Читать книгу Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen - Nicole Vliegen - Страница 19
1.6 Von der Verletzung zur Narbe
ОглавлениеEin sehr junges Kind ist nur auf eine altersspezifische Art und Weise in der Lage, zu fühlen und zu denken. Es erlebt zunächst physisch empfundene Zustände und Prozesse, deren Intensität (Arousal) durch seine primären Bezugspersonen gehalten und so erträglich gemacht werden. Dabei achten Eltern und Betreuungspersonen von kleinen Kindern einerseits darauf, dass die Frustration, das Stressniveau oder die Aufregung des Kindes nicht zu groß wird, andererseits stimulieren und aktivieren sie das Kind, wenn es sich zu wenig in Kontakt begibt; sie ›bewegen‹ das Kind auf diese Art und Weise zum Kontaktaufbau. In traumatischen Situationen innerhalb der frühen Betreuungsumgebung, die geprägt sind von Missachtung, Vernachlässigung oder Gewalt wird das Kind hingegen chronisch über ein unerträgliches Maß hinaus so stark gestresst, dass es sehr früh lernt, auf sich selbst angewiesen zu sein, wodurch es schwer wird, es zu erreichen.
Dieser Prozess führt bei jungen Kindern zu eingeschränkten, unklaren Erinnerungen an das, was sie erlebt haben. Die Ereignisreihenfolge hinterlässt eher vage, körperlich fühlbare Ängste zurück, ein körperlicher Schrecken (van der Kolk) das sich auch in Träumen und Alpträumen äußern kann. Es gibt keine konkreten Erinnerungsspuren an das, was die Ursache oder der Anlass dieser »seltsamen« Ängste sein könnte, die das Kind durchlebt; es gibt auch keine Worte dafür. Anders ausgedrückt, sollte das komplexe Trauma eher von der Brücke oder Verflochtenheit aus betrachtet werden, die sich normalerweise in der Entwicklung zwischen Körper und Psyche, zwischen »body« und »mind« entwickelt (Schore, 2009): the psychosomatic unity. Es scheint, als wäre es nach komplexen Traumatisierungen weniger der Kopf, sondern vielmehr der Körper eines Kindes, der die Erinnerungen trägt (»The body keeps the score«, van der Kolk, 2014).
Zusätzlich sind diese körperlichen Signale und Spuren des komplexen Traumas für die verbale, kognitive Bearbeitung zum größten Teil nicht zugänglich. Sie existieren sozusagen auf einer anderen Ebene weiter. Die Abbrüche der Bindung, die die Kinder erlebten, gehören chronologisch zwar zur Vergangenheit, bleiben jedoch psychodynamisch und unbewusst aktiv, und zwar in der Form von tief verinnerlichten Vorstellungen von unsicheren Bindungen und fixierten Reaktionen im Gehirn sowie im zentralen Nervensystem, also als neuropsychologische Muster, die unter besser organisierten Bindungsmustern meistens gut verborgen bleiben. In dem Moment, in dem die tieferliegende Problematik, durch die Spannung, die mit neuen Bindungsmöglichkeiten in der Adoptionsfamilie oder einer Pflegefamilie einhergeht, wieder inszeniert wird, zeichnen sich die Wunden der Vergangenheit umso deutlicher ab. Weder das Kind noch die Eltern können im Moment der Re-inszenierung realisieren, was passiert, wenn die Vergangenheit des Kindes dafür sorgt, dass neue Entwicklungschancen nicht ergriffen werden können. Die Re-inszenierung tritt meist dann auf, wenn das Kind merkt, dass es sich erneut binden könnte und seine Verletzung spürt, und/oder während bedeutsamer phasenspezifischer Entwicklungsaufgaben, wie z. B. während einer Identitätskrise und -suche in der Adoleszenz.
Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass dieses für ein multiples komplexes Trauma typische Aneinanderreihen belastender und traumatischer Erfahrungen in einer Lebensphase stattfindet, in der ein Kind zahlreiche neue und lebenswichtige Entwicklungsschritte durchläuft. Zuerst ist das Kind voll und ganz damit beschäftigt ein Urvertrauen zu erwerben (erstes Lebensjahr), dann experimentiert es mit ersten Schritten Richtung Autonomie (zweites und drittes Lebensjahr), gefolgt von einer Phase der gesunden (sexuellen) Neugierde (viertes bis sechstes Lebensjahr) und einer Phase des Erwerbs von Lernfähigkeit und sozialer Kompetenz (sechstes bis zwölftes Lebensjahr). All dies erlebt das Kind in den ersten Phasen seines Lebens, in denen es auch die Fähigkeit entwickelt, sich durch Spiele, Worte und Geschichten auszudrücken (durch die Entwicklung eines verbalen oder narrativen Selbstgefühls). Die Besonderheit eines komplexen Traumas besteht gerade darin, dass all diese Bereiche und Entwicklungsaufgaben unweigerlich durch den traumatischen Charakter des Ereignisses beeinträchtigt werden. Wenn eine betreuende Person, die dem Kind eigentlich Sicherheit und Versorgung vermitteln soll, das Kind körperlich oder psychisch verletzt, ignoriert oder vernachlässigt, führt dies zu »Störungen« basaler Fähigkeiten. Im Gegensatz zu anderen Arten von Trauma haben Kinder, die ein komplexes Trauma erleben, keine primäre Betreuungsperson, die sich außerhalb des traumatischen Ereignisses befindet. Es mangelt ihnen an Betreuungspersonen, die sich liebevoll um sie kümmern und sie auffangen oder dabei helfen können, ein Trauma zu verarbeiten. Bei einem komplexen Trauma ist es die Fürsorge selbst, die sich in der Körpererfahrung und der kaum vorhandenen oder erst entstehenden psychologischen Erfahrung des Kindes, von innen mit dem Trauma verbindet. Diese Erfahrung ist für einen Außenstehenden häufig schwer zu begreifen, sie hat aber einen großen Einfluss auf die Gehirnentwicklung und das damit verbundene physiologische Stresssystems und somit auf das Verhalten sowie das emotionale Erleben, die Affektregulierung und das spätere Bindungsmuster (Perry & Szalavitz, 2006).
Zum Beispiel sehen wir bei einigen Kindern eine andauernde Hypersensibilität des Stresssystems oder eine andauernde Beeinträchtigung in der kognitiven und emotionalen Entwicklung sowie im Beziehungsverhalten. Einige der Kinder versuchen den überwältigenden Einfluss des Traumas zu verringern, indem sie unerreichbar werden und nichts mehr spüren. Vielleicht haben sie erfahren, dass es ihrer Bezugsperson egal war, wer sie sind, wodurch sie einen unüberwindlichen Abstand in Beziehungen erfahren und wodurch sie auch nie eine Verbindung zwischen ihrer eigenen Psyche und ihrem Körper herstellen konnten. Manche Kinder sind dadurch schließlich nicht in der Lage zu unterscheiden, was gut und was bedrohlich ist, ihnen fehlt sozusagen ein innerer Kompass. Dadurch besteht das Risiko, dass sich die traumatischen Beziehungserfahrungen wiederholen, denn diese Kinder erwarten bei neuen und sicheren Pflege- oder Adoptiveltern ein erneutes Trauma, und/oder suchen auch manchmal Fürsorge und Liebe bei bedrohlichen Personen.
Es lässt sich also festhalten, dass traumatische Erfahrungen in den ersten Monaten und Jahren des Lebens für die Gehirnentwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung prägend sind. Sie haben einen gravierenden Einfluss auf alle Entwicklungsbereiche und können sich auf das Lernen, Denken, Sprechen sowie die emotionale Entwicklung und das Beziehungsverhalten auswirken. Deshalb zeigen betroffene Kinder, selbst nachdem sie bereits seit Jahren bei fürsorglichen Pflege- und Adoptiveltern gelebt haben, oft noch immer Verhaltensauffälligkeiten und Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung. Das erklärt auch, warum viele Eltern in Pflege- und Adoptivfamilien, die diese Kinder später in ihrer Entwicklung begleiten, so viel investieren müssen, um zumindest eine gewisse tägliche Routine mit ihrem Kind zu erreichen und warum manche Kinder scheinbar so wenig von der positiven Fürsorge annehmen, die sie umgibt und sich so sehr auf das, was sie nicht haben oder bekommen, fokussieren. Und es erklärt auch, warum diese Kinder zusätzlich andere anhaltende Schwierigkeiten, wie beispielsweise Lese- und Rechenprobleme entwickeln und es ihnen schwerfällt zu verbalisieren, was in ihrer inneren und äußeren Welt passiert oder passiert ist.
Gerade weil aber diese Form der traumatischen Erfahrung in einer Lebensphase stattfindet, in der die Entwicklung des Kindes noch besonders veränderbar ist, gibt es Möglichkeiten, die Entwicklung der Kinder zu unterstützen. Die Verarbeitung innerhalb eines therapeutischen Prozesses kann den Kindern die genügende Ruhe geben und helfen, den traumatischen Erfahrungen einen heilsamen Rahmen oder Ort zu geben, an dem Bruchstücke dieser Erfahrungen aufgehoben werden können. Auch wenn ein therapeutischer Prozess nicht zu einer »Heilung aller Wunden« führt, kann es für Kinder und Eltern dennoch hilfreich sein, die vulnerablen Punkte besser kennenzulernen und zu lernen, damit umzugehen. Zudem bietet eine Therapie auch eine Möglichkeit, um in späteren Entwicklungsphasen nicht (erneut) zu stagnieren. Bei einigen Kindern bleibt das Zusammenleben in der (Pflege- oder Adoptiv-)Familie schwierig oder verbunden mit Konflikten. Der Unterschied kann jedoch darin bestehen, dass während dieser Konflikte eine Perspektive für die Betreuer*innen und die Kinder eröffnet wird. Durch einen psychotherapeutischen Prozess kann man sich der offenen Wunde oder dem eingekapselten Trauma annähern und eine Narbe entwickeln, die die ursprüngliche rohe Wunde ablöst. Ein basales Misstrauen kann durch lebenswerte Beziehungen ersetzt werden, in denen Empfindlichkeiten berücksichtigt werden können. Auch wenn eine Narbe viel weniger flexibel ist, als die ursprüngliche Beziehungsflexibilität, die hätte entstehen können, wäre es nicht zu einer traumatischen Entwicklung gekommen, bietet solch ein Narbengewebe mehr Möglichkeiten für ein »gutes Leben« als die offene Wunde oder die eingekapselte eiternde unbehandelte Traumazyste. Ein solcher therapeutischer Prozess kann das Leid grundlegend verändern, auch wenn diese Narbe vielleicht lebenslang ein sensibler oder verletzlicher und wenig flexibler Bereich bleibt.
»One does not have to be a combat soldier, or visit a refugee camp in Syria or in the Congo to encounter trauma. Trauma happens to us, our friends, and our neighbours.« (van der Kolk, 2014, S. 1)