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VI.

Die geplante Aktion, die Gregor im Rahmen des Besuchs mit den Kindern durchführte, verlief erfreulich: Die Kinder waren eifrig bei der Sache, verstanden zwar nicht, wie sie Gregor im Nachhinein erklärten, warum die komische Frau dabeigesessen und gesagt habe, er solle so oder so gucken oder dies oder jenes tun, waren aber von ihrer Beschäftigung angetan – der pädagogische Auftrag schien damit erfüllt. Gegen eine befruchtende Manöverkritik im Nachgang hätte Gregor nichts gehabt, aber was nun im folgenden Reflexionsgespräch, wie Frau Blume es nannte, in Anwesenheit Mathildas ablief, die sich selbstverständlich an diesem Tag die Ehre gab, war keine Manöverkritik, sondern fast Mobbing, wenn nicht ganz.

„Wollen Sie Kaffee?“, fragte Mathilda Gregor, der sich fragte, warum Mathilda ihn plötzlich siezte, wo sie doch von Anfang an beim Du gewesen waren – es musste an der Anwesenheit Frau Blumes liegen. Gregor nahm den Kaffee gerne an. Mathilda ging in die Küche, um ihm einen Kaffee aufzubrühen, was sie bisher nun wirklich noch nie getan hatte: Es handelte sich um eine Premiere!

Kaffee war in dieser OGS eine heikle Angelegenheit: Mathilda hatte angeordnet, dass eine Kaffeestrichliste zu führen sei.

Bei der Kaffeemaschine handelte es sich um eine Ausführung, in die sogenannte Pads eingelegt wurden – eine äußerst moderne und fortschrittliche Form des Kaffeeaufbrühens, wie es unter Mathildas Führung auch nicht anders zu erwarten war.

Jeder, der sich einen Kaffee machte, musste in der Liste abstreichen, dass er ein Pad benutzt hatte. Auf diese Weise wollte Mathilda nachhalten, wie viele Pads verwendet worden waren. Sie konnte so einen Überblick über den Kaffeekonsum erhalten und gegebenenfalls mahnend eingreifen, dass die Kosten für Kaffee zu hoch seien, dass das Team sich zügeln müsse, denn das Team sei ja schließlich nicht zum Kaffeetrinken eingestellt worden.

Solcherlei Reden schwang sie dann gerne und regelmäßig stehend vor den anderen in der Teamsitzung, in der eigentlich für den Arbeitsablauf und die Koordination der Mitarbeiter untereinander wichtige Dinge besprochen werden sollten, während die anderen saßen.

Gregor fragte sich, wann die Kaffeeabstreichliste wohl personalisiert werden würde. Bisher bestand sie nur aus Strichen, was noch eine gewisse Anonymität gewährleistete. Er traute sich aber jetzt schon kaum noch, einen Kaffee zu trinken – und nun brühte seine Chefin ihm höchstpersönlich einen Kaffee aus einem der wertvollen Pads auf! In dieser Beziehung wirkte Frau Blumes Anwesenheit Wunder.

Während Mathilda Kaffee kochte, saß Gregor mit seiner Lehrerin in Mathildas Büro. Frau Blume gab sich locker, aber mit Distanz und versuchte einen Small Talk: Es war die Ruhe vor dem Sturm, wie es Gregor erschien. Der klägliche Versuch, nett zu sein, belustigte ihn schon ein wenig, wenn er auch für ihr Getue im Grunde kein Verständnis hatte. Die ganze Situation war aber natürlich ziemlich offiziell, so dass ein Small Talk zu Beginn selbstverständlich zum guten Ton gehörte, ebenso wie der Kaffee. Frau Blume saß auf ihrem Stuhl, der auf beiden Seiten Armlehnen hatte, und versuchte gewichtig zu erscheinen, was ihr auch gelang, allerdings weniger in der von ihr beabsichtigten Form: Sie hatte damit zu kämpfen, dass der Stuhl für sie sichtlich zu eng war; beidseitig quoll unter den Armlehnen das hervor, was nicht zwischen sie passte. Gregor vermutete, dass sie später beim Verlassen des Raumes den Stuhl unbeabsichtigt mitnehmen würde; ohne fremde Hilfe war an ein Loskommen sicherlich nicht zu denken. Er sah vor seinem inneren Auge, wie Mathilda Frau Blume half, sich des Stuhls zu entledigen. Mathilda war besser dran, sie hatte einen Stuhl ohne Armlehnen. – Unter Blumen hatte Gregor sich bisher immer knospende und blühende und schlanke, im Wind sich leicht bewegende Erscheinungen vorgestellt: Sollte Frau Blumes Name hiermit in irgendeiner Beziehung stehen, dann sah er ein, dass er eines Besseren belehrt worden war; nicht immer musste der Name auf die Erscheinung schließen lassen; auch völlig artfremde Wesen konnten Bezeichnungen tragen, die etwas völlig anderes suggerierten.

Gregor musste sich konzentrieren, denn Frau Blume hatte eine Rede offensichtlich zu einem Punkt gebracht, in dessen Folge sie mit einer Reaktion seinerseits rechnete – und er wollte ja nicht unhöflich sein. Er bat sie daher, ihren letzten Satz zu wiederholen, da er ihn gerade nicht ganz mitbekommen habe. „Gregor“, sagte sie, „fühlst du dich eigentlich mit den Kindern wohl? Ich habe beobachtet, als ich dich eben in der Situation sah, dass du manchmal etwas unsicher warst. Ich wünsche mir von dir mehr Souveränität; hier musst du dich noch deutlich weiterentwickeln.“

Den Konjunktiv brauchte Frau Blume nicht, alles, was sie sagte, war die reine Erkenntnis und bedurfte keiner Möglichkeitsform. Was sollte Gregor nun sagen? Sollte er ihr der Einfachheit halber Recht geben oder sollte er ein wenig argumentieren? Es war schwierig zu entscheiden. Ersteres wäre wohl die richtige Entscheidung gewesen, denn Frau Blume wollte nichts weiter hören, als dass sie Recht hatte. Gregor entschied sich jedoch dafür, eine kleine Argumentation entgegenzusetzen – ein schwerer Fehler. Aber es war sein erster Besuch durch Frau Blume, so dass er einfach testen musste, was eventuell zulässig war. Außerdem hatte er zumindest theoretisch darauf gesetzt, dass eine Begegnung von Mensch zu Mensch möglich sein könnte – noch ein schwerer Fehler.

Es handelte sich hierbei um ein Beispiel, dass Gregor also viel lernte, nur nicht das, was seinen Schicksal spielenden Damen vorschwebte. Gregor dachte an Kant und dessen Artikel in der Berlinischen Monatsschrift aus dem Jahre 1784 mit der Überschrift: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Gregor konnte den Anfang auswendig und zitierte ihn in Gedanken:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Davon hatte Frau Blume definitiv noch nichts gehört. Jedoch betätigte sie sich als Zensor, so, wie es die Obrigkeit zu Zeiten Kants auch gerne getan hatte. Insofern bestand zwischen Frau Blume und den Worten Kants schon eine gewisse Verbindung. Dennoch war bedenklich, dass Kant dies 1784, immerhin nach Christus, geschrieben hatte und dass nichts davon bei dieser Dame angekommen war: Wie viel Zeit musste denn noch vergehen? Es war eine müßige Frage. Bei Kant hieß es weiter:

„Wer sie [die Unmündigkeit] auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung thun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wikkeln, und dennoch einen sicheren Gang zu thun.“

Insofern bestand, was die Damen betraf, wenig Hoffnung. Es stimmte aber versöhnlich, dass nur wenige zum sicheren Gang gefunden hatten, so dass es nicht verwundern musste, dass die Damen nicht dabei waren: Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, stand eben bei den Damen Lehrerinnen nicht hoch im Kurs. Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, war untersagt. Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, lag nicht innerhalb des Horizonts.

Da die Damen ihren eigenen Verstand nicht benutzten, sondern wiedergaben, was andere ihnen gesagt hatten, durfte Gregor seinen Verstand natürlich auch nicht benutzen, sondern musste nachäffen, was seine Ausbilderinnen zum Besten gaben: Es galt den Ausführungen der Fürstinnen Folge zu leisten, so verwirrt und undurchschaubar diese Ausführungen auch sein mochten. Dazu gehörte, dass Gregor auf keinen Fall Transparenz erwarten konnte im Hinblick auf die Erwartungen, die man an ihn während des Ausbildungsjahres stellte: Die Motive der Politik der absolutistischen Herrscher unterlagen der Geheimhaltung wie zu Zeiten Kants, um eine Beurteilung von außen zu verhindern. Nur hatten Aufklärer wie Kant hier eine Veränderung angestoßen – davon hatten die Damen aber wohl nichts mitbekommen. Sie vertraten Ansichten, die undurchdringbar und nicht diskutierbar waren, die geheim waren. Jegliche Vorschläge, die Licht ins Dunkel hätten scheinen lassen können, wurden zensiert – eben wie zu Zeiten Kants. Die Frage war nur, denn dies war wirklich zweifelhaft, ob die Damen selbst überhaupt wussten, welche Standpunkte und Ansichten sie geheim hielten; es hatte den Anschein, dass sie mehr oder weniger leer daherredeten, ohne zu wissen, wovon sie eigentlich genau sprachen: Sie hatten eben nie gelernt, selbst zu denken, sondern gaben Überkommenes wieder, das von ihnen selbst nicht durchdrungen worden war. Daher schützte die Geheimhaltung auch vor Offenlegung der eigenen Inkompetenz – es war wiederum wie zu Zeiten Kants, während derer der eine oder andere Fürst ähnlich hatte verfahren müssen: Die Damen waren eben echte Fürstinnen; deshalb musste Gregor schon gehorchen – das wurde erwartet und bei Zuwiderhandlung bestraft.

Immerhin kam Fürstin Mathilda jetzt zurück und servierte Kaffee. Wenn die Fürstin persönlich aktiv wurde, konnte man daran sehen, dass es sich um eine bedeutsame Situation handelte. Mathilda stellte den Kaffee ab und setzte sich zu Gregor und Frau Blume. Ihre gewichtige Miene war der Situation sowie ihrer Körperlichkeit angemessen – Frau Blume stand ihr in dieser Beziehung in nichts nach. Das sogenannte Reflexionsgespräch konnte beginnen: „Gregor“, sagte Frau Blume, sie duzte ihn, ließ sich jedoch siezen, „bitte schildere deine Eindrücke der Aktion, die du soeben mit den Kindern durchgeführt hast.“

Gregor erzählte: „Ich bin im Großen und Ganzen zufrieden, weil die Kinder gerne teilgenommen und ganz offensichtlich Spaß an der Sache gehabt haben – sie waren also in ihrer Freizeit gut beschäftigt. Mit ihren Ergebnissen sind sie zufrieden gewesen, und sie haben zum Schluss ihr Gebasteltes für den Abtransport nach Hause bereitgelegt, weil sie es auf jeden Fall mitnehmen wollten: Alles in allem war es eine gelungene Aktion.“

Die Kinder hatten Kunstbilder hergestellt: Sie hatten weiße Rechtecke aus Pappe erhalten und diese künstlerisch bearbeitet, sie bemalt und mit allerlei Utensilien beklebt. Außerdem hatten sie Nägel von hinten durch ihre Pappen geschlagen, um bunte Bänder und diverse andere Dinge befestigen zu können. Für die Nägel hatte Gregor Abdeckkappen mitgebracht, damit sich niemand verletzen konnte: Daran hatte er gedacht! Er war davon ausgegangen, dass ansonsten die Verletzungsgefahr angeprangert worden wäre.

Es handelte sich also um ein Beispiel von Beschäftigung, wie sie in der Betreuung gerne von Kindern durchgeführt wurde, nur normalerweise ohne Kappen; einige Kinder hatten Gregor seit Tagen gedrängt, doch endlich mit ihrem Kunstbild beginnen zu dürfen. Er hatte sie jedoch vertrösten müssen, da Frau Biest, nun war es Frau Blume geworden, ja zuschauen musste und die Verabredung hierzu nun einmal erst in einigen Tagen festgesetzt worden war.

Im Grunde hatte es sich um eine simple Bastelaktion gehandelt, wie sie Gregor in den vergangenen Jahren unzählige Male durchgeführt hatte und so oder so ähnlich ständig durchführte. Eigentlich war es nicht möglich, dass hierbei irgendetwas schiefgehen konnte, bei einer Bastelaktion, die die Kinder gerne machen wollten; hier gab es nichts zu diskutieren – eigentlich. Frau Blume konnte hierzu aber sehr wohl etwas sagen, wie sich noch herausstellen sollte.

Kompliziert an der Bastelaktion war die Vorbereitung gewesen, da es in Mathildas Lernumgebung schwierig war, Kinder zu finden, die Zeit hatten: Morgens war Schule, dann gab es das Mittagessen, an das sich die Hausaufgaben anschlossen. Auf diese folgten unzählige Arbeitsgemeinschaften, so dass eigentlich kein Zeitfenster blieb, um frei etwas zu gestalten. Also hatte Gregor beobachtet, ob es vielleicht doch Tage gab, an denen Räume blieben. Als er auf diese Weise einige Zeitfenster entdeckt hatte, war er erst einmal überrascht gewesen, dass es sie tatsächlich gab.

Nachdem dieses Faktum verarbeitet worden war, hatte er die vorhandenen Zeitfenster in einem Brief an die Eltern, deren Kinder gerne hatten mitmachen wollen, als mögliche Termine aufgeführt. Auf diesem Wege war am Ende eine Gruppe entstanden, deren Größe ausgereicht hatte, um den Besuch anzugehen. Selbstverständlich war ein schwerer Fehler gemacht worden: Gregor hatte die Briefe zu Hause verfasst und diese den Kindern mitgegeben, so dass Mathilda keine andere Wahl geblieben war, als zu kritisieren, dass er unbedingt Papier mit dem Logo der OGS hätte nehmen müssen, da alles andere unmöglich sei. Genauere Erläuterungen waren ausgeblieben, aber das war ja immer so. Gregor hatte es hingenommen und versprochen, sollte er noch einmal einen Brief benötigen, um einen Besuch vorzubereiten, Papier mit dem Logo der OGS zu verwenden. Damit war Mathilda zufrieden gewesen; sie hatte ihren Willen bekommen.

Nachdem die Chefin den Kaffee serviert hatte, begann Frau Blume ihre Reflexion mit dem Positiven. Begannen Leute mit dem Positiven, so Gregors Erfahrung, dann bedeutete das nichts Gutes: Der positive Beginn diente lediglich dazu, beabsichtigte Pauschalkritik in ein besseres Licht zu setzen. Frau Blume sagte: „Ich habe gesehen, dass die Kinder gerne mit dir zusammen gebastelt haben.“

„Immerhin hat sie das gesehen“, befand Gregor für sich. Allerdings war der positive Teil damit auch schon abgeschlossen, denn Frau Blume fuhr fort: „Dein ganzes Verhalten war aber unpädagogisch, du hättest die Kinder viel mehr anlächeln müssen. Lächeln ist sehr wichtig, weil die Kinder sonst nicht wissen, ob du ihnen freundlich gesonnen bist – ich als Kind hätte vor dir Angst gehabt.“

Das konnte Gregor sich gut vorstellen. Die Kinder hatten diese allerdings nicht, im Gegenteil, sie hingen an ihm – vermutlich hätte Frau Blume als Kind auch keine Angst vor Gregor gehabt. Außerdem war es keine ganz neue Erkenntnis, dass Kinder Authentizität mehr schätzten als aufgesetztes Gegrinse, was im Übrigen auch in dem Buch stand, mit dem Frau Blume und die anderen Ausbildungslehrerinnen ihren Unterricht an der Berufsschule gestalteten. Gregor hatte dieses Buch gelesen: Frau Blume schien ihr Buch entweder nicht zu kennen oder sie log beziehungsweise suchte Gründe, um die Leistung Gregors abzuwerten. Mathilda allerdings nickte wissend und führte aus: „Gregor, ich habe es dir immer gesagt, dass du das nicht richtig machst. Ich habe immer versucht, mit dir zu reden, aber du hast meine Einwände ja immer abgetan; da war es für mich sehr schwierig, dir überhaupt noch etwas zu sagen. Deshalb habe ich mich zurückgezogen und gedacht: ‚Dann soll er doch in sein Unglück laufen.‘ Und jetzt sagt Frau Blume genau das, was ich immer gesagt habe!“

Die Damen waren sich einig, so, wie es zu erwarten gewesen war.

Mathilda konnte es auf den Tod nicht ausstehen, dass sie Gregor nicht formen konnte, denn es war schließlich ihre Spezialität, denjenigen, die in der Hierarchie unter ihr standen, in ihrem Sinne Form zu geben – das hatte sie mit allen Mitarbeiterinnen der OGS getan und natürlich insbesondere mit den Auszubildenden. Dass Gregor hier für sie nicht greifbar war, machte sie feindselig. Er ging daher davon aus, dass sie Frau Biest im Vorfeld schon so einiges berichtet hatte, was angeblich vorgefallen war, denn die Damen hatten miteinander telefoniert. Mathilda ließ es sich selbstverständlich nicht nehmen, bei Frau Biest und damit auch bei Frau Blume, da diese sich natürlich besprachen, eine gewisse Voreingenommenheit zu erzeugen, die nun zum Tragen kam: Frau Blume war keine Frau, die mit Rückgrat ausgestattet gewesen wäre, sondern sie hielt ihr Fähnchen immer so in den Wind, dass es für sie passte. Eine gegenteilige eigene Meinung zu gewissen Umständen war von ihr nicht zu erwarten. Sie umschiffte Diskussionen und war lieber mit ihren Fachkolleginnen einer Meinung, da das für sie leichter war, wofür Gregor natürlich Verständnis hatte.

Obwohl Mathilda Gregor so gut wie nie sah, da sie entweder nicht da war oder sich in ihrem Büro verschanzte, bekam sie vieles mit, weil sie ihre Spitzel hatte, die ihr die Dinge zutrugen, die als nicht genehm empfunden wurden.

Frau Blume wollte Gregor im Folgenden einige Tipps für seine weitere Entwicklung im Verlauf des Praxisjahres mit auf den Weg geben, wie sie sich ausdrückte. Für diesen Zweck hatte sie ihn während des Besuchs, während des Bastelns mit den Kindern, gefilmt: Frau Blume nutzte die moderne Technik. Gregor durfte sich anschauen, wie er zusammen mit den Kindern etwas bastelte: „Siehst du Gregor, hier, das ist das, was ich meinte, da spricht Marie dich an, da hättest du viel mehr Reaktion zeigen müssen; hier wäre ein Lächeln unheimlich hilfreich gewesen“, sagte Gregors Lehrerin.

Gregor fand Frau Blume unheimlich. „Hier“, sprach sie weiter, „da spricht Marie dich an und du beachtest sie gar nicht!“

Gregor bekam den Eindruck, dass Frau Blume sich den Namen von Marie hatte merken können. Daher musste diese nun wohl als Beispiel dafür herhalten, was er alles falsch gemacht hatte.

Die Situation hatte sich so dargestellt, dass er überall präsent gewesen war, so dass er Marie, die etwas von ihm hatte haben wollen, das Verlangte hinübergereicht hatte, ohne sie dabei anzuschauen; seine Aufmerksamkeit hatte in diesem Moment einem anderen Kind gegolten. Es war eben nicht möglich gleichzeitig in zwei Richtungen zu gucken – zumindest normalerweise nicht. Marie war jedenfalls zufrieden gewesen.

Allerdings war das Hinüberreichen auf dem Video nicht festgehalten worden, und Frau Blume konnte sich scheinbar auch nicht erinnern, so dass Gregor hier einen schweren Fehler begangen hatte.

Frau Blume schien nicht zu wissen, dass es möglich war, für mehrere Anliegen gleichzeitig da zu sein. Allerdings musste das nicht verwundern, da man solche Dinge in der Praxis lernte.

Dass es auch Beziehungsgeschehen gab, das von außen nicht direkt nachvollziehbar war, wusste Frau Blume offenbar nicht: Ein solches Geschehen setzte eine funktionierende Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem voraus. Gregors Beziehung zu den Kindern funktionierte – dafür hatte er einfach ein Händchen.

Dieses Beziehungsgeflecht, das entstehen konnte, wenn man die Kinder gut kannte, war für Frau Blume offenbar eine unbekannte Welt – Gregor war eigentlich davon ausgegangen, dass eine Frau, die Erzieherinnen und manchmal auch Erzieher ausbildete, von solcherlei Beziehungsgeflechten etwas wusste. Er war davon ausgegangen, dass sie Kenntnis hatte von einer gewissen Beziehungsqualität abseits von lächelndem Getue: Es hätte schließlich ein zu erreichendes Ziel einer Ausbildung sein müssen, den Auszubildenden solcherlei Qualitäten vor Augen zu führen, um ein echtes, nicht ein angewandtes Verhältnis zu den Kindern aufzubauen.

Ansatzweise versuchte Gregor Frau Blume diese Umstände zu erläutern, was jedoch bei ihr als Unverschämtheit ankam. Daher führte sie aus: „Es kann echt nicht wahr sein, dass du meine gut gemeinten Entwicklungstipps anzweifelst! Ich bin deine Lehrerin! Deshalb kannst du mir ruhig glauben, dass ich weiß, was notwendig und richtig ist!“

Gregor empfand Frau Blume langsam als anstrengend, denn er hatte selbstverständlich nicht ihre Entwicklungstipps angezweifelt, sondern lediglich unter anderem darauf hingewiesen, dass ihr Video nicht alles eingefangen hatte. Aber solch ein Gespräch über Dinge, die in ihren Augen nicht geschehen waren, wollte sie erst gar nicht beginnen, denn schließlich hatte sie ja ihr Video, und da war ja alles drauf. Sie sagte im Weiteren erregt: „Gregor, wenn du meinst, du müsstest meine notwendigen Entwicklungshinweise abtun, dann sehe ich für deine Entwicklung schwarz! Es ist unabdingbarer Bestandteil der Ausbildung, dass die Auszubildenden sich an die Hinweise der Ausbilderinnen halten, weil sie ansonsten logischerweise keine Fortschritte machen können. Und deine Bastelaktion kann ich maximal mit der Note 4 bewerten, weil doch einfach noch in der Beziehung zu den Kindern große Defizite zu erkennen sind, wie auch das Video gezeigt hat. Dafür habe ich es schließlich aufgenommen, um unzweifelhaftes Anschauungsmaterial zu haben und um dir zu zeigen, was bei dir noch fehlt. Videos sind eben genau deshalb in den Ausbildungsplan mitaufgenommen worden, um solche Diskussionen nicht mehr zu haben, weil man es auf diese Weise schwarz auf weiß hat. Mit den Videos kann ich den Auszubildenden die Defizite, die sie abbauen müssen im Verlauf der Ausbildung, klar vor Augen führen. Und Gregor, dass du hier meine Kompetenz, Beziehungsverhalten beurteilen zu können, anzweifelst, ist keine Basis, um die Ausbildung fortzusetzen. Außerdem kannst du dich darauf verlassen, dass ich durch meine Erfahrung ganz genau weiß, wie eine Beziehung zu Kindern aussehen muss: Gregor, du tust gut daran, meine Hilfestellungen anzunehmen!“

Es handelte sich hier um eine lange Rede, die Gregor mittelmäßig entsetzte: Er erinnerte sich an seine praktische Prüfung in seiner ehemaligen OGS, bei der Frau Blume und ihre Kolleginnen ihr Händchen für den Umgang mit Kindern nachgewiesen hatten – entweder war sie dreist oder tatsächlich dumm. Musste, konnte, wollte er dazu noch etwas sagen?

Er entschied sich, es dabei zu belassen, weil es nicht besonders fruchtbar war, mit Frau Blume zu diskutieren. Gregor versprach, ihre Tipps zu berücksichtigen, was sie ihm offensichtlich nicht glaubte: Ganz dumm war sie nicht.

Frau Blume beruhigte sich wieder etwas, denn sie hatte auf ihrem Video noch eine weitere Szene, die sie Gregor unbedingt zeigen wollte, da es sich hier um einen weiteren Umstand handelte, der bei der Arbeit mit Kindern auf keinen Fall zulässig war: Gregor hatte einem Mädchen, Hanna, die Schwierigkeiten gehabt hatte, ihre Pappe festzuhalten und gleichzeitig einen Nagel durch diese zu schlagen, ohne sie zu fragen, einfach so die Pappe gehalten, was Hanna dankbar registriert hatte – wo hier der Fehler lag, wusste er beim besten Willen nicht. Deshalb konnte er auch nicht weiterhelfen, als seine Lehrerin von ihm eine Erklärung verlangte. Wie er im Folgenden belehrt wurde, hatte er in das Selbstbestimmungsrecht des Mädchens eingegriffen: Er hatte ihr etwas zugemutet, das nicht in ihrem Sinne gewesen war. Wie er von Frau Blume lernte, hätte er Hanna seine Hilfestellung anbieten müssen. Es ging darum, dass sie vorab hätte entscheiden sollen, ob sie Hilfe wollte oder nicht.

Gregor fühlte sich schuldig. Er kam sich vor wie ein Kinderschänder. Wie hatte er nur einen solch groben Fehler machen können?! Er sah offiziell ein, dass man eine Pappe, die ein Kind bearbeitete, nicht einfach halten durfte. Er fragte sich jedoch, welche Absicht Frau Blume hier verfolgte: Sie wollte ihn ganz offensichtlich absichtlich schlecht machen, was sie an dieser Stelle gar nicht mal so ungeschickt betrieb, indem sie darauf abhob, dass man Kindern nicht einfach etwas aufzwingen dürfe, womit sie natürlich Recht hatte. Dies aber auf die Situation mit der Pappe zu übertragen, war unzulässige Manipulation der Jury, ihr Vorgehen war suggestiv. Leider gab es keinen Richter, der hätte einschreiten können. Mathilda fiel hier aus, sie war befangen.

Gregor konnte das so dann doch nicht auf sich sitzen lassen und erklärte Frau Blume ihre Suggestion. Ob ihr diese bewusst gewesen war, bezweifelte er allerdings: Die ganze Angelegenheit wirkte sehr geplant, war es aber wahrscheinlich nicht; sie schien wirklich an ihre Aussagen zu glauben, zumindest legte das ihre entsetzte Reaktion nahe; sie schien tatsächlich davon überzeugt zu sein, dass sie kindgerechten Umgang predigte.

Mathilda saß die ganze Zeit schweigend dabei und sagte lediglich: „Gregor, ich kann dir nur raten, die Hinweise deiner Lehrerin ernst zu nehmen!“ Gut, Mathilda war auch noch da.

Es folgten weitere Hinweise auf Fehlverhalten und schließlich war Frau Blume am Ende angekommen und schloss die Reflexionsrunde mit den Worten: „Für heute ist es genug: Ich will dir nicht gleich am Anfang jeden Mut nehmen. Daher lassen wir es hiermit gut sein. Ich möchte aber noch mit etwas Positivem enden: Es hat mir sehr gefallen, dass du für die Nägel Abdeckkappen mitgebracht hast, weil mir das zeigt, dass du durchaus Verantwortungsbewusstsein hast.“

Frau Blume riss ab, baute dann aber auch wieder auf. Jedoch war sie deutlich sichtbar froh, die Sitzung beenden zu können, sie wollte weg. Gregor beschloss, sie noch ein wenig zu nerven und führte aus, dass er erleichtert sei, dass sie ihm so viele wichtige Dinge habe mitteilen können. Er könne nun sicherlich zukünftig besser mit Kindern arbeiten. Er wolle das Lächeln üben, um dem Nachwuchs ein Gefühl des Wahrgenommenseins vermitteln zu können. Gregor lächelte Frau Blume an, da ihr Lächeln ein Anliegen war, und dachte, dass seine Chance, die Ausbildung unter der Regierung Biest/Blume zu bestehen, gerade gesunken war. Frau Blume rang um Fassung und versuchte ihr ausladendes Hinterteil aus seinem Gefängnis zwischen den Stuhlarmlehnen zu befreien, was nicht auf Anhieb glückte.

Nachdem sie den Stuhl mit beiden Händen fest auf den Boden gedrückt hatte, gelang es ihr, loszukommen. Mathilda schaute streng und verabschiedete Frau Blume dann herzlich mit einem wissenden Nicken. Diese sah zu, dass sie wegkam, denn sie brauchte eine Pause. Gregor war froh, sie endlich los zu sein: Es war vergleichbar mit damals, als die Kinder während Gregors praktischer Prüfung in seiner ehemaligen OGS Frau Blumes Abreise kaum hatten erwarten können – es handelte sich vielleicht um ihr Markenzeichen.

Mathilda setzte, als Frau Blume gegangen war, zum Kritikschwall an: „Gregor, wie kannst du nur so schlecht mit deiner Ausbildungslehrerin umgehen? Wie stellst du dir das eigentlich vor? Das kann man doch nicht machen, das ist ein Unding, das ist unverschämt und geht so nicht!“ Ihr Gesicht war ganz rot.

Gregor fragte sich, was Mathilda hatte, sie hatte doch gesehen, dass es ging. Vielleicht meinte sie ja, es sei nicht hilfreich gewesen.

Aber das, was Mathilda von sich gab, konnte nicht auf die Goldwaage gelegt werden, dafür hatte sie schon zu viel Unfug verbalisiert. Gregor lächelte sie an, bedankte sich bei ihr für ihre Anwesenheit und verließ das Büro mit dem Hinweis, dass sie sicherlich noch viel zu tun habe; daher wolle er nicht länger stören.

Das gefiel ihr ganz gut, denn Hinweise, die ihre Arbeit als umfangreich beschrieben, mochte sie. Damit war sie wieder relativ besänftigt und meinte, er könne es ja beim nächsten Mal besser machen.

„Schau einmal einer an“, dachte Gregor. Er ging zu Anna ins Lehrerzimmer und trank mit ihr Kaffee. Anna sagte: „Du brauchst mir nichts vom Besuch erzählen, ich kenne solche beglückenden Situationen aus meinem Referendariat. Während meiner Ausbildung hat man mir bei solchen Besuchen auch immer nachhaltig auf den richtigen Weg geholfen. Ohne Besuche wäre ich auf keinen Fall in der Lage gewesen, Lehrerin zu werden: Was ist mir im Referendariat geholfen worden!“ Anna musste lachen, womit sie Gregor ansteckte.

Anna war ein Glücksfall für Gregor: Sie hatte ihn mittlerweile schon das eine oder andere Mal aus der Betreuung losgeeist, damit er sie auf kleinen Ausflügen mit ihrer Klasse begleiten oder ihr im Unterricht bei Projektarbeiten helfen konnte. Auf diese Weise bekam er gelegentliche Pausen und etwas Abstand zu Mathilda und ihren Lemmingen.

Um Gregors Hilfe in Anspruch nehmen zu können, war Anna zu Mathilda gegangen und hatte sie gebeten, Gregor ein wenig einspannen zu dürfen: Es gab Vereinbarungen, die eine enge Zusammenarbeit von Schule und Betreuung festlegten. Diese Vereinbarungen waren in einem gemeinsamen Profil von Schule und OGS zusammengefasst und veröffentlicht worden. Daher hatte Mathilda im Grunde nichts anderes tun können, als zuzustimmen – schließlich hatte sie intensiv an diesen Abmachungen mitgearbeitet.

Der Chefin missfiel allerdings, dass Anna nicht nach einer Kollegin Gregors gefragt hatte. Hätte sie eine Kollegin für ihren Unterricht verlangt, wäre Mathilda begeistert gewesen. So hatte sie zwar zugestimmt, nicht aber ohne darzustellen, dass diese oder jene Kollegin doch viel erfahrener und kompetenter sei und dass es sich bei Gregor noch um einen Auszubildenden handele, der für den Erzieherberuf eigentlich keine Eignung mitbringe, und so weiter.

Anna hatte darauf bestanden, Gregor zu brauchen, weil die Kinder ihn bereits ins Herz geschlossen hätten. Daraufhin hatte Mathilda zähneknirschend nachgegeben.

Anna sagte: „Wie kann es eigentlich sein, dass eine so unfähige Frau wie Mathilda überhaupt noch mit Kindern arbeiten darf?“

Gregor erinnerte sie daran, dass sie das wirklich nur sehr selten tat. Anna fuhr fort: „Mathilda und ihre Kolleginnen würde ich niemals in meine Klasse lassen, wenn ich es verhindern kann: Ich muss davon ausgehen, dass sie hinterher schlecht über mich reden.“ Davon war tatsächlich auszugehen.

Aufgrund des Vertrauens, das die Schule, das Anna ihm entgegenbrachte, fasste Gregor den Entschluss, dem Ausbildungsgedanken noch eine Chance zu geben. Er machte sich keine Illusionen: Die Chancen, dass sich irgendetwas zum Besseren entwickeln würde, waren gering, aber er wollte es probieren.

Der Auszubildende

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