Читать книгу Die Caravaggio-Verschwörung - Nicole-C. Vosseler - Страница 8

3. Kapitel

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Die Glocken der Basilika Santa Chiara schlugen die Stunde und San Giovanni Maggiore ganz in der Nähe beeilte sich, es ihr gleichzutun. Riccardo und Caterina zählten beide stumm die Zahl der Schläge mit. Die Nacht ging ihrem Ende entgegen und damit ihre gemeinsame Zeit.

Wortlos standen sie auf; Caterina stopfte ihr Haar zurück unter die Haube, Riccardo zog sein Wams wieder über und stapelte die Heubündel zurück an ihren Platz.

Hand in Hand, Caterinas kleine, zarte in der großen, schwieligen Riccardos, wanderten sie durch die Gassen, die nun in tiefem Schlaf lagen.

An der Ecke zur Via Benedetto Croce blieben sie stehen und küssten sich ein letztes Mal, hielten sich eng umschlungen. »Sehen wir uns morgen?«

»Oh, ich würde so gerne!« Caterina klang unglücklich. »Aber mein Vater hat eine Einladung ausgesprochen und ich muss die Dame des Hauses geben.« Sie schnitt eine Grimasse. »Wer weiß, wie lange das dauert und ob ich es danach wagen kann, mich auf den Weg zu machen. Nicht, dass mein Vater noch auf ist und ich ihm womöglich in die Arme laufe.«

»Ich werde da sein und auf dich warten. Wenn es sein muss, die ganze Nacht.« Riccardos Hände legten sich um ihr Gesicht und er hauchte einen Kuss auf ihren Mund. »Gute Nacht, bellissima.«

»Gute Nacht, caro mio.« Sie umfasste sein Handgelenk und drückte ihre Lippen in seine Handfläche. Langsam ließ sie ihn los, machte zwei Schritte rückwärts und wandte sich dann um.

Riccardo sah ihr nach, wie sie die Straße überquerte, wie Giovanni ihr das Tor öffnete und Caterina dahinter verschwand. Er verharrte noch einige Augenblicke auf der Stelle, bevor er kehrtmachte, zurück in Richtung des Hafens, wo ihn sein Strohsack auf dem Dachboden des »Bullen« erwartete.

Mit einem warmen Gefühl im Bauch huschte Caterina quer durch den verlassenen dunklen Innenhof und die Steinstufen zum Eingang des Seitenflügels hinauf. Sorgsam verriegelte sie die Tür mit dem bleigefassten Glasfensterchen wieder hinter sich und schlich unter herzhaftem Gähnen die Treppen empor und den Korridor entlang.

»Caterina?«

Ihre bestrumpften Zehen lösten sich vom Boden und verharrten in der Luft. Eines der Plättchen in der kostbaren Einlegearbeit aus Holz musste sich gelockert haben und hatte sie mit einem leisen Klicken verraten. Auf dem anderen Bein balancierend, die von Anna geborgten Schnallenschuhe in der Hand, hielt sie die Luft an, bemüht, nicht noch ein unwillkommenes Geräusch zu verursachen.

Es war eine Mär, dass alte Leute schlecht hörten; vielmehr entsprach es der Wahrheit, dass ihre Ohren nur taub waren für alles Nebensächliche und Unangenehme, während sie das, was sie nicht hören sollten, überdeutlich wahrnahmen. Das hatte Caterina gerade begriffen.

Aus dem Augenwinkel schielte sie zu der geschlossenen Tür hin, unter der ein schwacher Lichtschimmer auf den dunklen Korridor drang. Wie lange ihre Großmutter wohl schon wach gelegen hatte?

»Caterina? Bist du das, mein Kind?«

Die feine Stimme der alten Frau flackerte, klang angespannt und brüchig und Caterina konnte die Furcht darin heraushören. Was würde ihrer Großmutter größeres Leid zufügen: die Vorstellung, ein Dieb triebe sich womöglich auf der Suche nach Gold und Geschmeide im Haus herum – oder zu erfahren, dass sich ihre einzige Enkeltochter aus dem Haus gestohlen hatte, um sich auf der Straße mit einem Burschen zu treffen?

Sie atmete aus und unterdrückte den Seufzer, der in ihrer Brust emporstieg, stellte den Fuß zurück auf den Boden und schob die Tür auf.

»Kannst du wieder nicht schlafen, nonna?« Die Zärtlichkeit in ihrer Stimme war nicht gespielt; Caterina wurde weich, sobald sie nur die zerbrechliche Gestalt in dem riesig wirkenden, langärmligen Nachthemd unter der Bettdecke sah und das flaumige weiße Haar, auf dem eine Schlafhaube thronte.

»Ist nicht weiter schlimm, schlafen kann ich bald noch genug. Ich habe mich nur so erschrocken! Da war dieses Geräusch . . . Komm doch her, mein Mädchen, komm her zu mir!« Begierig streckten sich ihre Hände Caterina entgegen. Caterina schloss die Tür und ging hinüber zu dem mächtigen Bett. Das Rascheln ihrer Röcke, als sie sich auf der Bettkante niederließ, nutzte Caterina, um die Schuhe möglichst lautlos auf dem Boden abzustellen.

»Lass dich ansehen.« Gehorsam neigte Caterina den Kopf zu ihr hin. Die Fingerspitzen ihrer Großmutter glitten über Caterinas helle Haut, entlang der Mulden unter den goldbraunen Augen, befühlten die Konturen des herzförmigen Gesichts, das zu Caterinas geheimem Kummer nicht die Spur von Wangenknochen zeigte, aber wenigstens von einer hübschen kleinen Nase geziert wurde. Jedes erfühlte Detail schlug sich in raschen Bewegungen der milchigen Augäpfel nieder. Als vergliche die alte Frau alles mit den Bildern, die sie aus jener Zeit in sich trug, in der ihre Welt noch nicht allein aus Schemen bestanden hatte.

»Du bist ja ganz heiß«, rief sie voller Sorge aus. »Du hast dir doch nicht etwa ein Fieber geholt? Bist du deshalb noch auf? Der September ist ein trügerischer Monat. Tags ist er noch warm wie der Sommer, aber in den Nächten –«

Sanft bog Caterina ihren Kopf zurück, weg von den allwissenden Händen ihrer Großmutter.

»Mir geht es gut, sei unbesorgt.«

»Ach, ich weiß, ich bin eine alte Glucke«, seufzte die Greisin. »Aber wenn man so viele Menschen vor der Zeit begraben musste wie ich, dann –« Sie unterbrach sich, als sie nach der Hand ihrer Enkelin tastete und dabei den Stoff von Caterinas Röcken streifte – nach einem Nachtgewand fühlte sich Annas Kleid sicherlich nicht an. Die silberweißen Augenbrauen der alten Frau zogen sich zusammen, als sie Caterinas Rockschoß befingerte und das Miederleibchen, das viel zu locker saß, weil Anna nicht nur zwei Jahre älter war als Caterina mit ihren vierzehn, sondern auch deutlich fülliger.

Caterina biss sich auf die Unterlippe und senkte schuldbewusst den hochroten Kopf, fieberhaft nach einer Ausrede suchend. Vergeblich; denn sie war noch nie eine gute Lügnerin gewesen, was ihr als kleines Mädchen mehrfach ein brennendes Hinterteil voller Striemen eingebracht hatte.

Unter gesenkten Lidern blickte sie in das Gesicht ihrer Großmutter, in dem es sichtlich arbeitete, bis sich Verblüffung um die schmalen, faltigen Lippen abzeichnete, dann ein harter, strenger Zug.

»Du hast dich wohl aus dem Haus geschlichen.«

Caterina schluckte, setzte zu einer Erwiderung an, blieb diese aber dann doch schuldig. Sie schämte sich, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hatte.

»Wie alt ist er?«

»Ein Jahr älter als ich«, konnte Caterina nur noch heiser flüstern.

Ihre Großmutter schürzte die Lippen über dem nahezu zahnlosen Mund und presste sie wieder zusammen. Der knochige Zeigefinger der Greisin strich über Caterinas Handrücken. »Ist er ein guter Junge?«

Caterinas Erstaunen über den sanften Tonfall dieser Frage versank in der Flut an Gefühl, das in ihr aufquoll und ihre Stimme zittern ließ. »Sehr, nonna.«

Die alte Frau nickte sachte; dann schlossen sich ihre Finger um Caterinas Hand und drückten sie sanft. »Dann geh schon endlich schlafen und lass dich bloß nicht von deinem Vater erwischen«, fügte sie mit gütiger Bestimmtheit hinzu.

Caterina beugte sich vor und küsste ihre Großmutter auf die Wange, die zerknittert war wie altes Pergament und sich doch so weich anfühlte wie das Blütenblatt einer Rose. »Danke.«

Ein Lächeln glitt über das Gesicht der alten Frau, dann flatterten ihre Lider und schlossen sich. Caterina warf noch einen Blick zurück, dann zog sie leise die Tür hinter sich zu und setzte den Weg zu ihrem Zimmer in Strümpfen und auf Zehenspitzen fort. Unnötig im Grunde, denn außer ihren eigenen Gemächern und denen ihrer Großmutter war der Rest des Flurs verwaist, so wie es auch in den anderen Stockwerken im hinteren Teil des Palazzo Salerno unbewohnte Räume gab. Die Aufteilung des Hauses und seine Einrichtung stammten noch aus den Jahren, in denen die Familie größer gewesen war – bevor der Sensenmann nach und nach seine reiche Ernte eingefahren hatte.

Riccardo wanderte durch die Gassen Neapels, die so ausgestorben dalagen, wie sie es nur taten, wenn die Nacht am schwärzesten war, auf halbem Weg zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Allein diejenigen des Hafenviertels waren um diese Stunde noch nicht ganz menschenleer.

An eine Hauswand gestützt, erbrach sich ein Bursche in Riccardos Alter unter gurgelnden Geräuschen.

Zwei spanische Soldaten, die sich bislang nur lautstark gestritten hatten, gingen dazu über, einander schallende Backpfeifen zu verpassen. Unwillkürlich zog Riccardo die Schultern hoch und heftete seinen Blick auf den Boden, in der Hoffnung, sie würden ihn nicht bemerken. Denn bei den allgegenwärtigen Soldaten, den tausendfachen Tentakeln des verhassten spanischen Vizekönigs, wusste man nie, woran man war. Zu oft nutzten sie ihre Macht, um sich nichtsahnende Passanten zu schnappen und unter Hohngelächter erst durch den Staub robben zu lassen, bevor sie sie zusammenschlugen und mit ihren Stiefeln nachtraten. Sie stahlen und randalierten im Suff, nahmen grundlos Verhaftungen vor und bedrängten Mädchen und Frauen, als ob es rings um den Hafen nicht genug Damen des sündhaften Gewerbes gäbe.

Die Spanier waren die Herren über Neapel und ihr Wort und ihr Handeln war Gesetz. So wie in Mailand, auf Sizilien und Sardinien. In der Toskana, in Genua und einer Handvoll kleiner Staaten im Norden Italiens setzten die Spanier mittels ihrer militärischen Überlegenheit den dortigen Herrschern Daumenschrauben an und selbst der Papst kuschte vor ihrer Übermacht. Nur Savoyen und die Republik von Venedig waren noch wirklich frei zu nennen. Das Ergebnis von sechzig Jahren an Feldzügen und Schlachten, an Plünderungen und Gräueltaten, mit denen fremde Mächte die italienischen Lande überzogen hatten. Und auch jetzt, etwas mehr als zwei Generationen nach dem Friedensschluss, hatte Italien sich noch immer nicht so recht davon erholt, waren die Narben des Krieges allenthalben noch sichtbar – und Italien fest in spanischer Hand.

»Rico! Eh, Rico!«

Riccardo erkannte die weinschwangere Stimme seines Freundes Fabio – der hatte ihm nun gerade noch gefehlt. Er sehnte sich nach ein paar Stunden viel zu kurzen Schlafes, ehe Giuseppe ihn wieder nach unten scheuchen würde, um die Taverne auszufegen.

»Aspetta – so warte doch! Rico!!«

Riccardo tat so, als habe er den Ruf nicht gehört, und beschleunigte seine Schritte, vorbei an einer zusammengekauerten Gestalt auf dem festgetretenen Boden, die den Heimweg offenbar nicht mehr geschafft hatte – oder vielleicht auch gar kein Zuhause besaß.

»Riccardo Pezza! Verflixt noch eins, hast du Bohnen in den Ohren?!«

Sichtbar unwillig verlangsamte Riccardo seinen Sturmschritt, machte auf dem Absatz eine halbe Drehung und blieb schließlich stehen. »Cia’ Fabio«, rief er dem kurzbeinigen, dicklichen Burschen zu, der auf ihn zugeschwankt kam.

Endlich hatte Fabio ihn eingeholt und begrüßte ihn mit einem heftigen Knuff gegen den Oberarm. »Krieg ich dich auch mal wieder zu Gesicht«, keuchte er. »Wo steckst du Pfeife denn die ganze Zeit?«

Riccardo fand, dass Fabio ein wenig übertrieb; es war noch gar nicht lange her, dass sie sich zuletzt gesehen hatten. Vor etwas über einer Woche, zum herbstlichen Fest von San Gennaro am 17. September, hatten sie gemeinsam die nächtlichen Gassen der Stadt unsicher gemacht. Dennoch entsprach es der Wahrheit, dass Riccardo kaum noch Zeit mit Fabio und seinen anderen Kumpels verbrachte. Er fühlte sich ertappt und seine Gewissensbisse ließen ihn unwirsch reagieren. »Hab viel zu tun. Muss auch gleich weiter, ist spät geworden heute.«

Fabio zeigte ein breites Grinsen, das jedoch trotzdem nicht eine unterschwellige Wut zu verbergen vermochte. »Hast dir die Zeit wohl wieder mit diesem Pfefferprinzesschen vertrieben!«, sagte er und packte Riccardo am Ärmel.

Ungehalten schüttelte Riccardo seine Hand ab. »Ich kann’s nicht leiden, wenn du sie so nennst.«

»Dio mio, Rico, du hast deinen Kopf auch nur dafür, dass er dir die Ohren auseinanderhält! Ich hab’s dir schon ein Dutzend Mal gesagt: So eine ist nichts für unsereins! Irgendwann wird’s für sie keinen Reiz mehr haben, sich mit einem armen Schlucker wie dir abzugeben. Dann hat sie das lustige Spiel mit dir verliebtem Trottel satt!«

»Halt die Klappe«, knurrte Riccardo und setzte seinen Weg fort. Es reute ihn einmal mehr, dass er sich Fabio in einer schwachen Stunde anvertraut hatte, der seither keine Gelegenheit ausließ, ungefragt seine Ansicht zu diesem Thema kundzutun.

»Schau, was kann diese Zimtziege dir schon bieten?«, schlug Fabio nun einen schmeichlerischen Tonfall an. Sein weinsaurer Atem wehte Riccardo ins Gesicht. »Es gibt genügend Weiber, die dir schöne Augen machen. Du brauchst nur ein bisschen nett zu sein, schon fressen sie dir aus der Hand! Grazia beispielweise . . .«

»Ah, lass mich doch in Frieden mit deinem Geschwätz!« Riccardo begann zu laufen, schließlich zu rennen, während Fabio zurückblieb.

»Ja, hau ruhig ab!«, hörte er ihn hinter sich brüllen. »Stronzo! Aber komm nicht bei mir angekrochen, wenn du wegen deiner Safranschlampe auf der Nase liegst, hörst du?!«

Mit zusammengebissenen Zähnen rannte Riccardo weiter, darum bemüht, Fabios Worte Lügen zu strafen, jedes Wort, jede Berührung und jeden Kuss dieser Nacht rief er sich von Neuem in Erinnerung, hielt sich daran fest, bis er keuchend an der Hintertür des »Bullen« anlangte und die Treppen hinaufstiefelte.

Ein neuer Tag unter der Knute des Gastwirts lag morgen vor ihm, ein Tag voll stumpfsinniger Knochenarbeit, endlos wie alle vorangegangenen.

Doch mit den Gedanken an Caterina würde er zu ertragen sein.

Die Caravaggio-Verschwörung

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