Читать книгу Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen - Nicole Vliegen - Страница 14
1.1 Jedes Kind ist anders
ОглавлениеLouise ist 3 Jahre alt, als ihre Eltern für eine diagnostische Abklärung in unser Zentrum kommen. Sie selbst vermuten, dass Louise eine Bindungsstörung hat. Sie finden ihr Kind in der Beschreibung des »unersättlichen Kindes« (van Egmond, 1987; im Sinne von Kindern als ›ein Fass ohne Boden‹) wieder, die sie im Internet lesen: Egal was man für Louise auch macht, sie scheint unersättlich und niemals zufrieden zu sein.
Leonardo ist 8 Jahre alt. Zu Hause ist er aufsässig, unbeherrschbar und hat seinen Vater schon einmal so weit gekriegt, dass er die Zimmertür entfernt hat, weil Leonardo sie zeitweise laut zu geschlagen oder diese demoliert hat. Leonardo ist auch schon mal mit einem Messer auf seinen Bruder losgegangen, nachdem dieser ihn an seinen Schultern gepackt hatte. »Wir befürchten, dass er sich zu einem Problemfall entwickelt, der die Metros in Brüssel unsicher macht«, ist die ängstliche – aber vielleicht nicht einmal ungerechtfertigte – Vorstellung seiner Eltern. Sie sind ratlos.
Maya, 8 Jahre alt, hat immer wieder Wutausbrüche, die ihre Eltern überfordern. Es gibt Zeiten, in denen sie scheinbar ohne Grund in blinder Wut um sich schlägt und beißt. Die Eltern sind in großer Sorge.
Celine, 12 Jahre alt, fängt, sobald sie aus dem Auto aussteigen muss, an zu brüllen, sie schreit ihre Pflegeeltern an und beschimpft sie. Mit solchen Szenen bringt sie ihre äußerst fürsorglichen Pflegeeltern immer wieder in große Verlegenheit.
Die Eltern von Vreni, 14 Jahre alt, kommen zu uns und fragen um Rat, weil ihre Tochter zu Hause tagelang nicht gesprochen hat. Sie sitzt einfach wütend da und starrt vor sich hin und belastet so das familiäre Zusammensein. Sie schweigt dann stunden- sogar tagelang und sobald jemand versucht, mit ihr zu sprechen, schnauzt sie denjenigen an.
Wenn man den Eltern dieser Kinder zuhört, zeigt sich eine Vielzahl an Symptomen und Beschwerden, die die betroffenen Kinder aufweisen. Diese Kinder zeigen oftmals immense Verhaltensauffälligkeiten, die für ihre Umwelt sehr belastend sein können, und werden daher anfangs häufig wegen einer »Verhaltensstörung« behandelt. Sie haben Schwierigkeiten, ihr Verhalten zu kontrollieren und Emotionen zu regulieren – Fähigkeiten, die viele gleichaltrige Kinder bereits entwickelt haben. In bestimmten Situationen scheint es, als würde ihnen jegliche Kontrolle oder Regulierung fehlen. Zudem können kleine, unscheinbare Ereignisse in diesen Kindern schon viel auslösen.
Es gibt jedoch auch viele Situationen, in denen sich diese Kinder scheinbar gut im Griff haben und sich vorbildlich verhalten. Dadurch wird es für die Eltern dieser Kinder jedoch nicht gerade einfacher.
Wenn der Therapeut mit den Eltern und Lehrer*innen von Leonardo am Tisch sitzt, entsteht oft der Eindruck, als ob beide Parteien über ein gänzlich anderes Kind sprächen. Im Klassenzimmer sehen die Lehrer*innen ein Kind, das sein Bestes gibt, auch wenn dies oft nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Sie sind verwundert, wenn die Eltern über das äußerst schwierige Verhalten von Leonardo zu Hause reden, und haben Zweifel an den erzieherischen Kompetenzen der Eltern. Die Eltern fühlen sich aus diesem Grund oft von ihrem Kind manipuliert: »Wenn er will, kann er es. Wenn die Lehrerin neben ihm steht, dann begreift er, was ihm gesagt wird, aber wenn ich zu Hause dann mit ihm die Hausaufgaben mache, dann geht plötzlich gar nichts.«
»Wenn jemand von der Verwandtschaft da ist, weiß sie genau, wie sie sich zu benehmen hat. Aber sobald wir wieder mit ihr allein sind, bricht die Hölle aus und sie wird unendlich wütend. (…) Vreni, die tagelang zu Hause schweigt, kann bei anderen hingegen einen sehr umgänglichen Eindruck hinterlassen.«
Es wird dabei oft nicht erkennbar, dass diese Kinder ihr Möglichstes tun, um sich in der Schule oder bei Familienbesuchen zu behaupten, sich sehr anstrengen und ihr Bestes geben. Zurück in der gewohnten häuslichen Umgebung fallen dann jedoch alle Hemmungen weg und die Angst der Eltern bestätigt sich: »Na, da sieht man es: Nur bei uns verhält sie sich so schwierig.«
Er hatte eine sehr gute Taktik. In der Schule bemerkte man nichts, er gab sein Bestes. Als er nach Hause kam, war er dann aber komplett erschöpft. Er konnte keine Reize mehr ertragen, selbst das Telefon musste ausgeschaltet werden. Wenn jemand unerwartet ins Zimmer kam, wurde er hysterisch.
Mama von Lucas
Die Lehrerin der sechsten Klasse meinte am Elternabend, dass Maité das Gymnasium in der Oberstufe »gut schaffen würde«. »Sie ist sehr fleißig, außerordentlich höflich und sehr nett. Ich nehme an, daheim ist sie genauso.« Ich dachte, ich höre nicht richtig. Aber ich war froh, dass sie zumindest in der Schule keine Probleme machte und da einen guten Eindruck hinterlässt. Zu Hause bricht sie dann jedoch völlig zusammen, weil die Schule zu anstrengend ist und so viel Energie kostet.
Mama von Maité
Das soziale Umfeld dieser Kinder ist von diesen Schwankungen oft irritiert, kann das widersprüchliche Verhalten dieser Kinder nicht verstehen. Solch ein Kind wirkt daher oft »manipulativ«. Es besteht die Gefahr, dass es als »ein Kind, das nur manipuliert« behandelt wird, wodurch das Selbstbild des Kindes wiederum weiter geschwächt werden kann. Und dafür gibt es einige Gründe.
Die Eltern von Leonardo zum Beispiel beschreiben ihn als manipulativ, weil er lügt. Manchmal benimmt er sich, als ob er von nichts eine Ahnung habe, obwohl er genau weiß, um was es geht. Er kann sehr nett sein. Seine Tanten und Onkel kennen ihn beispielsweise ausschließlich als sehr nettes Kind, während er in anderen Momenten – besonders zu Hause – seine Eltern zur Weißglut treiben kann. Zudem fühlt er sich ständig benachteiligt: So ist Leonardo davon überzeugt, dass seine Brüder zu Hause viel weniger mithelfen müssen, viel mehr Geschenke als er bekommen und auch noch viel mehr zum Anziehen haben als er. Wenn er dann etwas bekommt, wirkt er zwar für einen Moment beruhigt, aber seine Sehnsucht nach materiellen Dingen ist so groß, dass er schnell wieder unzufrieden ist und noch mehr will.
Aufgrund dieser »manipulierenden« Aspekte im Verhalten dieser Kinder zögern die betroffenen Eltern oft lange, bis sie eine Beratung in Anspruch nehmen. Dass die Probleme sich vor allem zu Hause zeigen, vermittelt den Eltern den Eindruck als seien sie keine guten Eltern, und diese Widersprüchlichkeit in der Wahrnehmung des kindlichen Verhaltens hindert die Eltern oft daran, sich auf die Suche nach einer »komplex traumasensiblen Beratung« zu machen.
Vreni’s Eltern berichten, dass ihre Tochter manchmal vollkommen überzeugend die »Opferrolle« spielt, weshalb sie Angst haben, dass ein Therapeut oder eine Therapeutin tatsächlich denken könnte, sie würden sich nicht gut um ihre Tochter kümmern. Zum Beispiel gab sie in der Schule einmal vor, zu Hause nie einen Duden zu bekommen, weshalb sie einfach nicht in der Lage gewesen sei, ihre Hausaufgaben ordentlich zu machen.
In ähnlicher Weise teilte Leonardo, als sie an einem Spielplatz vorbeiliefen, seinem Lehrer mit, dass er noch nie so etwas Schönes gesehen habe. Als die Eltern dann vorsichtig von den Lehrer*innen darauf angesprochen wurden, fühlten sie sich verurteilt und so, als ob sie Eltern wären, die ihr Kind vernachlässigten und noch nie mit ihm zum Spielplatz gegangen wären. Sie fühlten sich auch von Leonardo verraten, denn sie waren ja schon so oft mit ihm auf einem Spielplatz, und fragten sich, warum er so etwas nur sage.
Obwohl dies oft nur schwer zu erkennen ist, steckt hinter solch schwierigen Verhaltensweisen meist eine sehr große Angst.
Louise und Maya leiden unter Alpträumen. Louise wacht nachts oft schreiend und ängstlich auf, Maya träumt davon, dass ihre Eltern sie weggeben.
Viele dieser Kinder können, ihren Eltern zufolge, Verluste und Trennungen überhaupt nicht ertragen. Beispielsweise mögen diese Kinder zwar Gesellschaftsspiele, sobald sie jedoch verlieren, kommt es häufig zu fürchterlichen Szenen. Möglicherweise assoziieren diese Kinder bereits einen minimalen oder unvermeidbaren Verlust – wie bei dem Gesellschaftsspiel ›Mensch ärger’ dich nicht‹ – mit einem tieferen, existenzielleren Gefühl von Verlust und Mangel.
Hinzu kommt, dass diese Kinder häufig auch disharmonische Entwicklungsprofile oder inkonsistente Leistungen im schulischen Kontext aufzeigen.
Maya scheint in einigen Momenten problemlos zu lernen, zeigt dann aber eine unerwartet schlechte Leistung. Leonardo kann sich selbst basale Rechenkenntnisse nicht aneignen und sein Intelligenztest deutet auf eine geistige Einschränkung hin. In anderen Bereichen ist von so einer Einschränkung jedoch nichts zu sehen. Bei Vreni kommen eine ausgeprägte Legasthenie und Dyskalkulie vor. Celine durchläuft problemlos die Grundschule, bleibt allerdings in der Sekundarstufe hängen.