Читать книгу Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen - Nicole Vliegen - Страница 10

Einleitung

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Celine ist jetzt 13 Jahre alt. Sie ist seit mehr als 10 Jahren bei uns. Allmählich bekomme ich eine Vorstellung davon, was mit ihr los ist, obwohl ich weiterhin das Gefühl habe, dass ich meine anderen (also meine biologisch eigenen) Kinder besser ›lesen‹ und verstehen kann. (…) Meine anderen Kinder sagten bei einem Streit nie: »Ich gehe weg, du bist nicht meine Mutter! Du hast mir nichts zu sagen. Warum wolltest du mich überhaupt? Du siehst mich so oder so nicht gern.«

Mama von Celine1

Dieses Buch richtet sich an die Eltern, Pflegepersonen, Erzieher*innen, Betreuer*innen und Therapeut*innen von Adoptiv- und Pflegekindern mit einem komplexen Trauma2 (Herman, 1992), die wir in der psychotherapeutischen Praxis kennenlernen. Diese Kinder sind oft bei Sozial- und Therapiediensten angemeldet, weil der Umgang mit ihnen so kompliziert und schwierig ist. Das Handbuch soll ihre Pflege- oder Adoptiveltern, Erzieher*innen und Betreuer*innen dabei unterstützten, diesen Kindern dabei zu helfen, ohne sich wiederholende Probleme und ohne gravierende Beeinträchtigungen aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen aufzuwachsen. Entwicklungsaufgaben, die bei anderen Kindern »natürlicher« verlaufen oder nur als »kleinere Hindernisse« im Wege stehen, können von diesen Bindungs- oder komplex traumatisierten Kinder manchmal als unüberwindbare Hürde erlebt werden oder sogar zum Stillstand in ihrer Entwicklung führen. Im Zusammenhang mit diesen Kindern werden häufig Begriffe wie »Entwicklungsstörungen«, »Verhaltensstörungen« oder »Bindungsstörungen« verwendet. Diese Diagnosen kommen nicht von ungefähr und sind auch nicht immer ungerechtfertigt. Wichtig ist jedoch, dass sie nicht als das Ergebnis und Ende eines Beratungsprozesses verstanden werden, sondern als Beginn eines Beratungsangebots, das die festgefahrenen Entwicklungen wieder in Gang bringt. Schließlich sind die Schwierigkeiten dieser Kinder oft das Ergebnis von meist frühen traumatischen Erfahrungen und Bindungsabbrüchen.

Unter sich ändernden Umständen oder in einem neuen familiären Kontext mit neuen Bindungsmöglichkeiten werden diese bisherigen Erfahrungen nicht immer als (noch) relevant erkannt, jedoch wirken sie sich immer wieder auf die Entwicklung des Kindes im Hier und Jetzt aus. Betroffene Kinder und ihre Eltern benötigen daher eine ›traumasensitive‹ (trauma-informed context, Osofsky, 2011) Umgebung mit viel Verständnis und professionellem Wissen.

Mit diesem Buch wollen wir das bestehende Wissen zu diesem Thema, welches aus einer Vielzahl von wissenschaftlichen Quellen und klinischen Erfahrungen gewonnen wurde, mit Pflege- oder Adoptiveltern, Begleiter*innen und Therapeut*innen teilen. Als Erstes möchten wir aktuelle Erkenntnisse aus internationalen Fachzeitschriften und Handbüchern beschreiben, welche uns dazu inspiriert haben, nach Wegen zu suchen, um mit diesen Kindern in Kontakt zu kommen. Literaturangaben und Inspirationsquellen, die unser Denken und unsere Arbeit mit diesen Kindern und ihrer Umwelt beeinflusst haben, sind in der Literaturliste3 zu finden. Wir beschreiben, wie wir diese empirisch und theoretisch fundierten Erkenntnisse in unsere Praxis integrieren und stellen Gedanken und Werkzeuge, Handlungsempfehlungen und Behandlungsprinzipien für den Umgang mit diesen Kindern bereit, um ihre Entwicklungschancen zu verbessern. Zudem gründet unser Wissen auf empirischen Untersuchungen, die wir seit mehreren Jahren mit adoptierten Kindern und ihren Familien durchführen und zwar sowohl im Rahmen der Leuven Adoption Study (LAS; www.leuvense-adoptiestudie.be), als auch in weiteren Untersuchungen, in denen wir Eltern und ihre Kinder zu verschiedenen Aspekten ihrer sozialen und emotionalen Erfahrungen befragt haben. Drittens wurden wir durch die klinische Praxis im Therapiezentrum PraxisP – dem Praxiszentrum der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften an der KU Leuven (Belgien) – inspiriert welches für uns ein kontinuierlicher Experimentierraum und eine herausfordernde Lernumgebung darstellt und uns davor schützt, ›Wissenschaftler*innen in einem Elfenbeinturm‹ zu werden.

Mit diesem Buch wollen wir in erster Linie dazu beitragen, eine Unterstützungsbasis für ein verständnisvolles und traumasensitives Vorgehen mit diesen Kindern und ihren Eltern zu schaffen. Wir hoffen mit diesem Buch, die Hemmschwelle für Beratung und Unterstützung dieser Familien verringern zu können.

Der Druck, der derzeit auf »guter und kompetenter Elternschaft« lastet, erhöht manchmal die Angst, eine Beratung aufzusuchen oder sich spezifische Hilfe zu suchen. Michelle, die Mutter einer Adoptivtochter mit ernsthaften Schwierigkeiten, wagt es erst nach mehreren Gesprächen der Beraterin zu sagen, wie sehr ihre Tochter sie manchmal »provoziert« und wie sie sie schon mal »hart angepackt« hat.

Sie scheint davon auszugehen, für ihre Schwierigkeiten in der Erziehung verurteilt zu werden, während gerade diese Mutter für ihre unendliche Geduld, die sie im Umgang mit ihrem bedürftigen Kind zeigt, Verständnis und Unterstützung verdient. Wir möchten das Wissen, das wir sowohl im Rahmen der Begleitung von komplex traumatisierten Kindern als auch in der Vielzahl an Gesprächen mit deren Betreuern*innen, Erziehern*innen und Beratern*innen erhalten haben, an diejenigen zurückgeben, die es so dringend benötigen: Die Kinder, die sich aufgrund schwerwiegender beziehungstraumatischer Verletzungen durch das Leben kämpfen und die Umgebung der Kinder, die Möglichkeiten für eine gute Entwicklung versucht zu bieten.

Das Schreiben eines Buches über solch ein komplexes Thema ähnelt einem Seiltanz: Auf der einen Seite möchten wir das, was wir von und über diese Kinder und ihre Familien gelernt haben, weitergeben, auf der anderen Seite möchten wir, dass jedes Elternteil sein Kind weiterhin in seiner Einzigartigkeit sehen kann und nicht als ein Kind, das in eine bestimmte Schublade passt oder einfach ein Diagnose-Etikett aufgedrückt bekommt. Wir wollen nicht, dass Adoptivkinder oder Pflegekinder durch dieses Buch einfach das neue Label »traumatisiert« bekommen. Wenn wir von Bindungstraumatisierungen oder komplexen Traumatisierungen sprechen, dann nur, weil dieses Konzept auf spezifische, bislang noch nicht richtig verstandene Phänomene hinweist.

Das Etikett, damit habe ich auch Schwierigkeiten. Das löst gemischte Gefühle aus. In gewisser Hinsicht tut es gut, zu begreifen, dass das Verhalten von Lucas häufiger und auch bei anderen vorkommt, das gibt einem Halt. Aber man möchte auch die Einzigartigkeit seines Kindes sehen und kein aufgeklebtes Etikett.

Mama von Lucas

Darüber hinaus sind nicht alle Adoptiv- und Pflegekinder traumatisierte Kinder. Für die sich gut entwickelnden Kinder, denen es in ihrem Leben gut geht, ist dieses Buch möglicherweise nicht unbedingt ein Mehrwert. Adoptiv- und Pflegekinder sind aufgrund ihrer Vorgeschichte von mindestens einer Trennung und manchmal sogar mehreren Trennungen in ihren ersten Bindungsbeziehungen einem höheren Risiko für traumatische Verletzungen ausgeliefert als andere Kinder. Auch hierauf werden wir in diesem Buch eingehen. Es ist die Gruppe der traumatisierten Adoptiv- und Pflegekinder, die uns als Begleitpersonen mit einem herausfordernden und besonderen (und manchmal komplizierten) Suchprozess konfrontiert: einer Suche nach der geeigneten Hilfe, die ihnen maximale Entwicklungsmöglichkeiten bietet und Wachstum ermöglicht.

Es ist uns aber auch wichtig, zu betonen, dass nicht nur eine Adoptions- oder Pflegegeschichte mit einem erhöhten Risiko einer komplexen Traumatisierung einhergeht. Dieses Buch ist auch für Kinder relevant, die mit einem oder beiden leiblichen Elternteil(en) aufwachsen und mehrfach traumatisch verletzt worden sind. Die Berichte und Beispiele in diesem Buch handeln jedoch hauptsächlich von Adoptiv- und Pflegekindern, da sie öfter in unser Therapiezentrum kommen.

Mit diesem Buch wollen wir Raum für Einzigartigkeit schaffen, denn jedes Kind – egal wie verletzt – ist allem voran »ein Kind, das einzigartig in seinem Wesen ist«, wie es die Mutter von Lucas so schön formuliert hat. Gleichzeitig möchten wir aber auch Anerkennung für Erfahrungen bieten, mit denen viele Kinder und Eltern konfrontiert werden.

Dass die Lebensgeschichten von anderen Familien so ähnlich sind, hilft einem. Es hilft einem dabei für sich selbst und für sein Kind wieder Verständnis zu finden. Wenn andere Kinder in anderen Familien in ihrem Verhalten sehr ähnlich sind, kann das nichts anderes bedeuten, als dass etwas los ist, ein Problem wofür es einen Namen oder eine Diagnose gibt, ein Problem also, mit dem man nicht allein bleiben muss.

Mama von Marianne

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil betrachten wir, wie schwierige Erfahrungen in der ersten Lebensphase die Entwicklung eines Kindes nachhaltig beeinflussen können und welchen Verlauf die Entwicklung dieser Kinder nehmen kann. Wir möchten zeigen, was das für diese Kinder, ihren Eltern und das soziale Umfeld bedeuten kann. Im zweiten Teil nehmen wir die Lesenden mit in den Therapieraum, um über mögliche Veränderungsprozesse und Wachstumsmöglichkeiten zu informieren, die eine konstruktivere Entwicklung von komplex traumatisierten Kindern ermöglichen können.

1 Alle Fallvignetten in diesem Buch sind authentisch und basieren auf wahren Berichten von Kindern und Eltern. Wir haben sie aus Gründen der Anonymität und Privatsphäre unkenntlich gemacht, indem wir Details in den Lebensläufen verändert haben, die jedoch für das Verständnis dessen, worum es geht, nicht ausschlaggebend sind. Auch alle Namen sind fiktiv.

2 Wir sprechen in diesem Buch durchweg von einem »komplexen Trauma« oder einer »Bindungstraumatisierung«, was in der empirischen und klinischen Literatur auch als »Bindungstrauma« »frühes Beziehungstrauma« und »frühes Entwicklungstrauma« bezeichnet wird.

3 Die oben beschriebenen Einsichten und Erkenntnisse haben wir von den vielen Autor*innen erhalten, die sich weltweit mit diesem Thema beschäftigen; wir haben ihre Erkenntnisse aufgearbeitet, integriert und in unserem eigenen Arbeitskontext angewendet. Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir nur eine Auswahl an Literaturverweisen in den Text aufgenommen. Die Literaturliste enthält daher auch Quellen, die im Text nicht zitiert werden.

Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen

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