Читать книгу Die Caravaggio-Verschwörung - Nicole-C. Vosseler - Страница 6

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Erstes Buch

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Chiaroscuro:

Licht und Schatten

I

Bacchus

Mädchen und verliebte Jungen – Hoch lebe Bacchus! Hoch lebe die Liebe! Spielt auf, tanzt und singt! Vor Süße erglüht das Herz: Keine Müdigkeit, kein Schmerz! Kommt herbei, kommt dafür zusammen! Wer fröhlich sein will, soll es sein, was morgen ist, ist ungewiss.

Lorenzo »Il Magnifico« de’ Medici, Bacchuslied

1. Kapitel

Neapel, Anno Domini 1609, gegen Ende des Monats September

Unvermittelt machte Caterina halt, als sich aus dem dunklen Hintergrund des Säulenportals von San Domenico Maggiore eine Silhouette löste und in das bläuliche Licht der Nacht hinaustrat. Selbst als Schattenriss, so wie jetzt, hätte Caterina Riccardo unter Tausenden ausmachen können. Ihr Herz dehnte sich aus, bis es ihr beinahe den Brustkorb sprengte, und sie lief los, geradewegs in Riccardos Arme, die sie umfingen und festhielten, während sie selbst ihn mit aller Kraft umschlang.

»Ich dachte schon, du kommst heute nicht mehr«, hörte Caterina ihn über ihren Kopf hinweg murmeln. Ohne Tadel, ohne Vorwurf, aber mit Erleichterung in seiner Stimme, in der noch ein Rest seiner ausgestandenen Befürchtungen mitschwang.

»Wenn ich einmal nicht käme«, flüsterte Caterina, die Wange an seine Brust geschmiegt, »dann sei gewiss, dass ich alles versucht habe und dennoch gescheitert bin.«

»Aber nicht heute.«

Caterina hob den Kopf und sah hinauf zu Riccardo. »Nein, heute nicht. Heute ist alles gut gegangen.«

Ihre Blicke verhakten sich ineinander, ernst zuerst, im Wissen, wie zerbrechlich das war, was sie miteinander teilten – wie eine Daunenfeder, die jederzeit vom geringsten Windstoß davongetragen werden konnte. Doch das Glück, trotzdem zusammen zu sein, überwog und ließ sie einander anlächeln.

»Komm«, raunte Riccardo und nahm sie bei der Hand.

Eilig schritten sie über den Platz und tauchten auf der anderen Seite der Via Benedetto Croce in das Gassengewirr der Stadt ein. Noch bewegten sie sich durch eine Gegend gutbürgerlicher Häuser, deren Bewohner um diese Zeit bereits tief und fest schliefen. Doch je weiter sie voranschritten, je näher sie dem Hafen kamen, desto belebter wurden die engen Gassen, desto niedriger die Häuser. Männer und Frauen saßen vor den Türen beisammen, tranken, lachten, schwatzten und spielten Karten. Sogar kleine Kinder sah Caterina um diese Zeit noch herumspringen und umeinander tollen, ihre Stimmen schrill vor müder Überdrehtheit. In Annas schlichter Tracht, die diese vom Land mitgebracht hatte und in ihrer kleinen Truhe im Palazzo Salerno wohl verwahrte, fiel Caterina hier gar nicht auf. Niemand erkannte in ihr die Tochter des Gewürzhändlers Federico di Salerno, der so reich war, dass er sein Gold und Silber gar nicht mehr im Haus aufbewahrte, sondern es in den Gewölben der Banco di Santa Maria del Popolo deponierte. Hier war sie nur ein einfaches Mädchen wie alle anderen auch.

Riccardo führte sie in eine Gasse, die vollkommen leer und still war. Eine Seltenheit im quirligen, lärmenden, drangvoll engen Neapel. Dunkel war es hier; das fahle Mondlicht ließ gerade das Nötigste erkennen. Er blieb stehen und ließ Caterinas Hand los, nestelte etwas aus seinem Wams und machte sich an einer Hauswand zu schaffen. Ein Klicken und eine Lattentür schwang auf, hinter der eine Duftwolke hervorquoll, süß und staubig.

Neugierig trat Caterina über die Schwelle und Riccardo zog die Tür hinter ihnen wieder zu. Caterina blieb stehen, wartete, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Hier war der Geruch betäubend intensiv; es roch grün, aber verdorrt. Ein Geruch nach Herbst, der die Erinnerung an den Sommer noch tief in sich trug; ein Geruch voller Sehnsucht und Wehmut.

»Was ist das hier?«, fragte Caterina leise.

»Ein Heulager, für die Pferde und Esel der Lastenkarren«, erklärte Riccardo. »Die gesamte Gasse ist voller Lagerräume und Speicher.« Unter seinen Stiefeln knisterte es, als er hin und her ging, und üppige Packen der sonnengetrockneten Halme zu einem provisorischen Lager arrangierte. Er richtete sich auf und sah sie an. »Bald wird es zu kühl und vor allem zu regnerisch sein, um noch an der Mole zu sitzen. Hier ist es trocken und warm und nachts verirrt sich nie jemand hierher.«

»Außer uns«, wisperte Caterina, als sie auf ihn zuging.

Riccardo blickte ihr reglos entgegen, ein, zwei Herzschläge lang, und leise kam sein Echo: »Außer uns.«

Er schlüpfte aus seinem Wams, breitete es auf der einen Hälfte der Heubündel aus und ließ sich selbst jenseits davon nieder. Caterina setzte sich auf den abgenutzten Stoff des Wamses, zog die Beine an und ringelte sich wie eine Katze in seinem Arm zusammen.

Eine Weile lagen sie nur so da, lauschten der Stille und dem Atem des anderen. Eine Zeit genügte es, die Wärme des anderen Körpers zu spüren, ein Kopf auf einer Schulter, je ein Arm um einen anderen Oberkörper, ein Knie an einer Hüfte. Irgendwann jedoch nicht mehr und Caterina richtete sich auf dem Ellenbogen auf.

Es gab immer diesen anfänglichen Moment der Scheu, der stummen Frage, ob der andere genauso empfand, das Gleiche begehrte. Der Versuch, in den Augen des anderen die Antwort zu lesen und die Hoffnung, es möge ein Ja sein.

Caterina war es, die heute den Anfang machte, als sie ihr Gesicht auf das Riccardos hinabsenkte. Ihre Lippen streiften seine Wange, sein Jochbein, von dem sie wusste, dass darauf eine winzige Narbe prangte. Seine fast waagerechten Augenbrauen, die ihn immer ernst blicken ließen, selbst wenn er lachte. Eines seiner Augenlider, die er bei der ersten Berührung ihres Mundes auf seiner Haut geschlossen hatte. Sie tupfte Küsse auf seine kräftige Nase und erst zum Schluss, nach einem Augenblick des Zögerns, drückte sie ihre Lippen auf seinen Mund.

Er erwiderte ihren Kuss. Zuerst sanft und behutsam, dann fester; schloss beide Arme um sie und rollte sie auf den Rücken. Caterinas Haube geriet ins Rutschen und Riccardo streifte sie ihr einfach vom Kopf, fing die Flut schweren, seidigen Haares mit seinen Fingern auf.

»An dir ist alles so weich«, flüsterte er und strich mit den Fingerknöcheln über ihre Wangen. »Und du riechst so gut. So unglaublich gut.«

Caterina entfuhr ein kleines, verlegenes Lachen, das in ein Seufzen überging, als er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub, die Haut dort mit kleinen Küssen bedeckte. Riccardo roch wie der erste Regen nach einem langen, heißen Sommer, fand Caterina, manchmal durchmischt mit dem fruchtigen Aroma von Wein, wenn sein Hemd beim Ausschenken etwas abbekommen hatte. Sie strich über seine Arme, geformt vom Schleppen der Fässer, vom Heben der Humpen und schweren irdenen Krüge, und erschauerte, wenn er seine Hand über die Taille ihres Leibchens gleiten ließ, dann darunter, ihren Bauch und ihren Rücken durch den dünnen Stoff der Bluse hindurch streichelte. Und Küsse, so viele Küsse, über denen sie alles um sie herum vergaßen, bis ihnen beiden der Atem ausging.

»Ich weiß schon gar nicht mehr, wie du bei Tageslicht aussiehst«, murmelte Caterina, während sie sein dichtes, gelocktes Haar mit den Fingern durchkämmte. Sie erinnerte sich, dass es dunkelbraun war, wie seine Augen – die Farbe regennasser Erde.

»Kannst du nicht mit Anna wieder einmal auf den Markt gehen? Immer, wenn ich dort zu tun habe, halte ich nach dir Ausschau.« Seine Nasenspitze tippte links und rechts an die ihre.

»Mein Vater lässt mich nicht mehr. Er meint, ich sei jetzt in einem Alter, in dem es sich nicht mehr schickt, mich nur von einer jungen Zofe begleitet dort sehen zu lassen. Und am Tag ist es unmöglich, unbemerkt das Haus zu verlassen.«

Traurigkeit durchzog Caterina, ein Anflug von Hoffnungslosigkeit, und sie drückte Riccardo zurück in das Heu, bettete ihren Kopf auf seine breite Brust. »Wird es denn nie anders sein? Immer nur solch gestohlene Stunden in der Nacht?«, brach es aus ihr heraus. Ihre Stimme zitterte unter der Anstrengung, die Tränen tapfer hinunterzuzwingen, die in ihr aufstiegen.

Riccardo starrte hinauf in das Dunkel. »Ich weiß es nicht.«

Eine Kluft hatte sich plötzlich spürbar zwischen ihnen aufgetan und ließ sie beide schweigen, bis Caterina leise fragte: »Wenn du einen Wunsch freihättest. . . was würdest du dir wünschen?«

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort und Caterina glaubte zu spüren, wie er sich mit jedem Pulsschlag immer weiter von ihr entfernte, ganz so, als sei ihm diese harmlose Frage unangenehm.

»Ich würde«, erwiderte er schließlich dann doch, wenn auch spröde, »eine Menge drum geben, nicht mehr für den Alten schuften zu müssen. Lieber irgendwo als Lehrling ackern mit der Aussicht, irgendwann meinen Gesellen zu machen, vielleicht sogar den Meister. Aber«, er atmete tief durch, »ohne Lehrgeld keine Lehre.«

Caterina rieb ihre Wange an seinem Schlüsselbein, wie zum Trost. »Ich habe noch nie verstanden, warum man dafür bezahlen soll, für einen Meister arbeiten zu dürfen.«

»Weil der Meister einem all das beibringt, was man für das Gewerbe wissen muss. Die Zeit, die er dafür aufwendet, das Wissen, das er mit einem teilt – das lässt er sich eben bezahlen. Und die Arbeit«, er gab ein Schnauben von sich, »die Arbeit gibt es umsonst dazu.«

»Das ist nicht gerecht!«

»Nein«, stimmte Riccardo ihr langsam zu, »das ist es nicht. Genauso wenig ist es gerecht, wenn sich ein Vater einfach aus dem Staub macht und seine Frau und fünf Kinder zurücklässt, die dann sehen können, wie sie zurechtkommen.«

Caterina wagte nicht, ihm noch einmal anzubieten, heimlich eine kleine Summe vom Haushaltsgeld abzuzweigen. Riccardo war nicht wütend gewesen, als sie ihm diesen Vorschlag gemacht hatte, nur sichtbar gekränkt. Seine Augen hatten sich verdunkelt und er hatte sie einfach stehen gelassen und war davongegangen. Die Tage und Nächte, die verstrichen waren, bis er sich wieder an der Kirche eingefunden hatte, waren Caterina entsetzlich lang geworden, voller Bangigkeit, ob sie ihn je wiedersehen würde.

Es muss doch einen Weg geben, ging es Caterina durch den Kopf. Einen Weg, nicht nur heimlich und in der Nacht zusammen zu sein. Eine Brücke über den Graben, der unser beider Welten trennt.

Zum wiederholten Male dachte sie daran, Riccardo in den Plan einzuweihen, den sie in den endlosen Stunden im Palazzo Salerno ausgebrütet hatte. Ein Plan, der in ihr aufgekeimt war, während ihre Hände mit Nadelarbeiten beschäftigt waren oder ein aufgeschlagenes Buch hielten. Den sie im Geiste weiterspann, wenn sie mechanisch überprüfte, ob die Wäsche sauber und ordentlich gefaltet in den Schränken und Truhen verstaut war und ob das Silberbesteck fleckenlos glänzte.

Sie sah auf, als Riccardo sich auf die Seite rollte, zu ihr hin, sich klein machte, um mit Caterina auf Augenhöhe zu liegen zu kommen, so dicht, bis ihre Stirnen sich beinahe berührten.

Nein, noch nicht, sagte Caterina sich. Ich darf ihm keine falschen Hoffnungen machen. Erst wenn ich den Weg dafür geebnet habe, werde ich es ihm sagen. Wenn ich sicher weiß, dass es gelingen wird. Aber es wird mir gelingen. Es muss.

»Vielleicht hätten wir uns nie begegnen dürfen«, flüsterte er.

Worte, die Caterina hätten treffen müssen. Doch sie taten es nicht; denn in seiner Stimme lagen weder Spott noch Entschiedenheit. Zögerlich fragend hatte er geklungen und ein wenig traurig.

Offen sah Caterina ihn an. »Bereust du’s?«

Riccardo erwiderte ihren Blick ernst und ruhig. »Nein. – Du?«

»Niemals werde ich das.« Auf Caterinas Zügen erschien ein Lächeln und auch Riccardos Miene hellte sich auf. Er zog sie an sich und hielt sie fest, einfach nur fest.

Dass sie einander überhaupt je begegnet waren, grenzte für Caterina an ein Wunder – ihre Lebenswege hätten sich sonst wohl niemals gekreuzt.

Dabei hatte es lediglich ein Jux sein sollen. Ein kleines, prickelndes Abenteuer, aus einer übermütigen Laune heraus geboren. Damals, an jenem Tag im Mai. . .

Die Caravaggio-Verschwörung

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