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Vorwort von Dr. phil. Marianne Rauwald

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Seit Erscheinen des DSM-5 haben wir die Möglichkeit, auch komplexe Verläufe einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu diagnostizieren, die in Erwartung stehende ICD-11 wird die Diagnose einer Komplexen Traumatisierung als eigene Einheit aufnehmen und so der Erfahrung Rechnung tragen, dass gerade frühe und wiederholte im Bindungskontext erfahrene traumatische Erlebnisse bei den betroffenen Kinder langfristig kognitive, affektive und psychosoziale Beeinträchtigungen in unterschiedlicher Weise und Ausprägung bedingen können. Kinder, die häufig in ihrer nächsten Umgebung, in ihrer Familie, dort, wo sie Halt, Schutz und Geborgenheit erfahren sollten, zutiefst verletzt wurden, erfahren nahe Bindungen als Ort oft permanent drohender Gefahr, vor der es kaum einen Schutz gibt. Sie reagieren darauf abhängig von Alter und individuellen Faktoren sehr unterschiedlich mit aggressivem Verhalten, Rückzug und depressiver Entwicklung oder auch mit nach außen gezeigter auffälliger Unauffälligkeit, dies oft zum Schutz ihrer Eltern.

Kinderschutz und Jugendhilfe haben sich zur Aufgabe gemacht, Kindern in Not, Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien unerträgliche Erfahrungen machen mussten, zu helfen. Mit Angeboten der ambulanten Hilfen versuchen sie, gefährdeten Kindern wie auch solchen, die bereits Beeinträchtigungen in ihrer bisherigen bio-psycho-sozialen Entwicklung erfahren mussten, zu helfen. In anderen Fällen kommt es zu einer Herausnahme und stationären Unterbringung betroffener Kinder in Einrichtungen, Wohngruppen oder auch Pflege- und Adoptivfamilien. Es besteht die Hoffnung, dass Kinder in dieser neuen Umgebung nun die Voraussetzung für eine gesunde und freie Entwicklung erfahren.

Immer wieder jedoch kommt es auch unter den neuen Lebensbedingungen zu schwierigen Entwicklungen und Situationen, die gerade die betreuenden Adoptiv- oder Pflegeeltern vor große Herausforderungen stellen und sie oft bis an die Belastungsgrenze bringen. Manchmal scheint schon eine Eingewöhnung schwierig, häufiger treten Konflikte und Verhaltensauffälligkeiten erst nach Monaten oder Jahren auf. Gerade Entwicklungskrisen wie Pubertät und Adoleszenz stellen für einige diese Kinder risikobehaftete Schritte dar und gehen oft mit aufwühlenden Erfahrungen einher – für sie selbst ebenso wie für ihre nahe Umgebung. Manchmal zeigen Kinder und Jugendliche dieses herausfordernde Verhalten hauptsächlich in den Familien, in denen es zu unerträglichen Streitigkeiten und zunehmend gegenseitigem Misstrauen und beiderseitigen Vorwürfen kommt, während die Schule oder die soziale Umgebung weiterhin freundliche, interessierte und aufgeschlossene jungen Menschen wahrnimmt. Bisweilen scheinen betroffene Kinder und Jugendliche nach einem hoffnungsvollen Start alle Brücken hinter sich abbrechen zu wollen und sich – kaum erreichbar für ihre Familien – über autoaggressive oder dissoziale Tendenzen einer positiven Entwicklung zu verschließen. Neben dem so ausgedrückten Leid der Kinder gehen derartige Entwicklungen für ihre Eltern bzw. Betreuungspersonen mit gravierenden Enttäuschungen, Verunsicherungen und häufig mit schwer aushaltbaren Schuld- und Versagensgefühlen einher. Eltern ebenso wie das professionelle Hilfesystem stehen dann oft ratlos einer destruktiv erlebten Entwicklung gegenüber, die hilfreiche Angebote auszuhebeln scheint und die Helfer hilflos zurückzulassen scheint.

Das vorliegende Buch zeigt, dass die Autor*innen bereits lange aus ihrer praktischen Arbeit und aus der begleitenden Forschung heraus die besondere Entwicklung von Kindern, die früh im Leben unter traumatischen Bedingungen aufwachsen mussten, in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit gestellt haben. Im Zentrum ihres Verständnisses, das sie vor allem in der intensiven gemeinsamen therapeutischen Arbeit mit betroffenen Kindern und ihren Bezugspersonen entwickelt haben, stehen die belasteten Bindungserfahrungen dieser Kinder, die alle zumindest einen, oft mehrere Bindungsabbrüche erlebt haben. Es sind gerade diese erlebten Bindungsabbrüche, die als tiefe Erschütterung kindlichen Vertrauens und überdauernde Verunsicherung ihres Selbstverständnisses und Selbstgefühls verinnerlicht werden und in kritischen Momenten immer wieder neu aktiviert werden.

Lebendig und einfühlsam vermittelt der vorliegende Band anhand zahlreicher Vignetten und Erfahrungen aus kindertherapeutischen Behandlungen wie über ein genaues und einfühlsames Zuhören und eine zuverlässige Begleitung ihrer jungen Klient*innen sowie über offene und vertrauensvolle Gespräche mit ihren aktuellen Bezugspersonen, wie Pflege- oder Adoptiveltern aber auch Betreuer*innen in Hilfeeinrichtungen, ein vertieftes Verständnis des Erlebens, der Sorgen und Verhaltensweisen betroffener Kinder und Jugendlicher möglich wird. Anhand ihrer Erfahrungen aus der therapeutischen Begleitung betroffener Familien verdeutlichen die Autor*innen, wie die erlebten frühen Verletzungen dieser Kinder und Jugendlichen, die oft jenseits eines sprachlichen Zugangs tief in der sich entwickelnden kindlichen Persönlichkeit verankert sind, von hier aus die weitere Entwicklung und besonders das weitere Beziehungserleben nachhaltig beeinflussen. Die weitreichenden Folgen früh erlebter Erfahrungen von fehlender emotionaler Verfügbarkeit, grenzüberschreitendem Verhalten, Missbrauch oder Vernachlässigung äußern sich dann oftmals in überdauernden Schwierigkeiten der Emotionsregulierung, des Selbstgefühls, der Identitätsentwicklung und vor allem auch in ihrem späteren Bindungsverhalten.

Die Autor*innen des vorliegenden Bands machen deutlich, wie sehr gerade in diesen Krisen die früh erlebten traumatischen Bindungserfahrungen und vor allem Bindungsabbrüche neu inszeniert werden. Sie öffnen einen Blick in die Welt dieser früh verletzten Kinder und zeigen, wie über ein traumasensibles Verständnis der Verhaltens- und Erlebensweisen ein neuer Zugang zu Kindern und Jugendlichen möglich wird. Sie geben Eltern, Pflege- und Adoptiveltern, Begleitpersonen, Erzieher*innen, Pflegediensten, und auch Pädagog*innen und Therapeut*innen Hilfen an die Hand, mit den Herausforderungen, die das frühe Schicksal der in ihrer Obhut aufwachsenden Kinder und Jugendlichen an sie stellt, umzugehen.

Ich wünsche allen Lesern, vor allem den Eltern, Pflege- und Adoptiveltern und Betreuer*innen unter ihnen, die in ihrem Alltag und Zusammenleben mit betroffenen Kindern, täglich die Herausforderungen meistern müssen, die in den frühen Verletzungen der Kinder ihre Wurzeln haben, dass sie beim Lesen über ein vertieftes Verständnis der inneren Welt ihrer Kinder in ihrem Optimismus und ihrer Hoffnung, dass die neue Stabilität, Sicherheit und Liebe, die sie diesen Kindern geben, eine heilsame Wirkung zeigen wird, bestärkt werden.

Marianne Rauwald

Dr. Phil. Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin;

Leiterin des Instituts für Trauma-Bearbeitung und Weiterbildung,

Frankfurt-am-Main

Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen

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