Читать книгу Die Caravaggio-Verschwörung - Nicole-C. Vosseler - Страница 5

Prolog

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Anno Domini 1606, am achtundzwanzigsten Tag des Monats Mai

Rom feierte. Böller explodierten krachend, deren Schall sich hallend an den Wänden der Häuserschluchten vervielfältigte. Rote Feuerblumen zerplatzten am pechschwarzen Himmel; blaue Funkenfontänen, goldene Leuchtkugeln und silberne Zauberfäden löschten mit ihrer Pracht sogar die Sterne aus. Ihr farbiger Widerschein fiel über die Dächer der Stadt, troff an den Fassaden herunter und verglomm im Zwielicht aus Finsternis und Laternenschimmer.

Im Campo Marzio, dem Herzen der Stadt – manche sagten auch, ihr Gedärm –, wurde besonders kräftig gefeiert. Zwischen den Donnerschlägen des Feuerwerks dröhnte Musik durch die Gassen, darin verwoben Gelächter und schnelle Wortwechsel, die den drohenden Keim einer Rauferei in sich trugen.

Durch den Trubel marschierten vier Männer, forsch, ihre Stiefel bei jedem Schritt fest auf dem Straßenpflaster auftreffend, obwohl auch sie nicht mehr nüchtern waren. Berauscht waren sie nicht so sehr vom Wein der letzten Stunden, sondern allein vom Durst nach dem Mark des Lebens. Eine nie nachlassende Gier, der sie jede Stunde aufs Neue nachgaben, rastlos, schlaflos. Bei Tag und bei Nacht, im Kartenspiel, im Trinken und Feiern, im Kampf und in der Kunst. Nec spe, nec metu war ihr Wahlspruch, weder Hoffnung noch Furcht. Nur Kühnheit und Leidenschaft regierten ihre Welt.

»Merisi!«

Ein Ruf, der sie haltmachen ließ, zuallererst den Mann in ihrer Mitte, dem dieser Ruf gegolten hatte. Es war nicht das vertraute »Michele«, mit dem seine Freunde ihn ansprachen, nicht das singende »Michelangelo«, das so weich und sehnsüchtig über die Lippen der Frauenzimmer kam. Und nichts hätte ihm ferner sein können; ihm, dem stolzen »Caravaggio«, wie man ihn allerorts respektvoll nannte, nach dem verschlafenen Städtchen in der Lombardei, nahe Bergamo, aus dem er vor vierzehn Jahren nach Rom gekommen war. Er – Michelangelo Merisi da Caravaggio.

Seine Augen, schwarz wie Kohlestücke, in denen es beständig glomm, wurden schmal, als sie den Mann erfassten, von dem der Ruf ausgegangen war. Edel gekleidet, der akkurat gestutzte Spitzbart und das Haar unter dem Barett golden aufschimmernd, war er in allem das Gegenteil Caravaggios. Trotzdem hatten sie früher zusammen getrunken, gefeiert und gelacht. Lang, lang ist’s her. . .

»Ranuccio.« Eine nüchterne Feststellung, die wie das Knurren eines Hundes klang.

Drei Männer rahmten Ranuccio Tomassoni da Terni ein, versperrten Caravaggio und seinen Freunden den Weg. Vier gegen vier, wie auf eine geheime Verabredung hin.

»Du schuldest mir noch Geld, Merisi.«

»Ich schulde dir gar nichts«, spie Caravaggio seine Widerworte aus, »keinen einzelnen Soldo!«

»Zehn Scudi, wenn ich dich Hohlkopf daran erinnern darf«, blieb Ranuccio beharrlich. »Dein Einsatz im Pallacorda-Spiel, das du neulich gegen mich verloren hast. Mit deinen Wurstfingern wirst du nie geschickt genug den Ball über das Netz zurückschlagen, genauso wenig, wie du damit deinen Malerpinsel sinnvoll gebrauchen kannst. Geht das nicht in deinen lombardischen Bauernschädel?«

Caravaggios Hand fuhr zu dem Rapier an seiner Seite, doch Petronios Finger gruben sich von hinten in seine Schulter. »Bleib ruhig, Michele«, raunte er ihm zu. »Sie sind uns überlegen – alle vier tragen Waffen; von uns jedoch nur du und ich. Spiel ihnen nicht noch den Trumpf in die Hände, uns schmachvoll im Kampf untergehen zu sehen!«

Caravaggios Atemzüge gingen noch immer schnell und flach und sein voller Mund krümmte sich zu einem verächtlichen Bogen abwärts. Doch Petronio spürte, wie sich die Muskeln seines Freundes entspannten, und er lockerte seinen Griff.

»Du hast recht«, stimmte Caravaggio ihm grimmig und hörbar halbherzig zu, »kein spanischer Speichellecker ist es wert, dass wir uns von ihm den Abend verderben lassen. Schon gar keiner, der sich wie ein greinendes Kleinkind an die Hosenbeine der mächtigen Farnese und Cresczeni klammern muss!«

»Oho«, höhnte Ranuccio, »da reißt aber jemand die Schnauze ganz schön weit auf! Aber ich sag dir was, Merisi: Lieber küsse ich den päpstlichen Hintern von Spaniens Gnaden, als mich überall als Franzosenfreund zu preisen und mich dann doch demjenigen anzudienen, der am besten zahlt. Ich möchte nicht wissen, welch verdorbene Gefälligkeit du dem Heiligen Vater erwiesen hast, damit er dir erlaubte, sein Porträt auf die Leinwand zu schmieren!«

Metall schliff über Metall, als Caravaggios Rapier aus seiner Scheide flog. Klirrend traf die Spitze in der Luft mit dem Ende von Ranuccios Waffe zusammen, der ebenso schnell gezogen hatte. Die Klingen gekreuzt, umkreisten sich die beiden Kampfhähne.

»Schau dich doch an, Merisi: Sobald du für deine Klecksereien einen gut gefüllten Beutel erhältst, lässt du dir ein edles Wams schneidern – und das trägst du dann, bis es auseinanderfällt, weil du dir bis zum nächsten Auftrag kein neues leisten kannst. Der Affe bleibt immer ein Affe, kleidet er sich auch in Samt und Seide.«

»Besser ein Affe als ein ehrloser, putzsüchtiger ruffiano – ein Kuppler, der seine Dirnen meistbietend verschachert!«

Ranuccio schnaubte. »Du hast doch die Gunst meiner Mädchen immer gerne genossen! Für ein paar Soldi hast du sie Modell stehen lassen und für umsonst sind sie dann in dein Bett gestiegen.«

»Bene – dann kannst du mir ja demnächst dein angetrautes Eheweib vorbeischicken, Tomassoni. Oder lässt du ausgerechnet sie nicht für dich anschaffen?«

Ein zischender Laut entfuhr Ranuccio, wie das Fauchen eines Katers, und er trat einen Schritt zurück, hielt aber die Spitze seines Rapiers nach wie vor auf Caravaggio gerichtet. »Pass auf deine lose Zunge auf, du Straßenköter, wenn du sie behalten willst!«

»Forderst du mich etwa?« In einer dramatischen Geste schwang Caravaggio das Rapier quer vor seinem Körper und verbeugte sich mit einem tiefen Kratzfuß darüber. »Es soll mir eine Ehre sein, diese Forderung anzunehmen.«

Es gab kein Zurück mehr. Keiner von beiden konnte jetzt noch auf dem Absatz kehrtmachen und seines Weges gehen, ohne das Gesicht dabei zu verlieren.

»Wohlan.« Entschlossen schob Ranuccio seine Waffe zurück in die Scheide. »Du hast es so gewollt. Auf zum Pallacorda-Feld!«, rief er mit einem Rucken des Kopfes seinen Begleitern zu.

Bis zur Via della Pallacorda war es nur ein Katzensprung. Nachdem sie eine krumme Gasse entlanggeeilt waren, gelangten die Männer durch einen Torbogen auf den Innenhof des Spielfelds. Die Farbexplosionen des Feuerwerks ließen den Sandboden hell leuchten.

»Bedenke noch einmal, worauf du dich einlässt, Merisi«, spottete Ranuccio, als er sich aus seinem Wams schälte. »Ehe ich dich Tölpel aufspieße und dein Gekröse im Sand verteile.«

Caravaggio schwieg, während er Onorio sein zerschlissenes Wams in die Hand drückte und sich in die Mitte der einen Platzhälfte begab. Ohne ein weiteres Wort griff er zu seinem Rapier und streckte es Ranuccio entgegen. »Engarde.«

Dieser ließ den Blick auf seinem Gegner ruhen, nachdenklich, fast bedauernd, zuckte er dann mit einer Schulter und zog betont langsam seine Waffe. »Engarde.«

Sie Umschriften einander im Kreis. Eine gespannte Stille lag über dem Platz, bevor von einem Pulsschlag zum nächsten Klinge auf Klinge schlug. Die Rapiere klirrten gegeneinander und glitten pfeifend übereinander hinweg, lösten sich und begannen erneut ihren gefährlichen Reigen. Die eisernen Töne erstarben in den Pausen, in denen die Duellanten voneinander zurücktraten, mit den Handrücken den Schweiß von ihren Gesichtern wischten und sich unter den anfeuernden Rufen ihrer Zuschauer keuchend wieder aufeinanderstürzten.

Es ratschte, als Ranuccios Waffe Caravaggios Hemdsärmel aufschlitzte und in Haut und Fleisch darunter schnitt; ein Schmerzenslaut war zu hören, dann ein mehrstimmiges Raunen, als dieselbe Klinge quer über Caravaggios Gesicht peitschte.

Rot. Caravaggio sah rot, selbst im Wechselspiel von Nachtlicht und Finsternis, das alle Farben mit Grau überschwemmte. Ein dunkles, sattes Rot, wie die üppige Stoffbahn in seinem Atelier, die ihm als Requisite für seine Gemälde diente.

»Hast du schon genug, Merisi?«

Caravaggio löste die Hand von seiner Stirn, die nass war von Schweiß und Blut.

»Wer keinen Kopf hat, hat Beine, wie es so schön heißt. Vielleicht solltest du die deinen in die Hand nehmen, du nichtsnutziger Farbenkleckser!«

Er sah Ranuccio nur schemenhaft durch den roten Schleier vor seinen Augen. War das sein Blut, das seine Sicht trübte, oder der jäh in ihm emporschießende Zorn? Ein Zorn, der seine Eingeweide zum Kochen brachte und sein Herz lichterloh brennen ließ, bis in seine Kehle hinauf.

Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.

Ranuccios Lachen ging in dem Brüllen unter, mit dem Caravaggio auf ihn zustürmte wie ein verwundeter Stier. Die Wucht der Hiebe brachte Ranuccio aus seinem sicheren Stand ins Taumeln. Er fiel und schlug rücklings im Sand auf.

Einer der Stiefel Caravaggios nagelte ihn an der Schulter fest und die Spitze des Rapiers schwebte über seiner Nasenwurzel.

»Sag, Ranuccio«, mit dem Ärmel der freien Hand rieb sich Caravaggio über die Stirn, um klar sehen zu können, um sich keinen kostbaren Augenblick dieses Triumphs entgehen zu lassen, »wie sehr hängst du an deinem goldenen Engelsgesicht? Meinst du, du vermagst noch irgendein Weib in dein Bett zu locken, wenn nichts mehr davon übrig ist? Oder –«, die Klinge wanderte hinab zur Magengrube, »magst du zusehen, wie ich nun derjenige bin, der Innereien hier auf dem Platz verteilt?«

»Basta, Michele, es ist genug«, rief Petronio dazwischen, doch er vermochte ebenso wenig einen Finger zu rühren wie die anderen Männer. Dieser Kampf würde bis zum Ende ausgefochten werden, bis der Ehre Genüge getan war.

Ranuccio kniff die Augen zusammen und atmete nur flach, um so viel Abstand zum Rapier zu halten wie nur möglich.

»Betest du, Ranuccio?« Ein verächtliches Schnauben entfuhr Caravaggio und er ließ seine Waffe weiter abwärts wandern. »Daran tust du wohl! Denn viel wird dein Leben nicht mehr wert sein, wenn ganz Rom morgen früh weiß, dass du kein richtiger Mann mehr bist«

Die Spitze der Klinge senkte sich herab, und noch ehe sie sanft, beinahe neckend die Ausbuchtung in Ranuccios Hosen berührt hatte, zog dieser hastig sein Knie an, um seine Männlichkeit zu schützen. Gellend der Schrei, als die Klinge in Ranuccios Oberschenkel versank. Ein Blinzeln lang sahen sie einander erschrocken an. Dann glitt das Rapier wieder aus der Wunde und Caravaggio wich zurück. Ranuccios Hände pressten sich auf das Bein, aus dem pulsierend eine dunkle Fontäne schoss. Zäh quoll sein Blut zwischen den Fingern hervor, breitete sich rasend schnell zu einer dunklen Lache auf dem hellen Sand aus.

Ein Schattenwirbel vor Caravaggios Augen, als jemand Ranuccio zu Hilfe kam, zwei zu ihren Waffen griffen und Petronio sie mit seinem Rapier in Schach zu halten versuchte.

»Bringt ihn weg«, hörte Caravaggio ihn brüllen, »bringt ihn bloß weg, sonst –«

Der Rest wurde übertönt vom Rauschen in Caravaggios Kopf, das seine Sinne betäubte, unter dem er auf die Knie sank, vor Schwäche und Schwindel zitternd. Hände, die ihn packten, emporzerrten und mit sich schleiften.

»Wir müssen weg«, keuchte eine Stimme neben seinem Ohr – Onorio? Orazio? War letzterer überhaupt mit dabei gewesen? Er wusste es nicht mehr . . . Wer es auch sein mochte: Er brachte ihn fort. Fort von Ranuccio, fort vom Pallacorda-Feld, hinein in das Gassengewirr der Stadt, das in weinseliger, feiermüder Dunkelheit lag.

»Wenn er stirbt und sie dich kriegen, bist du erledigt! Ranuccio hat mächtige Freunde, bis hinauf zum Heiligen Stuhl. Sie werden es als Mord auslegen und darauf steht der Tod. Wir müssen fliehen, hörst du?! Du musst fort, fort aus Rom!«

Fort aus Rom . . .

»Du hast viel Blut verloren. Halt durch, Michele!«

Halt durch . . .

Malta, Anno Domini 1608, in den ersten Tagen des Monats Oktober

Eines seiner Augenlider flatterte und öffnete sich widerstrebend; das andere zog bald darauf nach. Die feuchte Kälte des Steins, auf dem er ausgestreckt lag, durchdrang ihn bis ins Mark. Sein Mund war ausgedörrt und schmeckte faulig; jeder Atemzug in der stickigen Luft stach ihm zwischen die Rippen. Er rollte sich auf die Seite und blinzelte den Nebel auf seiner Netzhaut fort.

Ratten huschten fiepend über den Boden, das Bauchfell über den Boden schabend. Drei von ihnen suchten den tönernen Napf nach Essbarem ab, gaben aber schnell wieder auf und stoben auseinander. Eine machte unweit seines Gesichts halt und beäugte ihn scheinbar nachdenklich, ehe sie wieder davontrappelte. Noch war er also kein passables Futter für sie.

Noch.

Caravaggio robbte über den Boden, bis er mit der Schulter an eine Wand stieß, an der er sich in eine halb sitzende Position hochschob und mit dem Rücken dagegenlehnte.

Er hatte von Ranuccio geträumt. Derselbe Traum, immer wieder, seit jener Mainacht vor über zwei Jahren, in der Ranuccios Lebenssaft unwiederbringlich im Sand versickert war. Bis man ihn zurück in die Piazza San Lorenzo in Lucina gebracht hatte, hatte er noch durchgehalten. Bis er die Beichte abgelegt und die letzte Ölung erhalten hatte, hatte sein wildes Herz unablässig weiter das Blut aus seinem Körper gepumpt; dann war Ranuccio tot gewesen. In einem Versteck notdürftig zusammengeflickt, war Caravaggio aus Rom geflohen, kaum dass er wieder zu Kräften gekommen war. Geflohen vor der Rache, die Ranuccios Bruder Giovan Francesco und seine Schwäger, die Giugolis, geschworen hatten – in ihrem Exil in Parma, wohin sie für ihre Rolle im Duell auf dem Pallacorda-Feld verbannt worden waren. Geflohen war Caravaggio vor allem vor dem Todesurteil, das Rom über ihn verhängt hatte, des Mordes an Ranuccio für schuldig befunden.

Zweieinhalb Jahre hatte er auf der Flucht und im Exil zugebracht. Zweieinhalb Jahre, in denen er alles getan hatte, was in seiner Macht stand, um Vergebung zu erlangen. Nicht von Gott. Von Rom. Bis nach Malta hatte ihn sein Weg der Buße geführt, in den ältesten und nobelsten Ritterorden der Christenheit. Alles, nur um in Rom wieder malen zu dürfen. Denn allein die Kunst, die in Rom entstand, besaß wahren Wert: in Ruhm, in Ehre, in klingender Münze.

Er hatte ihn schon in der Hand gehalten, den Schlüssel zur Begnadigung. Ein einziger Augenblick der Unbesonnenheit hatte ihn jedoch in den Abgrund der Sünde zurückgeschleudert. Ins Verderben.

Seine Blicke wanderten durch den nackten, höhlenähnlichen Raum, der sich nach oben hin verjüngte. Eine Falle, die zugeschnappt war. Zwei Klafter tief in den Fels der Insel gegraben, unter dem Bollwerk der Festung von Sant’ Angelo, erlaubte eine vergitterte Falltür aus Eisen der Sonne nur wenige Momente am Tag ein paar fahle Lichtstrahlen hereinzulassen.

Wie lange befand er sich schon hier? Nur wenige Stunden? Drei, vier Tage? Länger gar?

Anfangs hatte er getobt und gewütet, bis sich sein Zorn selbst verzehrt gehabt und das immerwährende Dämmerlicht des Verlieses jegliche Regung in ihm abgetötet hatte. Manche Tage und Nächte seines Lebens hatte er schon in Gefängnissen zugebracht. Doch nie war seine Lage derart aussichtslos gewesen. Von hier würde es kein Entkommen geben. So wenig wie für die Gefangenen vor ihm, die in die Steinwände Entwürfe für ihre eigenen Grabinschriften geritzt hatten. Nec spe, nec metu.

Caravaggio legte den Kopf zurück, in dem es beständig pochte, und schloss die brennenden Augen. Er glaubte, das Meer zu hören, von dem er durch den Steinsockel der Insel getrennt war; ein monotones Rauschen, das sich mit seinem Herzschlag und seinem Atem verband und ihn tröstend in einen Halbschlaf wiegte.

Er schreckte auf, von einem Geräusch aus seinem Dämmerzustand gerissen. Mit den Handballen rieb er sich über die schlafverklebten Augen, blinzelte, zweifelte an der Unversehrtheit seines Sehsinns, seines Verstandes. Kein Fingerzeig Gottes fiel durch den Schacht zu ihm herunter – kein goldenes Strahlenbündel wie auf den alten Heiligenbildern, die er immer ob ihrer Künstlichkeit verachtet hatte. Sondern ein Hauch malvengrauen Abendlichts, in dessen Mitte ein Seil baumelte, wenig mehr als ein flüchtiger Schatten.

Es bot ihm Verurteilung, vielleicht den Tod – oder aber unerwartete Freiheit. Untergang oder Erlösung – was von beidem würde ihm bevorstehen, griff er zu? Die einzige Gewissheit, die er besaß, war, dass er hier unten binnen der nächsten Tage elendig verschmachten würde.

Er rappelte sich auf und taumelte auf das Seil zu, packte es mit zitternden Händen. Das Ende schlang er unter seinen Achseln hindurch und zurrte es mit einem strammen Knoten auf seiner Brust fest. Die Finger um das Tau gekrallt, spürte er den Ruck, mit dem es sich spannte; dann wurde er emporgezogen. Er verlor den Boden unter den Füßen und begann, in die Höhe zu schweben.

Kaum hatte er den Kopf zur Luke hinausgestreckt, als ihm schon salziger Wind das Haar durchwirbelte, und gierig sog er die frische Meeresluft ein. Zwei kräftige Hände packten ihn an den Oberarmen und zerrten ihn über die ummauerte Kante der geöffneten Luke, halfen ihm auf die noch unsicheren Beine, und zwei weitere Hände lösten das Seil von seinem Brustkorb. Drei Männer waren es insgesamt, das eingekerbte Ordenskreuz auch in der fortgeschrittenen Dämmerung leuchtend weiß auf dem Untergrund ihrer schwarzen Kleidung. Die Kapuzen ihrer Umhänge hatten sie so tief in die Gesichter gezogen, dass Caravaggio ihre Züge nicht erkennen konnte. Ohne ein Wort nahmen ihn zwei der Ordensritter in ihre Mitte, ihn zugleich stützend wie bestimmt davongeleitend, während der Dritte zurückblieb.

Eiligen Schrittes führten die beiden Caravaggio durch ein Labyrinth an Gängen und Treppen. Es war wohl die Stunde der Abendmahlzeit oder des Gebetes, denn die Festung war menschenleer. So verlassen, wie Caravaggio sie noch nie erlebt hatte; gespenstisch geradezu. Als läge ein Fluch auf Sant’Angelo.

Durch einen Torbogen gelangten sie in einen großen, nackten Hof, den sie durchquerten. In strammem Marsch hielten sie auf eine Pforte in der gegenüberliegenden Mauer zu. Beide Ritter ließen ihn los und derjenige zu seiner Rechten nestelte einen Schlüsselbund hervor, mit dem er die Tür aufsperrte. Sofort blies eine kräftige Meeresbrise Caravaggio entgegen und mit einer ruckartigen Kopfbewegung, von einer energischen Geste noch unterstrichen, bedeutete ihm der Ritter, er solle hindurchgehen.

Jenseits der Pforte fauchte der Wind in Caravaggios Ohren, biss ihm ins Gesicht und ließ seine Augen tränen. Felsplatten fielen leicht zum Meer hin ab, das sich in zornigen Wellen und sprühender Gischt immer wieder an ihnen brach. Auf den Schaumkronen hüpfte ein Boot, das offenbar zu der mickrigen Galeone gehörte, die in einiger Entfernung auf dem aschgrauen Wasser der Bucht schaukelte. Ihre gerefften Segel waren dunkel und schon jetzt kaum mehr zu sehen. Sobald die Nacht hereingebrochen war, würde das Schiff nahezu unsichtbar sein. Hastig drehte sich Caravaggio um, voll des Misstrauens, in eine Falle geraten zu sein. Doch die beiden Ritter waren verschwunden und das Türchen wieder verschlossen. Als er seinen Blick erneut nach vorne richtete, sah er in diesem Boot einen Mann sich aufrichten, der bislang in Kauerstellung darin verharrt haben musste und ihn nun zu sich heranwinkte.

Caravaggio ließ sich kein zweites Mal bitten; eilig schlitterte er die Steinfläche hinab und kletterte in die unruhig tanzende Nussschale, die der Seemann sofort von einem halb verborgenen Poller losmachte. Das gleichmäßige Geräusch der Holzpaddel ging im Tosen von Wind und Wellen unter und trotz der starken Strömung erreichten sie schnell das Mutterschiff.

Am oberen Ende des Fallreeps wartete schon einer der Matrosen auf ihn, um ihm an Deck zu helfen. Das Beiboot wurde mit Tauen an der Bordwand hochgehievt und befestigt; die Segel rauschten von ihren Spieren herab, knatterten im Wind, der sie aufblähte und die Galeone mit einem sanften Ruck in Bewegung setzte.

Wider besseres Wissen warf Caravaggio einen Blick zurück. In der einsetzenden Dunkelheit stand Sant’ Angelo hell leuchtend auf der felsigen Landzunge der Insel. Über den Zinnen zeichnete sich vor einer der Mauern ein Schatten ab – die Silhouette eines Ritters in Umhang mit übergezogener Kapuze. Vielleicht unterlag er einer Sinnestäuschung, dem nachtrauernd, was er verloren hatte; dennoch glaubte Caravaggio in der Haltung des Schattens etwas Wohlvertrautes zu entdecken, die Ahnung eines ihm so gut bekannten Gesichts. Er hob die Hand, zum Abschied wie zum Dank. Ohne eine entsprechende Regung zu zeigen, machte der Ritter kehrt und verschwand im Inneren der Festung.

»Wohin soll die Fahrt denn gehen?«, wollte der Steuermann wissen.

Caravaggios Blick ging ins Leere. Ihm blieben nicht mehr viele Orte, die ihm Sicherheit bieten konnten. Im Grunde nur noch ein einziger. Zumindest für den Anfang.

»Nach Sizilien«, antwortete er schließlich. »Nach Syrakus.«

»Va bene«, gab der Steuermann mit einem Nicken zurück. »Nach Syrakus. Liegt ohnehin in meiner Richtung.«

Die Galeone schob sich durch die Bucht, dann empfing das offene Meer das kleine Schiff, das mit knarzenden Planken und ächzendem Gebälk auf dessen heftige Umarmung antwortete.

Ich bin frei.

Es war spät. Alof de Wignacourt, Großmeister des Malteserordens, saß an seinem Schreibtisch und starrte nach wie vor auf die darauf ausgebreiteten Papiere und Bücher. Eine halbe Ewigkeit schon, wie ihm schien.

Ein harter Tag lag hinter ihm. Denn heute, am 1. Tag des Monats Dezember, im Jahre des Herrn 1608, hatte der Orden sein Urteil über den abtrünnigen Bruder Michelangelo Merisi gefällt. Im Oratorium der Kathedrale des Heiligen Johannes zu Valletta hatte sich die Bruderschaft versammelt, um aus dem Mund des Großmeisters das Ergebnis der Untersuchungen und Befragungen zu vernehmen. Doch die eigens für diesen Vorfall zusammengestellte Kommission hatte lediglich herausgefunden, dass Caravaggio die Flucht aus der Guva, dem unterirdischen Verlies, mithilfe eines Seils gelungen war und er Malta auf einem Schiff verlassen haben musste.

Wignacourts knotige Finger senkten sich auf die Seiten des entsprechenden offiziellen Berichts, die vor ihm lagen, vorsichtig, als könnte er sich daran verletzen.

Die halbe Wahrheit nur – wenn auch keine reine Lüge.

Viermal war Fra Michelangelo aufgerufen worden, sich den Fragen der Zusammenkunft zu stellen, sich zu verteidigen oder schuldig zu bekennen, wie es das Ordensgesetz verlangte. Niemand hatte geantwortet. Daher war in absentia, in Abwesenheit des Angeklagten, das Urteil gesprochen worden. Ohne eine Gegenstimme oder Enthaltung waren die Ritter übereingekommen, Caravaggio aus der Gemeinschaft auszuschließen. Sein Habit, der schwarze Überwurf mit dem weißen Ordenskreuz, der ihm abgenommen worden war, bevor man ihn in die Guva hinabgelassen hatte, hing über einer Stuhllehne in der Mitte des gewaltigen Raumes. Stellvertretend für den entflohenen Caravaggio warf man den Habit zu Boden. Michelangelo Merisi da Caravaggio war als membrum putridum et foetidum, als faules und verdorbenes Glied, aus dem Orden verstoßen.

Der Großmeister hatte sehr wohl die erstaunten Blicke seiner Ritter bemerkt, das Getuschel und die fragenden Gesichter. Offen blieb, welchen Vergehens Fra Michelangelo schuldig gewesen war, das ihn in ebenjenes Verlies gebracht hatte.

Wignacourt beugte sich vor und ließ seine andere Hand auf dem aufgeschlagenen Buch ruhen, in dem akribisch und mit dem entsprechenden Datum versehen die Verstöße der Ordensritter festgehalten wurden, zusammen mit den Strafen, die man über die Delinquenten verhängt hatte. Verbotene Duelle fanden sich darin, Beleidigungen und Diebstähle. Am häufigsten waren Raufereien und gewalttätige Zusammenstöße – so wie jener im August, in den auch Fra Michelangelo verwickelt gewesen war.

Natürlich stellte jeder der im Oratorium Anwesenden sofort eine Verbindung zwischen jenem handfesten und mit Waffen ausgefochtenen Streit und Caravaggios Aufenthalt in der Guva her. Wenn auch den Gesichtern mancher Ritter der Schrecken über diese harte Strafe abzulesen gewesen war; für gewöhnlich konnten sich die Inhaftierten innerhalb von Sant’ Angelo frei bewegen.

Eins und eins ergibt nicht immer zwei. Manchmal liegt die Wahrheit zum Greifen nahe und doch bleibt sie unsichtbar.

Sanft schlug Wignacourt das Buch zu und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, betrachtete die kunstvoll geschnitzte Kassettendecke des Raums, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Es entbehrte nicht der Ironie, dass der Urteilsspruch unter dem Gemälde stattfand, das Caravaggio für den Orden geschaffen hatte. Die Enthauptung Johannes des Täufers war darauf dargestellt, des Schutzheiligen der Kathedrale wie des Ordens. Ein gewaltiges Werk, in seinen Maßen wie in der Kraft der Darstellung. Johannes, bäuchlings am Boden und leichenblass, die Kehle mit dem Schwert durchschnitten. Über ihm der Henker, der sich anschickte, das Haupt mit einem Dolch abzutrennen, und Salome hielt die Schale bereit, um den abgeschlagenen Kopf darauf zu präsentieren. Zwei Gefangene sahen durch ein vergittertes Fenster zu, über das von oben ein doppeltes Seil herabhing. Als hätte Caravaggio eine Vision dessen gehabt, was geschehen würde . . . Er hatte das Bild signiert; die Blutlache am Boden lief in Buchstaben aus: »F Michel Ang« – Fra Michel Angelo.

Der Blick des Großmeisters wanderte weiter, hin zu dem Porträt, das noch immer auf einer Staffelei hier im Raum stand, weil ihm bislang kein Platz im Palast gut genug erschienen war, um es aufzuhängen. Caravaggio hatte es gemalt und es war der Schlüssel gewesen, der ihm die Tür in den Orden geöffnet hatte. Wignacourt erhob sich und trat vor das Gemälde. Es schmeichelte ihm, dass Caravaggio ihn von der Seite gemalt hatte, von der aus die große Warze auf seinem linken Nasenflügel nicht zu sehen war. Doch vor allem berührte ihn, was der Maler von ihm als Menschen eingefangen hatte: weniger das kurz geschorene, ergrauende Haar, den Strahlenkranz unter den Augen und die steilen Falten beiderseits der Nasenwurzel. Sondern die Wachsamkeit auf seinen Zügen, die Vorsicht in seinen Augen, der Stolz um die Brauen und das Ehrgefühl um die Mundpartie.

»Welch ein Talent«, murmelte er in seinen Bart, »so malen zu können. Eine Gabe Gottes!«

Und welch ein Geschenk des Teufels, sich überall Todfeinde zu machen.

Wignacourt war es damals gelungen, die päpstliche Erlaubnis einzuholen, Caravaggio in den Orden aufzunehmen und nach dem vorgeschriebenen Jahr auf Malta zum Ritter zu machen. Als Mitglied dieses ehrenvollen Ordens hätte Caravaggio die Begnadigung für seine Bluttat zu Rom erlangen sollen – dies war der Plan gewesen. Vorbei.

Wignacourt streckte die Hand aus und berührte sacht die krustige Ölfarbe auf der Leinwand.

Wahrheit. . . Es gibt Wahrheiten, die besser nicht ans Tageslicht kommen. Wer mit ihnen umgehen muss, wandelt durch das Schattenreich zwischen Gut und Böse.

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und er wusste, was er zu tun hatte.

In schnellen Schritten ging er zurück zum Schreibtisch und ergriff einen Stapel beschriebener Papierbögen, die er bis zum heutigen Abend in einer verschlossenen Schatulle aufbewahrt hatte. Dokumente in seiner eigenen Handschrift, aber auch Briefe aus anderen Federn. Einer davon trug sogar das päpstliche Siegel.

Mit ihnen in der Hand trat Wignacourt zum Kamin. Sein Blick wanderte hinauf zum gemarterten, dornengekrönten Christus am Kreuz.

»Herr, vergib mir«, flüsterte er, »denn ich tue unrecht.«

Er warf die Blätter ins Feuer. Gierig stürzten sich die Flammen darauf und züngelten mit neuer Kraft hoch auf. Sie fraßen sich durch das Papier, das sich wellte und dunkel verfärbte, löschten die Schrift aus und schmolzen das Siegelwachs, das zischend verdampfte.

Es ist noch lange nicht vorbei . . . Das ist erst der Anfang.

Die Caravaggio-Verschwörung

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