum auch immer.

Dies alles konnte Gregor zu Beginn allerdings nicht überschauen, so dass er sich ins Getümmel warf und die Ausbildung begann, schließlich hatte er zuvor erfolgreich sein Philosophiestudium abgeschlossen. Nach dem Studium hatte er eine Pause eingelegt, für deren Finanzierung er etwas Geld verdienen musste. Daher hatte er sich die Stelle in der Ganztagsbetreuung gesucht, und da es ihm dort gefiel, wollte er jetzt auch die offizielle Qualifikation – in Deutschland brauchte man eben für fast jede Arbeitsstelle einen gesonderten Nachweis.

Es war an diesem Morgen der Zeitpunkt gekommen, dass Gregor sich darum kümmern musste, nun auch offiziell zur Ausbildung zugelassen zu werden, wofür es notwendig war, bei der zuständigen Behörde nachzuweisen, dass er bereits mit Kindern gearbeitet hatte: Er schälte sich aus den Decken und schlurfte ins Bad. Im Alter von 28 Jahren noch einmal eine Ausbildung zu beginnen, war ein hartes Schicksal, aber eine gute Entscheidung, wie er glaubte. Er stand vor dem Spiegel und rasierte sich: Welcher Auszubildende trug schließlich Vollbart? Anschließend machte er sich auf den Weg zur Behörde. Dort angekommen, gab er in einem Büro seine Unterlagen ab, die vom Sachbearbeiter auf Vollständigkeit hin überprüft wurden. Nach fünf Minuten machte er sich wieder auf den Heimweg.

Danach geschah zehn Wochen lang nichts.

Nach Ablauf der zehnten Woche rief Gregor bei der Behörde an, wo der Sachbearbeiter sich informieren musste, was aus seinen Unterlagen geworden war. Nach fünfzehn Minuten Warteschleife mit netter Musik, erfuhr Gregor, dass seine Unterlagen eingegangen waren, was er im Grunde bereits wusste, da er sie persönlich abgegeben hatte. Die zuständige Sachbearbeiterin war allerdings im Urlaub und würde erst in drei Wochen wieder zurück sein, so dass weiter gewartet werden musste – es waren aber auch erst zehn Wochen vergangen, so dass drei weitere Wochen im Rahmen lagen. Gregor bedankte sich, weil man das so tat, auch wenn es nichts gab, wofür er sich hätte bedanken können.

So langsam lief die Anmeldefrist für die Abschlussprüfungen am Berufskolleg ab. Für diese Anmeldung benötigte Gregor die Zulassung der Behörde. Dass die Mühlen dort langsam mahlen würden, hatte er sich gedacht. Dass es jedoch dreizehn Wochen dauern könnte, bis mit der Bearbeitung überhaupt begonnen wurde, damit hatte er nicht gerechnet. So ganz verstand er nicht, weshalb die Prüfung seiner Unterlagen, ein Vorgang, der schätzungsweise zwanzig Minuten in Anspruch nahm, mehr als dreizehn Wochen dauerte – die zu prüfenden Unterlagen bestanden aus beglaubigtem Nachweis des Arbeitgebers, dass Gregor die erforderliche Stundenzahl gearbeitet hatte, die für die Zulassung verlangt wurde, und aus einem Formular mit persönlichen Angaben, so dass eine Bearbeitungszeit von zwanzig Minuten schon großzügig angesetzt war.

Nach ihrem Urlaub meldete sich doch tatsächlich die Sachbearbeiterin von selbst, was nicht selbstverständlich war. Drei Tage später, zwei Tage vor Ablauf der Anmeldefrist am Kolleg, hielt Gregor dann die Zulassung in Händen und reichte sie umgehend ein. Nun hatte er noch drei Wochen Zeit, um sich auf die Klausuren vorzubereiten, mit denen die Abschlussprüfungsphase eingeläutet wurde – es handelte sich um drei Klausuren, die innerhalb einer Woche geschrieben werden sollten.

Als nun die Klausurwoche gekommen war, ging Gregor tapfer ans Werk und absolvierte drei vierstündige Klausuren, die er alle bestand, wenn auch mit Noten zwischen 3,3 und 4,0 – irgendetwas lief hier schief, denn solche Noten hatte er seit der Pubertät nicht mehr gekannt; offensichtlich hatte er nicht den richtigen Ton getroffen, der hier in der Erzieherausbildung en vogue war.

In vierzehn Tagen sollte die den theoretischen Prüfungsblock abschließende Prüfungswoche mit drei mündlichen Prüfungen stattfinden. Um nun zu erfahren, welche Ziele seine Lehrerinnen in etwa verfolgten, vereinbarte Gregor einen Termin mit einer seiner Ausbildungslehrerinnen, um sie darum zu bitten, ihre Herangehensweise transparent zu machen: Gregor dachte, dass es ein normaler Vorgang war, wussten die Schüler, was erwartet wurde – man konnte ja beispielsweise Klausurfragen nicht auf Chinesisch stellen, wenn niemand von diesem Vorhaben Kenntnis hatte. Dabei konnte nicht viel herauskommen.

Es war eben ein wichtiges Element von Unterricht, den Erwartungshorizont transparent zu machen, denn ohne Transparenz handelte es sich um ein Ratespiel – und im Casino lag man oft daneben.

Am folgenden Tag ließ der Wecker um 6:30 Uhr seinen durchdringenden Ton ins Schlafzimmer schallen, damit Gregor pünktlich mit seiner Lehrerin über Transparenz sprechen konnte. Er ging davon aus, dass ihn eine kurze Erläuterung erwartete.

Am Kolleg erwartete ihn allerdings nicht eine seiner Lehrerinnen, sondern alle drei für seine Klasse zuständigen Damen waren vor Ort in dem Raum, der Gregor genannt worden war: Wie rührend sie sich um ihn kümmerten, dass sie gleich alle drei so früh aufgestanden waren! Die drei Instanzen saßen aufgereiht hinter einem breiten Tisch und befahlen ihm, mehr als dass sie ihn baten, sich zu setzen. Gregor war verwundert, denn diesen Auftritt konnte er nicht einordnen. Eine der Kompetenzen, natürlich die älteste Kompetenz, sie schienen eine klare Hierarchie zu haben, setzte zum Angriff an, der jedoch in einem Hustenschwall erstickte, was Gregor entspannte, da Heiterkeit entspannt. Als sie es überstanden hatte, ging es besser und sie sagte streng: „Ich habe davon gehört, dass Sie sich über die Inhalte der Klausuren beschwert haben – das hat mir meine Kollegin Frau Biest berichtet. Da wir es nicht hinnehmen können, dass Sie unsere Bewertungen Ihrer Leistungen in den Klausuren in Frage stellen, sind wir zu dritt erschienen, um vor Zeugen den Fall zu klären. Außerdem werden wir die Inhalte der Besprechung in einem Protokoll festhalten.“

Gregor war nicht wenig verwundert; einen solchen Auftritt hatte er lange nicht erlebt, wenn überhaupt schon einmal. Er wollte Transparenz erfragen und die Damen wollten vor Zeugen ihre Benotung verteidigen – offensichtlich hatten sie ein schlechtes Gewissen oder irgendetwas zu verbergen, ansonsten würde man doch so nicht reagieren! Dass die Damen sich durch solch eine simple Frage in die Ecke gedrängt fühlten, ließ tief blicken und nichts Gutes erwarten.

Gregor versuchte, die drei Aufgebrachten etwas zu beruhigen, die ihn schon fast bösartig fixierten. Er sagte: „Ich würde Ihnen gerne mein eigentliches Vorhaben vortragen, denn es muss sich hier um ein Missverständnis handeln.“

Die älteste der Damen ergriff wieder das Wort. Diesmal schaffte sie es auf Anhieb, ihre Ausführung an den Mann zu bringen: „Wir machen jetzt zehn Minuten Pause; ich möchte eine Zigarette rauchen.“

Daraufhin verließen die drei Lehrerinnen den Raum. Gregor blieb und schaute ihnen nach: Die älteste der Damen lief eilig vorweg, sie musste offenbar dringend rauchen. Die jüngste folgte ihr und die dritte blieb etwas zurück – sie hatte schon die ganze Zeit etwas unscheinbar gewirkt und sich zurückgehalten. Wie konnte Gregor sich bloß die Verteidigungshaltung der Lehrerinnen erklären? Dass sie den Raum verließen, ließ vermuten, dass sie ihre weitere Strategie absprechen mussten.

Nach circa fünfzehn Minuten erschienen die Gestrengen wieder und reihten sich erneut hinter dem Tisch auf – Gregor kam es so vor, als verschanzten sie sich hinter diesem. Dieses Mal sprach die jüngste der Damen, Frau Biest – offensichtlich hatte ihre Ziehmutter ihr befohlen, sich zu positionieren. Es entstand der Eindruck durch die Art, wie die Älteste ihre junge Kollegin anschaute, dass sie ihr etwas beibringen wollte. Währenddessen betrat noch eine vierte Ausbildungslehrerin den Raum, von der Gregor bisher noch nicht gewusst hatte, dass sie existierte, und setzte sich neben ihre Kolleginnen hinter die Anklagebank. Sie war äußerst adipös und ergänzte prima das bereits anwesende Kabinett. Gregor fragte: „Sind wir jetzt vollzählig oder müssen wir noch auf den Rest warten, um alle eingeplanten Zeugen vor Ort zu haben?“

Dies empfanden die vier Damen als äußerst unpassend, und die Rudelführerin raunzte Gregor an: „Bleiben Sie gefälligst freundlich!“

Gregor empfand es eher so, dass nicht er es gewesen war, dem man Unfreundlichkeit hätte vorwerfen können. Jedenfalls waren die Damen vollzählig und Frau Biest sagte: „Gregor, du kannst nicht erwarten, dass wir dir die Inhalte der mündlichen Prüfungen vorab mitteilen – es handelt sich um Prüfungen, was bedeutet, dass eine gewisse Ungewissheit bestehen muss –.“

Gregor unterbrach: „Ich bin nicht gekommen, um die Inhalte der Prüfungen zu erfragen, sondern um zu erfahren, welche Erwartungen sich hinter den Prüfungsfragen verbergen, da ich bei den schriftlichen Prüfungen offensichtlich Ihre Erwartungen mit meinen Formulierungen nicht getroffen habe.“

Gregor wies also darauf hin, was er tatsächlich wollte. „Gregor, unterbrech mich nicht!“, entgegnete Frau Biest, und Gregor empfand es als symptomatisch für die Situation, dass sie unterbrech mich nicht sagte. Das Biest fuhr fort: „Gregor, du bist in der Ausbildung“ – davon hatte Gregor gehört. „Weil du in der Ausbildung bist“, erklärte das Biest dann, „musst du dich damit abfinden, dass du noch nicht alles wissen kannst. Wir werden dir schon im Verlauf des Jahres auf den richtigen Weg helfen – die Praxisausbildung ist ja nicht umsonst ein Jahr lang. Es handelt sich um einen Prozess: Wir achten darauf, dass die Inhalte in verdaubarer Menge nach und nach präsentiert werden, um Überforderung der Schüler zu vermeiden. Daher werden wir dich Stück für Stück an die Inhalte heranführen. Du kannst jetzt noch nicht verstehen, welche Ziele wir verfolgen.“

Gregor gab auf, die Damen waren nicht zugänglich. Es hatte den Anschein, dass er von ihnen nicht viel erwarten durfte. Mit dieser Situation musste er nun umgehen. Er bedankte sich, wie man es immer tat, dann war die Verhandlung geschlossen.

Der Auszubildende

Подняться наверх