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_KAPITEL 2

Die letzte Lektion

_Näher als dir lieb ist // Heute Nacht

V

inzenz blasse Finger umfassen zitternd den Türgriff, der matt-schwarzen Limousine. Eine Routine, die der schmächtige Priester, genannt Bruder Rocco, nicht verlernt hat, auch wenn man ihm heutzutage selbst die Wagentüre aufhält. Niemals gab es Zögern oder gar Zweifel, aber in dieser Nacht würde er lieber in Flammen aufgehen, als Monsignore wieder aus dem Wagen zu helfen. In der schwarz getönten Scheibe verhöhnt ihn sein schwitzendes Spiegelbild. Vinzenz, der Eliteschüler, Ausnahmetheologe, der jüngste Exorzist in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche, ein ängstliches Häufchen Elend. Unterlegenheit war ihm bis heute fremd, er hat zwar ein erstaunliches Ego, aber kein dazu passendes Selbstvertrauen. Dieses fehlt ihm nun.

Noch vor siebzehn Stunden stand er, verwundert über das Wiedersehen mit seinem alten Lehrmeister Nepomuk, in den Privatgemächern des Papstes, nun ist er einer der wenigen Menschen, die wissen wo es passieren wird. Drei dieser Privilegierten umgibt eine Energie, die man im Volksmund einen Heiligenschein nennt. Sie, und vier weitere Seelenträger sind jedoch nur Gäste, sowohl in dieser Prophezeiung, als auch im schäbigen Betonblock, vor dem Vinzenz geparkt hat. Die anderen Eingeweihten, abgesehen von ihm und dem Insassen der Limousine, befinden sich ausnahmslos im Vatikan. Vinzenz hält noch immer den kalten Türgriff in seiner ruhelosen Hand. Seine Instinkte und sein Verstand sind sich einig, er will kein Märtyrer werden. Wenn die Verhandlungen scheitern ist er ein toter Mann und selbst wenn sie erfolgreich sind, gibt es keine Garantie darauf die Nacht zu überleben. Im Wageninneren lässt ein faltiger Finger das verdunkelte Glas herunter fahren. Eine Schockwelle zieht durch Vinzenz Körper, als er das Brummen des kleinen Motors, in der hinteren Türe, vernimmt. Das schwarze Priestergewand sträubt sich von seinem Körper, seine Lider trauen sich nicht zu blinzeln. Die Scheibe verschwindet in der massiven Autotür und gibt Nepomuks eingefallenes Gesicht preis. Seine Augen sind eisblau. Die Falten auf seiner Stirn zeugen von Strenge und Sorgen.

Bruder Rocco.

Ja, Monsignore.

Öffnest du einem alten Mann die Türe?

Ja, Monsignore.

Die Scheibe fährt hoch und Vinzenz wirft ein weiteres Mal einen überforderten Blick auf sich selbst. Er zieht am Türgriff und die kalte Nachtluft strömt erneut in den Wagen. Ein maßgefertigtes Paar Schuhe, das über mehr Leichen gestiegen ist als so mancher Soldatenstiefel, tritt zum letzten Mal auf den schwarzen Asphalt. Ein weißer Gehstock und ein Whiskyglas, voller schmelzenden Eis, bleiben alleine im Wagen zurück.

Auf den Schultern des alten Mannes lasten fast tausend Dämonen, dazu dutzende Menschen, Kinder, Alte und Schwache, die den kraftraubenden Exorzismus nicht überlebt haben. Heute werden sie ihn dafür lynchen, davon ist er überzeugt, Flucht ist keine Option. Vor dem nächsten Glockenschlag ist er bei Gott. Ein Haus voller gefallener Engel ist für Nepomuk normalerweise kein Grund zur Panik, aber heute kann er sie nicht vertreiben. Man kann Dämonen aus einem Besessenen vertreiben, aber die oberste Riege der Gottlosen nimmt, in der Welt der Seelenträger, ihre eigene Gestalt an. Sie fürchten sich nicht vor Kreuzen, Gebeten und Weihwasser. Wenn Gott sie nicht verstoßen hätte, könnten sie im Himmel und auf Erden ein und ausgehen, kein Mensch, auch kein Diener Gottes, kann ihnen gebieten. Nur die Engel und Gott selbst können sie in die ewige Hölle verbannen, doch der Herr besteht wohl auf ein bizarres Gleichgewicht. Mit Terroristen und Dämonen verhandelt man nicht, ihnen bleibt aber nichts anderes mehr übrig. Der Atem beider Männer schlägt Pfade in die Luft.

Ist dir schlecht?

Ja, Monsignore.

Musst du dich übergeben?

Nein, Monsignore.

Vinzenz?

Es ist das erste Mal, dass der alte Exorzist ihn nicht mit seinem Ordensnamen anspricht.

Ja, Monsignore?

Sag ruhig Nepomuk. Die Zeit der Förmlichkeiten ist vorbei.

Nepomuk zieht eine Schachtel Marlboro aus seinem Gewand, die Packung ist eingedrückt und nur ein Rest von Kleber zeugt von der Steuerbanderole. Er zieht apathisch die letzte Zigarette aus der Schachtel. Vinzenz zieht reflexartig ein altes Streichholzbriefchen aus seinem Gewand. Er trägt es noch als Glücksbringer mit sich, seitdem er selbst den Exorzismus lehrt. Er öffnet es, bricht ein Streichholz ab und zieht den Kopf über den roten Phosphor. Die aufspringende Flamme erhellt die Gesichter der Gottesmänner. Obwohl es vollkommen Windstill ist, hält Vinzenz schützend eine Hand vor das brennende Streichholz. Der alte Mann nimmt einen kurzen, dann einen tiefen Zug. Die Zigarette löst sich von seinen Lippen.

Schwefel ist der Moschus der Hölle.

Nepomuk bläst den Qualm in die Dunkelheit. Er schnippt die Asche von der Zigarette, die er nun vier Monate verschont hatte. Hinter den beiden fällt eine Sternschnuppe ins leere, verglühendes Gestein rast der Erde hingegen. Für Wünsche ist es zu spät. Vinzenz verliert den Überblick über seine Gedanken. Die geheimen Schriften, über den Nicht Geflügelten an Jesus Seite, kennt er in und auswendig. Johannes und seiner Gefährtin werden Sieg und Fall prophezeit, doch die Bildsprache ist wage und verschwommen. Nur der Vers »Der Satan wird durch das Blut des Priesters schreiten«, ist deutlich genug, um Vinzenz in einen konstanten Zustand der schleichenden Panik zu versetzen. Nepomuks Stimme schleicht.

Wie hieß dein Mädchen?

Monsignore?

Dein Mädchen? Du hattest doch sicher mal eine Freundin bevor du das Zölibat geschworen hast.

Vinzenz sammelt sich, sein goldenes Kruzifix bebt, im Takt seines rasenden Herzens.

Lisa, Monsignore.

Nepomuks Gesicht formt sein letztes Lächeln und seine Lippen wiederholen Vinzenz Antwort.

Lisa.

Nepomuk zieht erneut an seiner Zigarette.

War sie hübsch?

Nepomuks Frage entlässt Vinzenz für ein paar Sekunden aus seinem Schicksal.

Sie war wie ein Engel, Monsignore.

Der Rauch strömt stockend aus Nepomuks Nasenlöchern.

Vinzenz, du wirst die Verhandlungen leiten?

Vinzenz Blick entgleist.

Ich, Monsignore? Aber, aber ich …

Dieses Haus ist voll von Bestien, die sich nach meinem qualvollen Tod sehnen. Und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Ich würde es genauso machen. An mir werden sie Rache üben, aber ohne mich wird er dich gar nicht erst anhören. Das ist der Deal. Johannes ist unberechenbar. Mach nicht den Fehler ihn wie einen Apostel zu behandeln, er ist nur ein Dämon.

Vinzenz sieht besorgt zu seinem alten Lehrmeister, der ein letztes Mal an der leicht geknickten Zigarette zieht.

Nepomuk?

Ja?

Ich fürchte mich vor dem Antichristen.

Nepomuk lässt die halbe Zigarette neben seinen Fuß fallen.

Es steht geschrieben: Fürchtet euch nicht.

Es steht viel geschrieben.

Nepomuk wendet seinen Blick, seine Furcht vor dem Tod und seine Zweifel, zu Vinzenz. Vor seinem geistigen Auge, sieht der alte Mann den ersten Dämon, den damals sein Lehrmeister aus einem Menschen vertrieben hatte. Es war ein junges Mädchen, das entkräftet nach dem Exorzismus starb. Fast wäre es Nepomuks erster und letzter Versuch geworden. Die Worte seines alten Lehrers springen auf seine Lippen. Er muss nur den Namen austauschen.

Es ist nicht der Moment für Zweifel, Vinzenz.

Vinzenz Augen ruhen auf dem schäbigen Betonpalast vor ihnen.

Ich zweifle nicht Monsignore.

Das Streichholzbriefchen gleitet langsam aus seinen Fingern. Es prallt auf den Asphalt und springt auf einer Ecke wieder nach oben.

Ich habe noch nie gezweifelt.

DER ERZENGEL JOHANNES

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