Читать книгу Die Caravaggio-Verschwörung - Nicole-C. Vosseler - Страница 12

7. Kapitel

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Dank der kräftigen Winde der vergangenen Nacht, die von Süden über das Mittelmeer hinweggefegt waren, hatte eine ganze Reihe von Schiffen ihren Bestimmungsort Neapel nahezu zeitgleich erreicht und sich an die Anlegestellen entlang des Kais gedrängelt. Nachdem Segel eingeholt, Anker ausgeworfen und Waren entladen waren, strömten die Seeleute in die Gassen rings um die Piazza del Mercato. Die Heuer der vergangenen Fahrt galt es hier im Hafenviertel auf den Kopf zu hauen: die von der salzigen Luft aufgerauten Kehlen mit Wein zu befeuchten und sich zu stärken, ehe man weiterziehen würde, um andere fleischliche Gelüste zu stillen. Die Taverne »Zum Bullen« im Vico Molino stellte eine beliebte erste Anlaufstelle dar. Der Wein bei Giuseppe war billig, aber gut und für wenige Sestini bekam man obendrein eine einfache, schmackhafte Mahlzeit.

Der Schankraum der Taverne war an diesem Nachmittag daher zum Bersten voll und Riccardo hatte gut zu tun. Das Tablett mit einem halben Dutzend gefüllten Bechern über seinen Kopf gestemmt, quetschte er sich an einem Pulk spanischer Matrosen vorbei, die sich hämisch über ihren Kapitän ausließen, und nickte zur anderen Seite mit dem Kopf, um den beiden Franzosen zu bedeuten, dass er ihren Ruf nach Nachschub verstanden hatte. Geschickt wich er einem rotgesichtigen, schon leicht schwankenden Niederländer aus, der ein ums andere Mal seinen Becher hob und niemand Bestimmtem ein feuchtfröhliches »proost« entgegenschmetterte. Am Tisch unmittelbar dahinter setzte Riccardo sein Tablett ab. Reihum verteilte er die Becher, während die Gäste ihr Kartenspiel sowie die Unterhaltung wieder aufnahmen, die von einem starken Mailänder Akzent eingefärbt war.

Das babylonische Stimmengewirr, das in der Taverne alltäglich war, hatte Riccardo vom ersten Tag an wie ein Schwamm aufgesogen. Selbst wenn er für Lorenzo, den Koch der Taverne, auf dem Markt Öl und Gemüse oder direkt im Hafen eine Kiste Fisch abholte, hielt Riccardo immer die Ohren offen, um die spitzen, verwickelten Laute des Türkischen und die kehligen, angehauchten des Arabischen zu entschlüsseln.

Als er sich zwischen den Gästen hindurchzwängte und um die Ecke der Theke bog, fiel Riccardos Blick auf ein Flugblatt, das wohl jemand fallen gelassen hatte. Riccardo hob es auf, faltete es sorgsam zusammen und schob es in seinen Hosenbund, um es in einer freien Minute zu studieren.

Nur zwei Jahre hatte Riccardo die Schule besuchen können; dann waren nach seiner jüngeren Schwester Marcella noch in schneller Folge drei Brüder zur Welt gekommen, war der schmale Verdienst von Vater Pezza für wichtigere Dinge benötigt worden als Bücher und Schulgeld, und mit dessen Verschwinden war daran ohnehin nicht mehr zu denken gewesen. Das Lesen bereitete Riccardo mittlerweile kaum mehr Schwierigkeiten; nur das Schreiben wollte ihm mangels Übung immer noch nicht so recht von der Hand gehen.

»Hier, Junge, die nächste Fuhre für die Speisung der Zehntausend.« Lorenzo lugte durch die Durchreiche. Die dunklen Knopfaugen im altersgegerbten Gesicht Lorenzos blinzelten Riccardo wohlwollend zu, der sich sogleich daranmachte, die bereitgestellten Teller auf seinen linken Unterarm und Handballen zu schichten und in Öl und Knoblauch gebratene Auberginenscheiben, Speck und Lauch auf Pizza, Maccheroni mit Pilzen oder einfach Käse, Zwiebelringe und Oliven zu Brot an die hungrigen Gäste zu verteilen. Lorenzo war es auch, der dafür sorgte, dass Riccardo zwischendurch noch einen schnellen Happen extra erhielt, wenn der Wirt gerade im Kellergewölbe zwischen den Fässern rumorte oder draußen auf der Gasse ein Schwätzchen hielt. Manchmal steckte der Koch ihm samstagabends auch einen halben Laib Brot oder ein großes Stück Käse zu, das Riccardo in seinem Hemd hinauf in seine Kammer schmuggelte und am andern Tag seiner Familie mitbrachte.

Selbst wenn es ihm Giuseppe nicht ständig unter die Nase gerieben hätte, wusste Riccardo, dass er für diese Anstellung dankbar sein musste. Es war gutes Geld, das er hier verdiente; Geld, das dafür sorgte, dass seine Geschwister keinen Hunger leiden mussten und halbwegs anständige Kleidung am Leib trugen. So betrachtet hatte Riccardo Glück gehabt. Dass er Caterina begegnet war, war jedoch zweifellos sein größtes Glück gewesen. Gänzlich verloren hatte sie am Fest von San Gennaro auf dem Domplatz gestanden, mit ihrem säuberlich gescheitelten und im Nacken zu einem dicken Knoten geschlungenen hellbraunen Haar, das unter dem Rand der Haube im Sonnenlicht golden bis kupfern aufschimmerte, wenn sie den Kopf drehte. Dieses seltsame Mädchen, das kaum ein Wort herausgebracht, ihn nur aus ihren großen Augen angeschaut hatte. Kluge, warme Augen besaß sie, die neugierig, aber vorsichtig blickten. Ein doppeltes Glück für Riccardo war es gewesen, dass Giuseppe vom Magistrat der Stadt keine Erlaubnis erhalten hatte, nach Sonnenuntergang vor dem duomo weiter Wein auszuschenken. Dass die Taverne zudem den ganzen Tag geschlossen bleiben würde, weil sich die Feierlaunigen zu Ehren San Gennaros auf dem Domplatz sammelten und das Hafenviertel ausnahmsweise so gut wie leer blieb. Diesem Umstand plus der Tatsache, dass Giuseppe selbst ordentlich auf den Putz zu hauen gedachte, sobald der Stand abgebaut war, verdankte Riccardo einen seiner raren freien Abende. Und die einmalige Gelegenheit, das Mädchen mit den schönen Augen näher kennenzulernen.

Riccardos Mundwinkel kräuselten sich zu einem verstohlenen Lächeln, während er mechanisch leere Trinkgefäße und Teller abräumte, frisch befüllte an die Gäste verteilte und dabei mit seinen Gedanken bei Caterina war.

Zusammen mit Fabio, Nando und Tino hatte er wie verabredet am Hauptportal auf die drei aus dem Palazzo Salerno gewartet und gemeinsam waren sie über den Domplatz geschlendert, hatten sich Wein geholt und eine scharf gewürzte pizza geteilt. Die Jungen versuchten, den Mädchen mit Schauergeschichten aus den Gassen Neapels zu imponieren, die die Mädchen mit nur halb ungläubigem Gelächter quittierten. Die Nacht hatte sich schon über den duomo herabgesenkt, Fackeln und Laternen waren entzündet worden, als sich Giovanni und Anna absetzten und zwischen den Buden verschwanden. Und als Riccardos Freunde bemerkten, dass ihr großspuriges Gehabe und ihre Prahlereien zwecklos waren, die Augen Caterinas nur dem ruhigen Riccardo galten, verzogen sie sich ebenfalls.

Zusehends war Caterinas Zurückhaltung geschmolzen; leichthin plauderte und scherzte sie mit Riccardo. Staunend stand sie vor dem Feuerschlucker und lachte über die Possenreißer, die mit den Feiernden ihre derben Spaße trieben – ein Lachen, das Riccardo betörte: silberhell und doch hörbar ganz tief aus ihrem Bauch kommend. Wie von unsichtbaren Bändern zusammengezogen, prallten Riccardo und Caterina hin und wieder beim Gehen zusammen, fuhren unter hastigen Entschuldigungen auseinander und hielten größtmöglichen Abstand, um gleich darauf doch einander wieder mit Armen oder Schultern zu streifen.

Nur sobald Riccardo mehr über sie wissen wollte, klappte Caterina zu wie eine Jakobsmuschel. Etwas bedrückte sie, das las er aus der Art, wie sie die Lider niederschlug und auf ihrer Unterlippe herumkaute, und wie sie dies tat, ließ ihn sich noch mehr für sie erwärmen. Schließlich, den nächsten Becher Wein in den Händen, hatte sie voller Verlegenheit hervorgesprudelt, dass sie gar kein Dienstmädchen des Palazzo Salerno war, sondern die Tochter des Hauses, für einen Tag in Verkleidung, um unbeschwert mitfeiern zu können.

Die Pflastersteine des Domplatzes hatten sich für einen Moment unter Riccardo gehoben und wieder gesenkt, während er Caterina ungläubig anstarrte. Nicht minder verlegen hatte er sich schnell für das entschuldigt, was er am Nachmittag über Federico di Salerno gesagt hatte.

»Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen«, gab Caterina mit einem Kichern zurück. »Gänzlich falsch war es ja nicht.« Sie schluckte, räusperte sich und kratzte mit dem Daumennagel am Rand des Bechers herum. »Magst . . . magst du mich trotzdem noch leiden?«

Riccardo wusste erst nichts darauf zu antworten. Die Tochter von Federico di Salerno, leibhaftig, hier, mit ihm – wohin sollte das noch führen? Nirgendwohin, du Narr, orakelte düster eine innere Stimme. Und doch brachte er es nicht über sich, sie auf der Stelle stehen zu lassen; er fühlte sich überrumpelt und gleichzeitig überwältigt von ihrer Ehrlichkeit, die sie sichtbar einiges an Überwindung gekostet hatte. Stattdessen sprach er einfach das aus, was er fühlte: »Klar kann ich dich noch leiden.«

Das Strahlen, das sich auf Caterinas Zügen ausbreitete, kam Riccardo sogar noch heller vor als der Schein der Fackeln und Laternen auf dem nachtdunklen Domplatz; eine kleine, herzförmige Sonne, die vor ihm leuchtete und ihn bis in den kleinen Finger und in die Zehenspitzen wärmte. Als gäbe es nur noch Caterina und ihn, keine immer ausgelassener feiernde, singende, hüpfende, tanzende Menge um sie herum. Und als sie unter dem Lärm kaum hörbar erwiderte: »Ich kann dich nämlich auch gut leiden«, wurden seine Knie weich. Wie von selbst fanden sich ihre Finger, verhakten sich und hielten sich fest.

Bis zu diesem Tag waren Riccardos Tage grau und öde gewesen; erst Caterina verlieh ihnen Farbe, Freude und Zuversicht. Caterina war die Würze in Riccardos Dasein, in jeder der gestohlenen Nachtstunden und in der viel zu langen Zeit dazwischen.

»Steh nicht blöd grinsend hier herum – dahinten verdurstet schon jemand! Ich bezahl dich schließlich nicht fürs Maulaffenfeilhalten!«

Die donnernde Schelte dicht neben ihm und ein Schlag gegen den Hinterkopf rissen Riccardo aus seinen Gedanken und aus dem Gleichgewicht; hart prallte er mit dem Hüftknochen gegen die gemauerte Theke. Der tönerne Becher, den er gerade mit einem Lappen trocken rieb, glitt ihm aus den Fingern, knallte mit einem hohlen Klonk! auf die Kante der Theke und zersprang dann klirrend auf den Fliesen.

»Du Trottel! Den zieh ich dir vom Lohn ab!«, brüllte Giuseppe eine Spur lauter, seine Pranke noch hinter Riccardo erhoben. Einen Moment war es fast still in der Taverne; die Gäste machten lange Hälse; ein paar von ihnen lachten.

»Zieh Leine, du Taugenichts!« Der vierschrötige Wirt schubste Riccardo beiseite, als dieser sich anschickte, sich zu bücken und die Scherben aufzusammeln, sodass er sich an der Wand Schulter und Ellenbogen stieß. »Kümmre dich um die Gäste und untersteh dich, heut noch mal was zu zerdeppern!«

»Ja, padrone«, presste Riccardo hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, als er sich aufrappelte, kurz über seine Blessuren rieb, bevor er sich das beladene Tablett schnappte und durch den Gastraum humpelte, in dem es erneut summte wie in einem Bienenstock.

Mehr als zuvor sehnte er sich danach, Caterina heute Nacht zu sehen.

Damit er bei ihr diesen Tag vergessen konnte.

Die Caravaggio-Verschwörung

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