Читать книгу Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen - Nicole Vliegen - Страница 18
1.5 Die komplexe Traumatisierung
ОглавлениеBei einem »komplexen Trauma«, auch »frühes Beziehungstrauma/Bindungstrauma« (attachment trauma) oder »Entwicklungstrauma« (early developmental trauma – developmental trauma disorder) genannt, handelt sich um traumatische Erfahrungen, die sich in sehr jungen Jahren innerhalb der Beziehungen zu den engsten Fürsorgepersonen ereignen, die eigentlich eine Quelle der Versorgung, Sicherheit und Stabilität sein sollten. Diese Personen stellen für die Kinder stattdessen Angst, Bedrohung, Gefahr sowie einen Mangel an Fürsorge, Wärme und Liebe dar. Dabei kommt es oft zu einer unvorhersehbaren Versorgung, beispielsweise in dem Sinne, als dass ein liebes, fürsorgliches Elternteil unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen plötzlich aggressiv und gewalttätig wird oder ein psychisch krankes Elternteil zeitweise unberechenbare Reaktionen zeigt.
Das komplexe Trauma bezieht sich auf Erfahrungen, wie die Vernachlässigung der grundlegenden körperlichen Bedürfnisse nach Ernährung, Wärme und Versorgung, sowie der psychologischen Bedürfnisse wie Liebe und Zuneigung, Freude, Entwicklungsstimulierung und Struktur. Es verweist auf die Einflüsse direkter oder indirekter Gewalt, unangemessener oder sadistischer Strafen, großer Unberechenbarkeit und/oder auf Erfahrungen von Verlust. Ein Trauma aufgrund von emotionaler Vernachlässigung (»deprivation«) wird oft weniger eindeutig als traumatisch wahrgenommen, hat aber genau wie die deutlich sichtbarere Gewalt schwerwiegende Auswirkungen auf das Leben und die Entwicklung eines Kindes sowie auf das Leben der Adoptiv- und Pflegeeltern und anderer Bezugspersonen, die sich um betroffene Kinder kümmern.
Solche Erfahrungen werden nicht nur in Form von Ängsten und »eigenartigen« unverständlichen Gefühlen, Gedanken oder Verhaltensweisen verankert, sondern führen auch zu der Erfahrung, dass das Leben unberechenbar und instabil ist und dass man sich nicht auf Erwachsene verlassen kann. Pflege- und Adoptiveltern bemerken dies häufig, sobald das Kind mit einem komplexen Trauma nach einer Weile beginnt, sich an sie zu binden. Durch den Beziehungsaufbau und eine damit einhergehende Annäherung wird die Angst vor einer erneuten Verletzung oder Ablehnung aktiviert. Genau in dem Moment, in dem Eltern damit rechnen, dass sich die Beziehung weiter vertieft, kommt es oftmals zu turbulenten Krisen in den Pflege- oder Adoptivfamilien. Kinder mit einem komplexen Trauma werden manchmal auch als »bindungsverunsichert« beschrieben, weil es ihnen schwerfällt, Bindungsbeziehungen aufzubauen und sie diese Beziehungen oft auf ganz andere Art und Weise nutzen als sicher gebundene Kinder ( Kap. 3). Oft haben diese Kinder erst vor kurzem traumatische Erfahrungen in ihren Beziehungen zu ihren ursprünglichen Fürsorgepersonen erlitten (Bindungsbeziehungen) und in ihren ersten Lebenswochen, -monaten und manchmal -jahren, wenig Aufmerksamkeit und einen Mangel an Bedürfnisbefriedigung sowie eine unberechenbare Versorgung erfahren. Es gibt Autor*innen, zum Beispiel Jon Allen (2013) oder Allan Schore (2009), die es vorziehen, von einem »Bindungstrauma« zu sprechen. Die Auswirkungen solcher Traumata (durch Deprivation, Verluste, Vernachlässigung und/oder Gewalt, Missbrauch, Misshandlung) werden in verschiedenen Entwicklungsbereichen deutlich, weshalb andere Autor*innen, wie Bessel van der Kolk (2003, 2005, 2009) den Begriff des »Entwicklungstrauma« bevorzugen.