Читать книгу Der Auszubildende - Neil Nilas Grün - Страница 15
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Am folgenden Tag kam Gregor wieder pflichtbewusst zur Arbeit in die Offene Ganztagsschule. Es stand an diesem Tag sein erster Besuch durch Frau Biest an.
Gregor begrüßte seine Kolleginnen, auch Mathilda, die zufällig einmal als ganze Person außerhalb des Büros vorhanden war – normalerweise spürte man nur die Anwesenheit ihres Geistes, der sich in Form des Verhaltens der Kolleginnen manifestierte.
Nach der Schule kamen verschiedene Kinder auf Gregor zu: Eva wollte ihr Kissen zu Ende nähen, das sie am Vortag mit ihm begonnen und wofür er noch nach Feierabend Schafwolle besorgt hatte, um es füllen zu können, da Mathilda solche Dinge nicht vorhielt. Kilian wollte an der Werkbank ein Haus für seine Meerschweinchen mit ihm bauen, was an und für sich kein Problem darstellte – jedoch war Mathilda nicht für solcherlei Spontanität zu haben, und Gregor dachte, wie sonst Mathilda dachte, denn das hatte er von seiner Ausbilderin gelernt: „Die Werkbank ist mit wichtigen Projektmaterialien zugestellt, und nur im Rahmen eines im Vorhinein durchgeplanten und in der Teamsitzung vorgestellten Projekts, das in einem Brief an die Eltern mit abzutrennender Anmeldung, der natürlich nur von Mathilda verfasst werden kann wegen der Außendarstellung, und überhaupt kann sie das natürlich als erfahrene Chefin am besten, angekündigt wird, ist es möglich, solcherlei Häuser zu bauen – aber auch nur in dem Fall, wenn sich genügend Kinder anmelden, um die Angestelltenressource zu rechtfertigen, die bei einem solchen Projekt eingeplant werden muss.“
Gregor war verwirrt, weil es so viel bei diesem Haus für das Meerschweinchen zu beachten gab. Er versprach Kilian dennoch, es mit ihm später am Tag anzugehen.
Martin, Philipp und Gustav wollten mit ihm Fußball spielen, was wiederum nicht ganz einfach war, da er laut Dienstplan im Haus anwesend zu sein hatte. Die Anwesenheit war selbst dann unverrückbar vorgeschrieben, wenn sich in dem Raum, in dem man sich aufhalten musste, noch andere Mitarbeiterinnen aufhielten. Mitarbeiterinnen gab es genug, auch wenn Gregor mit dieser Ansicht alleine dastand, denn er hörte immer nur, dass es zu wenige seien: Klagen gehörten wohl zum Geschäft. Spontane Absprachen der Angestellten untereinander waren untersagt, und keine der Kolleginnen war im Stande, Mathildas Anweisungen abzuändern: Sie schienen überzeugt von der Notwendigkeit solcher Vorgaben; jahrelange Mitarbeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Gregor versprach den Jungen, es im Laufe des Tages irgendwie einzurichten. Er schlug ihnen vor, sich weitere Mitspieler zu suchen und erst einmal ohne ihn Fußball zu spielen.
Um die Jungen zufriedenzustellen, hätte es genügt, mit ihnen einige Minuten zu spielen. Danach wäre es sicherlich problemlos möglich gewesen, sich mit dem Hinweis auf andere Aufgaben zu entschuldigen – aber das wusste Mathilda nicht.
Samira wollte mit Gregor malen und Sara wollte die Geschichte mit den Schafen hören, die sie immer wieder hören konnte. William kam auf Gregor zu, um mit ihm zu kickern: Es war erfreulich zu sehen, wie erfreut und tatendurstig die Kinder Gregors Anwesenheit registrierten. Seine Handlungsmöglichkeiten waren jedoch eingeschränkt, und jedwede Aktion in einem Brief anzukündigen, kam den spontanen Bedürfnissen der Kinder auch nicht immer entgegen – aber das konnte Gregor als Auszubildender einfach noch nicht durchschauen, schließlich befand er sich am Anfang seiner Entwicklung, wie Mathilda immer sagte.
Zuerst nun half Gregor Eva dabei, ihr Kissen zu vollenden, was sie ungestört tun konnten, da Nähen tatsächlich erlaubt oder zumindest geduldet war, auch ohne Brief. – Gregor dachte an seinen heutigen ersten Besuch – es handelte sich um einen wichtigen Schritt hin zum Abschluss der Ausbildung. Diesen hatte er umfangreich schriftlich vorbereitet. Allerdings hatte es sich Frau Biest nicht nehmen lassen, seine Vorbereitung zu korrigieren, so dass nun anzunehmen war, dass es schwierig werden würde, diesen theoretischen Plan in der Realität, um die es hier eigentlich ging, umzusetzen.
Entsprechend ihrer Funktion als Praxisanleitung war in der Vorbereitungsphase Mathilda hinzugetreten, um an dem einen oder anderen Punkt seiner Schrift herumzumäkeln. Als er ihr jedoch von Frau Biests Korrekturen berichtet hatte, war sie ins Schwurbeln geraten, hatte ihre vorherige Kritik relativiert und war am Ende von der Planung ziemlich angetan gewesen.
Abschließend hatte Mathilda für Gregor ausgeführt: „Jetzt musst du nur noch beweisen, dass du in der Lage bist, diese gute Planung auch umzusetzen: Es ist schließlich das Handwerk eines guten Erziehers, das dieser es schafft, seine Planungen auch in die Praxis zu bringen.“
Realitätssinn spielte während dieser Ausbildung keine Rolle – das hatte Gregor bereits verstanden.
Mathilda drehte ihr Fähnchen beständig in den Wind. Sie hatte sich ihre Chefinnenposition erarbeitet, was ihr nicht leichtgefallen zu sein schien. Ihr Bestreben war darauf ausgerichtet, keine Fehler zu machen, aus denen auch nur der geringste Kritikpunkt hätte abgeleitet werden können. Kritik akzeptierte sie nicht. Jegliche Beanstandungen erstickte sie mit einem Wortschwall. Daher gab es bei ihr auch keine Spontanität, sondern ausschließlich schriftlich geplante Vorgänge, deren Niederschrift es ermöglichen sollte, im Falle von Kritik, auf etwas verweisen zu können, das Korrektheit suggerierte.
Wenn Gregor von Mitauszubildenden hörte, wie diese zum Teil in ihren Einrichtungen unterstützt wurden, musste er neidisch werden: Bei Mathilda gab es nur Formales, das die praktische Arbeit lähmte. Und nun kam heute auch noch seine Ausbildungslehrerin, wie sie sich nannte, die auch nicht gerade von der Praxis geküsst war, für einen Praxisbesuch, wie sie ihn nannte, zu ihm gereist, um seine Entwicklung zu beurteilen – hoffentlich konnte Frau Biest das.
Gregors Ausbildungsgebilde war eine verrückte Welt: Die Kinder und deren Eltern schätzten ihn, was das Verhalten der Kinder ihm gegenüber deutlich machte und was die Gespräche zeigten, die Gregor mit den Eltern regelmäßig führte, obwohl Mathilda ihm diese noch einmal ausdrücklich untersagt hatte: Offenbar sah sie sein gutes Verhältnis zu den Müttern und Vätern und befürchtete, es könnten negative Äußerungen in ihre Richtung fallen, was naheliegend war.
Diejenigen also, die das Angebot der Ganztagsbetreuung in Anspruch nahmen, waren mit Gregors Arbeit sehr einverstanden. Mathilda und Gregors Ausbildungslehrerinnen allerdings schienen keinen Mann in ihre ihnen bisher vorbehaltene Arbeitswelt eindringen lassen zu wollen – wobei eindringen die treffende Vokabel zu sein schien.
Die Erlebnisse während seiner Ausbildung ermöglichten es Gregor, nachzuvollziehen, wie sich Frauen fühlen mussten, die in berufliche Männerdomänen vorzudringen versuchten – die sogenannte Frauenquote erschien hier in einem anderen Licht. Im Stillen forderte er bereits eine Männerquote, zumindest für diese Einrichtung. Da sie ihn beständig gängelte, fragte er sich, weshalb Mathilda ihn eingestellt hatte. Sie hatte davon gesprochen, dass die Kinder im Grundschulalter oftmals zu Hause ihre alleinerziehenden Mütter, in der Schule Lehrerinnen und nachmittags Erzieherinnen sehen würden. Es war durchaus einleuchtend gewesen, dass den Kindern, und oft vor allem den Jungen, die männliche Realität fehlen würde.
Sehr wahrscheinlich hatte es sich bei ihrer Entscheidung, ihn einzustellen, um eine repräsentative Entscheidung gehandelt, um der Außenwelt immerwährendes Vorwärtsdrängen zum Wohle des Kindes vorzugaukeln.
In der Berufsschule, die Gregor und seine Mitauszubildenden während des Praxisjahres in Blöcken an einigen Tagen im Monat besuchen mussten, kam der Eindringfaktor zum Tragen, indem sich die eine oder andere Auszubildende Verhaltensweisen erlauben konnte, die Gregor und seinen männlichen Mitstreitern niemals gestattet worden wären. Darüber hinaus traten die Lehrerinnen gegenüber männlichen Anwärtern bei ihren Besuchen in den Einrichtungen scheinbar ganz besonders kritisch auf: In der Berufsschule war ein Video präsentiert worden, dessen Inhalt die Ausbilderinnen als vorbildlich angekündigt hatten. Dieses Video hatte ein Auszubildender, Michael, bei einem Praxisbesuch von sich erstellen lassen (müssen). Michael befand sich im zweiten Anlauf, was bedeutete, dass die Ausbilderinnen ihn in seinem ersten Praxisjahr hatten durchfallen lassen. Daher sah er offensichtlich seine beruflichen Ziele untergehen, so dass er sich in jegliche Schikane gefügt hatte. Wie dieser Mann, der ungefähr in Gregors Alter war, sich vor den Kindern blamieren musste, um den Forderungen seiner Ausbildungslehrerin, es hatte sich um Frau Blume gehandelt, gerecht zu werden, hatte Gregor einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen und hatte ein Gefühl des Fremdschämens erzeugt. Er konnte sich seitdem in etwa vorstellen, was ihn erwartete. Die mit der Lehre beauftragten Damen hatten sich jedoch äußerst befriedigt gezeigt – Gregor wusste nicht, ob sie dieses Gefühl von zu Hause kannten, womöglich brauchten sie Ersatz. Jedenfalls hatten sie Michaels kindgerechten Umgang gepriesen, das Video an Stellen angehalten, an denen er gerade angeblich eine besonders pädagogisch wertvolle Bewegung gemacht hatte, wo seine Körperhaltung angeblich offen und kindgerecht gewesen war.
Es hatte sich um eine für alle peinliche Situation gehandelt, insbesondere aber für Michael, der verloren in der Runde der Zuschauenden hatte sitzen und sich zu allem Überfluss auch noch zu seinen Taten hatte äußern müssen: Gregor hatte ihn sein Bier öffnen sehen, sobald er zu Hause war, wahrscheinlich aber hatte er dies bereits in der Bahn getan.
Die Einzigen, die von jeglichen Peinlichkeitsgefühlen verschont geblieben waren, waren die Lehrerinnen gewesen. Man konnte ihnen jedoch keinen Sadismus unterstellen – das wäre zu weit gegangen. Sie glaubten lediglich an das, was sie sagten und taten: Die Männer mussten erzogen werden.
Gregor hatte seinen heutigen Besuch zwar umfangreich vorbereitet, aber es schien so zu sein, dass er vorbereiten konnte, was der wollte, gut werden konnte es nicht, dafür sorgten die Damen bereits im Vorfeld durch ihre praxisuntauglichen Korrekturen. Und in zwei Stunden bereits kam Frau Biest, seine Ausbildungslehrerin, die ihn immer duzte und sich selbst siezen ließ, eine Frau, ungefähr so alt wie Gregor. Die Verhältnisse waren klar: Hier die Chefin, da der Auszubildende.
Frau Biest war von allem abgesehen eine Erscheinung für sich. Offensichtlich hatte sie sich durch Studium und Referendariat gebissen, denn schließlich war sie nun Lehrerin, doch dabei hatte sie Federn gelassen: Sie war fast dürr und außerdem aufbrausend und engstirnig. Sie hatte zwar ihren Abschluss erreicht, war aber im Wortsinne von Bildung ungebildet geblieben, da der Kampf zu hart gewesen war. Doch ihr angepasstes Verhalten hatte sie an die Position gebracht, nun ausbilden zu dürfen – eine offensichtliche Überforderung.
Gregor arbeitete noch mit Eva an ihrem Kissen, als ein Bote auftauchte: Es handelte sich um Anja, die ihm die Nachricht Mathildas überbrachte, dass an diesem Tag Frau Biest verhindert sei und stattdessen Frau Blume ihn besuchen würde, was man Mathilda soeben telefonisch mitgeteilt habe.
Es kam also gleich nicht das Biest, sondern die Blume, um Gregor zu beurteilen – Frau Blume, die noch vor einigen Wochen einen seiner Mitauszubildenden in einem sozialen Netzwerk im Internet versucht hatte, zu einer Liaison zu überreden, was alle Freunde des Mitschülers auf dessen Profil hatten mitverfolgen können, was Frau Blume vermutlich nicht gewusst hatte. – Gregor dachte an das Video, das von Michael gemacht worden war, und war voller Zuversicht.
Nachdem Eva an ihrem Kissen den letzten Stich gesetzt hatte, ging er in Richtung äußere Lernumgebung und kam dabei an Mathildas Büro vorbei, in dem sie sich mittlerweile wieder verschanzt hatte und wichtigste Arbeit erledigte. Im Büro sah er sie mit zwei Kindern, die sie vermutlich kaum kannte, bei einem ihrer berühmten Streitschlichtungsgespräche sitzen: Die beiden Kinder mussten sich also gestritten haben. Streithähne wurden gewissenhaft von den Kolleginnen zu Mathilda gebracht, vorausgesetzt, sie war da, und dann hatte diese ihren großen pädagogischen Auftritt.
Sehr wahrscheinlich hätte es gereicht, hätte die Kollegin, die den Streit beobachtet hatte, einige versöhnungsstiftende Worte an die Kinder gerichtet. Doch Mathilda hatte ein wichtiges Buch, den Ratgeber von der Fortbildung, zur Hand und sowieso schon seit langem aus ihrer pädagogischen Praxis heraus erkannt, dass nur so kindgerecht gehandelt werden konnte, wenn sie ein banales, so nannte es Gregor, mindestens fünfzehnminütiges Schlichtungsgespräch führte à la: „Würdest du es mögen, wenn man dich von der Brücke stürzt?“ Ihr Vorgehen war selbstverständlich von jeglicher Wissenschaft bestätigt, wie sie oft genug berichtete.
Wie sollte Gregor mit seinem Handeln bloß die Ansichten seiner Ausbilderinnen bedienen?
Seine Zuversicht stieg, und zwar auch deshalb, weil Frau Biest und Frau Blume große Stücke auf Mathilda hielten. Selbstverständlich waren Mathilda und Frau Blume per Du und pflegten einen kumpelhaften Umgang. Im letzten Jahr hatten die Frauen gemeinsam eine junge Auszubildende erledigt, die es gewagt hatte, Mathilda einmal zu oft zu widersprechen: Bei Widerspruch hatten auch Frauen in der Lernumgebung nichts zu lachen. So, wie Gregor von seinen Kolleginnen gehört hatte, war die Auszubildende schrecklich unfähig gewesen. Mathilda und Frau Blume waren ein kompetentes Team, so hatte Anja es genannt, was sich jedoch nur auf die Außendarstellung bezogen haben konnte, denn Mathilda, sehr korpulent, vielleicht 1,60 Meter groß, immer gestresst durch die ungeheure Verantwortung, die sie zu tragen hatte, hatte ein Sendungsbewusstsein, das so weit ging, dass sie den Lehrerinnen der Grundschule den richtigen Umgang mit Kindern erklärte. Frau Blume war wirklich adipös und willfährig, war überzeugt von ihrer Kompetenz und scheinbar auf vielen Gebieten unausgelastet, bedachte man den Annäherungsversuch an ihren Schüler, der für erhebliche Heiterkeit gesorgt hatte. Dabei konnte sie sich glücklich schätzen, dass ihr Schüler es bei seiner Heiterkeit belassen hatte: Schlechte Noten waren für ihn jedenfalls nicht mehr zu erwarten, Frau Blume musste ihn schnell loswerden.
Endlich gab es einmal einen Mann, der die Ausbildung wohl definitiv bestehen würde.
Mit diesen angenehmen Damen, mit Frau Blume und Mathilda, durfte Gregor sich am heutigen Tage auseinandersetzen, was eine wenig verlockende Aussicht war: Gab es hier noch eine Strategie, die verfolgt werden konnte, die Aussicht auf Erfolg versprach? Doch Gregor richtete den Blick nach vorne und glaubte an den Erfolg, auch wenn das schwierig war. Aber zu glauben, war ja grundsätzlich nicht ganz einfach, so dass er es schon versuchen konnte. Der Glaube war so unergründbar, wie es die Ausbilderinnen waren. Philosophisch betrachtet waren jedoch sowohl Mathilda als auch Frau Blume außerhalb ihrer beruflichen Existenz auch Privatpersonen, Menschen, die Freunde, vielleicht Partner und Bekannte hatten. Hatten sie ein solches Umfeld, dann legte dies nahe, dass sie sich so verhalten konnten, dass andere sie mochten. Ein solches vernünftiges Verhalten konnte daher theoretisch auch im beruflichen Rahmen an den Tag gelegt werden – möglich wäre es. Aber dagegen sprach, dass der Beruf für diese Damen, so schien es, Kampf im Sinne Darwins war: Was trieb sie wohl um? Gregor verstand nicht, auf welche Weise er für ihre spezielle Funktion eine Konkurrenz sein konnte.