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1.4 Definition der Traumatisierung

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Es gibt einen zweiten Grund, warum wir bei Kindern, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen, nicht immer sofort an die Verarbeitung von Traumatisierungen denken. Bei dem Wort »Trauma« denken wir vielleicht an einen Tsunami, ein Erdbeben oder einen Brand, bei dem das Kind sein Zu Hause und seine Umgebung verloren hat, oder an einen fürchterlichen Autounfall, der beispielsweise zu dem Verlust von engen Bezugspersonen führte, oder an einen gewalttätigen Überfall auf der Straße. Bei einem Trauma geht es um Ereignisse, die einen großen und unerwarteten Einfluss auf den Alltag haben, also um Erfahrungen, auf die man sich unmöglich vorbereiten kann. Dabei handelt es sich um Ereignisse, die so einschneidend sind, dass der innere psychologische Apparat sie nicht bewältigen und verarbeiten kann, wie es bei anderen Erfahrungen der Fall ist. Ein Trauma bringt das Leben und das psychische Funktionieren einer Person vollkommen durcheinander.

Es gibt verschiedene Arten von Traumatisierung, die sich voneinander unterscheiden. Wir sprechen von einer sogenannten Typ-I-Traumatisierung, wenn es sich um ein einmalig auftretendes überwältigendes Ereignis kurzer Dauer, wie z. B. bei einem Erdbeben, handelt. Bei einer Typ-II-Traumatisierung liegen hingegen einmalige (z. B. eine Vergewaltigung durch eine für das Kind (un)bekannte Person) oder sich über einen längeren Zeitraum erstreckende und wiederholende traumatische Ereignisse vor (z. B. sexueller Missbrauch, Missachtung, Misshandlung oder Gewalt durch die Bindungspersonen). Das Typ I-Trauma galt als »nature-made«, die Typ-II-Traumatisierung als »man-made« (Terr, 1991). Jedoch bemerkte man schon bald, dass Typ-II-Traumatisierungen, die im Kontext von Bindungsbeziehungen auftreten (also nicht durch Unbekannten), viel häufiger vorkommen (mehr als 95 % der man-made Traumata von Kindern), oftmals jahrelang andauern und gerade dadurch zu einer besonders schweren Symptomatik führen, die mehrere oder alle Entwicklungsbereiche betrifft. Folglich handelt es sich um eine Symptomatik, die über die Symptome der PTSB hinausgeht. Um diese Traumata von anderen man-made-Traumata des Typ-II – wie z. B. eine einmalige Vergewaltigung durch einen Unbekannten – zu unterscheiden, wird in der Literatur von einer weiteren, dritten Art der Traumatisierung gesprochen und zwar von der »komplexen Traumatisierung« (Solomon & Heide, 1999). Wenn es dabei zusätzlich zu (wiederholten) Abbrüchen in den Beziehungen zu den primären Bezugspersonen gekommen ist, spricht man von Typ-III-Traumatisierungen. Bestimmte Autor*innen sprechen jedoch auch dann von Typ-III-Traumata, wenn es nicht zum Abbruch der Bindung gekommen ist, jedoch lang andauernde man-made-Traumata im Kontext von Bindungsbeziehungen – also komplexe Traumatisierungen – vorliegen. Die Fachliteratur ist dabei nicht ganz eindeutig. In diesem Buch wird von einem Typ-III-Trauma die Rede sein, wenn die Traumatisierung im Rahmen der Bindungsbeziehungen stattfand, über längere Zeit andauert und es zu einem zeitweiligen oder endgültigen Abbruch der Bindungsbeziehungen gekommen ist, z. B. weil die Bezugsperson das Kind zurückgelassen hat und das Kind nachher (in einem Pflegeheim, einer Pflegefamilie) fremduntergebracht (oder adoptiert) wurde. Im Zusammenhang mit dem Typ-III-Trauma wird manchmal von mehrfach oder multipel-komplex-Traumatisierungen (›multiple complex Trauma‹) gesprochen, weil das Trauma nicht nur Bedrohung, Gewalt oder Missbrauch beinhaltet, sondern auch mit Verlust(en) oder abgebrochenen Beziehungen und möglichen Wiederholungen und Re-inszenierungen der Problematik in einer neuen Pflegesituation einher gegangen ist. Nicht selten geraten die betroffenen Kinder beim Eingehen neuer Bindungsbeziehungen unter enormen Druck und die Kinder haben enorme Angst, wieder weggegeben zu werden und einen erneuten Abbruch der Beziehung ausgesetzt zu sein ( Tab. 1.1). Die Langzeiteffekte dieser frühen komplexen Traumatisierungen sind im ICD-10 (International Classification of Diseases, WHO, 1992) unterdessen für Erwachsenen anerkannt worden als CPTSD (complex post-traumatic stress disorder); in den ICD-Klassifikation psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter fehlt uns bislang noch die diagnostische Kategorie des multiplen komplexen Traumas der Kindheit. Die ICD-11, die 2022 in Kraft tritt, wird – laut den Mitteilungen der WHO seit 2019 – die diagnostische Kategorie komplexe Traumatisierung bei den psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter aufnehmen (Maercken, 2021; Ford & Courtois, 2021).

Als Erwachsene können wir uns mehr oder weniger vorstellen, wie ein traumatisches Ereignis von Typ I oder II das innere psychische Gleichgewicht erschüttern kann. Was von solch einer einschneidenden und überwältigenden traumatischen Erfahrung übrigbleibt, ist meist eine »Erinnerung« an das, was passiert ist. Die traumatische Erfahrung brennt sich in das Gedächtnis ein, wie ein Film, der mit allen Details gespeichert wird und der, um verarbeitet werden zu können, sich immer wieder in Träumen und Geschichten wiederholt. Das Trauma muss neu durchlebt und erzählt werden, um ihm einen Platz in der eigenen Lebensgeschichte geben zu können. Dabei ist es wichtig, das traumatische Ereignis jemandem erzählen zu können, der zuhört.

Wir können uns als Erwachsene auch vorstellen, dass man nach einem Typ-I-Trauma oder einer relativ kurze Typ-II-Traumatisierung nach einer bestimmten Zeit (wieder) an die ursprünglichen individuellen Stärken und widerstandsfähigen (resilienten) Elemente im psychologischen Funktionieren anknüpfen kann. Manchen Menschen hilft es, in schwierigen Zeiten allein zu sein oder mit anderen über ihre Erlebnisse zu reden, andere kümmern sich lieber um andere, während wieder andere sich voll in ihre Arbeit stürzen oder sportliche Aktivitäten nutzen, um diese Situation bewältigen zu können. Während der Eine das traumatische loswerden will, kapselt der Andere es in sich ein.

Tab. 1.1: Verschiedene Formen der Traumatisierung



Bei Kindern, deren erste Entwicklungsphase relativ gut verlaufen ist, kann eine traumatische Erfahrung die gesamte kindliche Entwicklung bedrohen. Die bis dahin gut verlaufene Entwicklung kann so sehr ins Wanken kommen, dass die Gefahr einer Stagnation der Entwicklung besteht und verschiedene Beschwerden und Symptome, sogenannte posttraumatische Belastungssymptome, auftreten können. Diese können sowohl das Lernen und die sozio-emotionale Entwicklung als auch das Verhalten der Kinder beeinträchtigen und sich in vielfältiger Weise zeigen. Während das eine Kind beispielsweise sehr verhaltensauffällig ist, passt ein anderes Kind sich auf den ersten Blick gut an, zieht sich aber allmählich immer mehr in sich selbst zurück und wird unerreichbar. Das Trauma beeinträchtigt die Entwicklung des Kindes und führt zu einer Bruchlinie oder einem ›Knick‹ im Entwicklungsprozess, auch wenn die Entwicklung des Kindes vorher relativ gut verlaufen ist. Niemand ist gegenüber Traumata unverletzbar!

Eine wichtige Frage ist aber auch, was passiert, wenn ein Kind von vornherein benachteiligt aufwächst sowie zu jung war, um sich an traumatische Erfahrungen erinnern zu können und Missbrauch, Gewalt, Misshandlungen, Bedrohungen und Beziehungsabbrüche in den ersten Lebensjahren stattgefunden haben, z. B. wenn das Kind noch keine Sprache zur Verfügung hatte (< 2 oder 3 Jahre) und an die meisten Erfahrungen noch keine bewusste Erinnerungen hat (< 5 oder 6 Jahren). Auch an die späteren Kindheitserfahrungen können sich komplex traumatisierte Kinder oft nicht erinnern, haben daran nur schreckliche Erinnerungen oder konnten dafür keine Sprache entwickeln (<10 bis 12 Jahren).Wenn es an die traumatischen Erfahrungen keine Erinnerungen gibt oder die Erfahrungen sprachlich nicht repräsentiert werden können, wird das Trauma im Form eines körperlichen Schreckens (van der Kolk, 2016) festgehalten.

Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen

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